„Schmelztiegel Ruhrgebiet? Über das Zusammenleben der Kulturen im Revier“ – BAPP, 17. Mai 2017

„Schmelztiegel Ruhrgebiet? Über das Zusammenleben der Kulturen im Revier“

Veranstaltung im Rahmen des in Kooperation mit der Brost-Stiftung durchgeführten Forschungsprojekts „Wieviel Islam gehört zu Deutschland? Integrationserfahrungen junger und alter Menschen in einer säkular geprägten Gesellschaft am Beispiel des Ruhrgebiets“

Begrüßung durch Prof. Bodo Hombach

Ruhrturm Essen, 17. Mai 2017

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Kufen,
verehrte Podiumsgäste,
sehr verehrte Damen und Herren,

Schmelztiegel gehörten zum Inventar der Alchimistenküche: Man erforschte Eigenschaften verschiedener Materialien. Man erhitzte sie im Brennofen. Man ließ sich von den Ergebnissen überraschen.

Der sächsische Landesherr hatte Johann Friedrich Böttger befohlen, ihm Gold zu machen. Heute nennen wir das „Gebühren und Abgaben“. Böttgers Versuche scheiterten. Ein letztes Mal warf er ein zufälliges Gemisch aus Pottasche und Perückenpuder in den Tiegel. Das kam in den Brennofen. Er ging spazieren. Er nahm Abschied von der schnöden Welt. – Am Morgen würde man ihn als Scharlatan ins Verlies werfen. Aber im Schmelztiegel war Wunderliches geschehen. Das Geheimnis des Porzellans war entdeckt. Das „Weiße Gold“ war wertvoller als das gelbe. Böttger war gerettet. Die gekreuzten Schwerter aus Meißen begannen ihren Siegeszug.

Das lehrt uns: Ein Schmelztiegel kann Gutes hervorbringen. Aus vorhandenen und bekannten Materialien wird unbekanntes Neues. Die Innovation hat unabsehbare Folgen.

Das Ruhrgebiet als Schmelztiegel. Die Metapher ist hilfreich, aber unscharf. Sie bedarf des Zweifels, zumindest genauerer Zuwendung. In allen Zeiten waren Menschen unterwegs: vor allem auf der Suche nach Sicherheit und einer auskömmlichen Bleibe für sich und ihre Lieben. Fruchtbares Land, ein ergiebiger Fluss oder die Entdeckung von Bodenschätzen lockten sie aus der alten Heimat in eine neue. Dort trafen sie auf andere. Oft wurde es eng. Es gab Sprachbarrieren, unterschiedliche Traditionen und Lebensentwürfe. Es waren Abenteurer und raue Gesellen darunter. Man musste sich irgendwie zusammenraufen. Zugezogene fühlten sich entwurzelt und fremd. Einheimische konnten nicht weitermachen wie zuvor.

Nach Isaac Newton löst jede Kraft eine Gegenkraft aus. Beide wirken aufeinander ein. Wenn‘s gut geht, verformen sich alle ein wenig, lernen hinzu, machen neue Erfindungen und lösen Probleme. Läuft es schlecht, eskalieren Konflikte.

Es kommt zu kräftezehrendem Wettkampf, zuletzt zu Gewalt und Zerfall. Das Ruhrgebiet wurde zum Labor solcher Experimente der Geschichte.

Das Schwarze Gold begann seine Karriere. Es tat sich mit Eisen zusammen. Aus Kohlengruben wurden Zechen. Kleine Manufakturen explodierten zu Konzernen. Dörfer wurden über Nacht zur Großstadt.

Vielleicht war es die schwere und gefährliche Arbeit unter Tage, an den Hochöfen, in den Werkhallen. Jeder war auf seinen Nachbarn angewiesen. Vielleicht war es die Verlorenheit des Einzelnen im Takt der Maschinen. Vielleicht war es die Energie, die aus schroffen Gegensätzen auf engstem Raum entstand.

Aus Zwang zur Verständigung wurde Absicht. Das war nicht einfach. Das erzeugte Reibungshitze. Man fand pragmatisches und schnörkelloses Nebeneinander. Die väterliche Gestik der Ruhrbarone und Kumpelromantik überwölbten es. Das Netzwerk aus Menschen, Rohstoff, Energie, Maschinen wurde zum schlagenden Herz Europas.

Die Zeiten änderten sich. Das Herz hat Rhythmusstörungen. Man versucht es mit Bypässen und Schrittmachern. Die Subventionierung der Vergangenheit war Zeitgewinn. Sie war nicht Lösung für die Gegenwart, – schon gar keine für die Zukunft.

Ständig musste man neue Vokabeln lernen: Strukturwandel, Diversifizierung, Nachhaltigkeit, Wissensgesellschaft, Kreativwirtschaft.

Wieder ist Zuwanderung. Der Globus kommt auch ins Ruhrgebiet. Menschen hoffen auf Neuanfang und Wohlergehen. Das 19. Jahrhunderts erlebte Globalisierung. Die gegenwärtige ist fundamentaler und wuchtiger. Entgrenzte Wirtschaftsräume bieten Chancen und Gefahren.

Gegensätze erzeugen Bewegungsdynamik. Zwischen einem großen Hoch und einem Tief bildet sich Sturm. An Bereitschaft zum Interessenausgleich mangelt es. Nicht erst der Neue im Oval Office aktiviert Kategorien des 19. Jahrhunderts. Man setzt auf Aus-und Abgrenzung – auf Spaltung statt Versöhnung.

Wir erleben Ängste vor Kontrollverlust und Abstieg. Wir erleben Verantwortliche, die keine Verantwortung übernehmen. Wir erleben Regierende, die unzureichend reagieren und regieren. Wir erleben aber auch Initiativen und Bereitschaft, Herausforderungen anzunehmen.

Das Endprodukt im Schmelztiegel Ruhrgebiet soll nicht graue Massengesellschaft sein. Es soll Nachbarschaft versöhnter Verschiedenheiten werden. Der Rahmen ist die Freiheit und sind die Werte des Grundgesetzes. Gedeihliche Zukunft entsteht nicht als staatlich verordnetes Produkt. Das können nicht Behörden aushecken und den Leuten überstülpen.

Wir brauchen keine Transferleistungen als Dauertropf. Es gilt, aktive Teilhabe zuzutrauen und zuzumuten. Als passive Objekte staatlicher Fürsorge leben Menschen unter ihren Verhältnissen. Zu viele fühlen sich gedemütigt und ausgegrenzt. Beleidigtsein ist verbreitetes Lebensgefühl.

Kaufmännisches Denken macht vor Transferleistungsempfängern nicht halt. Natürlich rechnen sie, ob Leistung lohnt. Auch soziale Muskeln atrophieren, wenn sie nicht genutzt werden. Aber wir brauchen sie. Vor uns liegende Aufgaben sind zu groß, um brachliegende Fähigkeiten zu dulden.

Bringschuld haben auch sogenannte Eliten. Die werden gegenwärtig emsig gescholten. Sie müssen die Sorgen der Leute ernst nehmen, Konflikte moderieren, plausible Sehnsuchtsbilder entwerfen. Auf Vertrauen in Versprechen können sie nicht hoffen. Vertrauen ist nur durch Taten zurückzugewinnen. Integration braucht Integrationskraft. Es lohnt sich, über Integration zu forschen. Es lohnt sich, gute und schlechte Beispiele zu studieren. Internationale Vergleiche und historische Erfahrungen gilt es, nüchtern auszuwerten. Diese Reise wird keine Kaffeefahrt.

Mit Respekt danke ich denen, die dabei hilfreich sind. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ich verspreche Ihnen die meinige. Wir werden alle klüger gehen als wir gekommen sind. Auch dafür mein vorauseilender Dank.