„Jede Erkenntnis ist ein geregelter Sturz“

Interview

mit Prof. Bodo Hombach

von Helge Matthiesen

04. November 2020

Interview: Bonn: Seit zehn Jahren wirkt der frühere SPD-Politiker Bodo Hombach als Lehrbeauftragter an der Universität Bonn. Vor neun Jahren wurde er überdies Präsident der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik. Im GA-Interview sprach er über seine vielfältige Arbeit.

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Sie haben nach der Schule nicht studiert, sondern sich über den zweiten Bildungsweg vom Fernmeldehandwerker in ein Studium und in den Beruf vorgearbeitet. Gibt es diese mühsamen Bildungswege heute noch?

Professor Bodo Hombach: Ich denke schon. Ein Bildungssystem ist nur so gut oder schlecht, wie es durch- und querlässig ist. Wir haben kein Recht, auf eine Begabung zu verzichten, die sich irgendwo äußert. Wir sollten die aber auch nicht durch die Geringschätzung des Praktikers verschütten.

Sie kommen aus einem praktischen Beruf. Fehlt heutigen Studenten die Nähe zum Leben?

Hombach: Die Studenten, die ich kenne, definieren sich nicht mehr über Lehrjahre an der Drehbank. Hier, wie überall, geht es um Kompetenzen und Chancen. Es geht um Persönlichkeiten, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Mir hat es jedoch nicht geschadet, dass ich noch weiß, was ein Kondensator ist oder eine Induktionsspule. Wer einen exakten Würfel feilt, lernt dabei mehr als Material, Geometrie und Geduld. Er empfindet lebenslang Respekt vor den Leuten, die ihr Fach verstehen. Albrecht Dürer beteiligte sich einmal an einem Wettbewerb mit Malern seiner Zeit. Alle glänzten mit Kunststückchen. Dürer ging an die Tafel und zog mit seinem Stift einen Kreis. „Messt nach!“ sagte er – und hatte gewonnen.

Sie haben einen Lehrauftrag und Professuren an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und an der Uni: Was ist anders?#

Hombach: Die künftigen Betriebswirte fragen meist „Wozu?“. Die Studierenden hier fragen überwiegend „Warum?“. Für mich gehört beides zusammen. Es sind zwei Perspektiven auf dieselbe Welt. An der Hochschule kommt man schnell zur Sache, ergebnisorientiert, aber auch rezeptiv nach dem Motto: „Was mache ich, wenn …?“. Die Uni will Gründe und Hintergründe. Das Diskursive steht im Vordergrund. Für beide gilt: Sie wollen wissen und nicht glauben. Das macht Freude. Ich betrachte es als mein virtuelles Honorar. Ich wandle nicht zwischen den Welten. Das sind zwei Zimmer in einem Haus. Gerade fällt mir auf, dass ich den Raum Bonn/Rhein-Sieg vernachlässigt habe.

Aber Sie waren immer Grenzgänger zwischen Wirtschaft und Politik. Was hat Sie an der Wissenschaft gereizt?

Hombach: Man muss Grenzen überschreiten, um sie überhaupt zu entdecken. Politik schwimmt zu oft wie der Korken auf der Oberfläche. Wirtschaft sorgt – hoffentlich – dafür, dass der Laden läuft. Wissenschaft erkundet die Tiefenströmungen. Mich hat es immer gereizt, alle drei zusammenzudenken. Sie sind aufeinander angewiesen und haben sich eine Menge zu sagen. Die Corona-Krise zeigt uns das, nicht zartfühlend, sondern erbarmungslos. Es ärgert mich, wenn wir Zeit und Chancen vergeuden, wenn wir das Notwendige nicht machen, obwohl wir es können. Gestrige Territorialkämpfe sind kontraproduktiv und langweilig. Wirtschaft, Politik und Wissenschaft sollen einander zu­arbeiten. Dann sind sie dort, wo sie hingehören, nämlich überall.

Arbeiten Sie jetzt Fragen auf, die aus dieser Zeit noch offen sind? Oder schauen Sie als neugieriger Mensch lieber nach vorne?

Hombach: Max Frisch hat einmal festgestellt: Alles Neue ist schon da, bevor es sichtbar wird. Eine Schlange kann die alte Haut erst dann abstreifen, wenn die neue darunter schon existiert und funktioniert. Das ist ja das Elend aller Ideologen: Sie wollen Leuten die Maske abreißen, aber es ist deren Gesicht. Mich interessiert nicht das Alter einer offenen Frage, sondern die Jugendlichkeit einer möglichen Antwort.

Gab es beim Start in die Lehre Berührungsängste mit dem Mann aus der Praxis – womöglich von beiden Seiten?

Hombach: Meine Erfahrung ist: Eine Theorie, die am Ende in der Praxis nichts taugt, ist schon am Anfang nichts wert. Wer das kapiert hat, muss sich vor keiner Berührung ängstigen. Im Gegenteil.

Sie betreiben eine lebhafte Wissenschaft mit Exkursionen, internationalen Konferenzen und Debatten mit Politikern, Medienmenschen und Wissenschaftlern: Bei Ihnen ist immer etwas los, und alles ist etwas anders. Warum ist das wichtig?

Hombach: Weil es sonst unwichtig wäre. Forschung und Wissenschaft gehören nicht in den Elfenbeinturm. Dort begegnen sie nur sich selbst und stolpern über ihre eigenen Füße. Sie brauchen den Dialog mit der Wirklichkeit. Jeder Fortschritt ist auch ein Schritt. Das heißt: Man hebt ein Bein und lässt sich riskant nach vorne fallen. Dort fängt man sich auf, hat neuen Grund und zieht das zweite Bein nach. Jede Erkenntnis ist ein geregelter Sturz. Nur so kommt man von hier nach dort. Mich freut, wenn die Studierenden erkennen: Nichts ist so einfach oder einseitig wie es scheint.

Es wird ernsthaft gelehrt und ernsthaft geforscht: Wie findet die BAPP die Themen? Gibt es Fragen aus der Praxis, die man Ihnen zur Auf­arbeitung anbietet?

Hombach: Sie ziehen in Ihrer Frage meine Lehrtätigkeit und die Tätigkeit als Präsident der Bonner Akademie, der BAPP, zusammen. Formal ist das getrennt. Tatsächlich ist es beides, was mich hier so sehr an die Universität und ihre großartigen Akteure bindet. Unsere Themen entstammen einem unerschöpflichen Reservoir. Wir leben in einer hochdynamischen Zeit. Im Wochentakt werden wir mit neuen Entwicklungen konfrontiert, für die man früher eine Pufferzone von Jahrzehnten hatte. Rilke beschrieb einmal eine Sturmnacht mit den Worten: „Himmel von hundert Tagen über einem einzigen Tag“. Wie sollte es da an Themen mangeln? Wir suchen sie nicht. Sie finden uns.

Was kann man an der BAPP lernen, was es sonst an der Uni nicht gibt?

Hombach: Nichts. Wo immer es ehrlich um die „Universitas“ von Forschung und Lehre geht, entsteht auch praktische Politik im weitesten Sinn des Wortes. Zunächst vielleicht in den Köpfen, aber bald wird daraus eine Haltung und ein Lebensentwurf und zuletzt die „typische Handbewegung“ eines Berufes. Wissenschaftliche Theorie- und Modellbildung stehen nicht im Gegensatz zur praktischen Politik. Wo man diesbezüglich fremdelt, wollen wir gern den Kuppler spielen. Die besonders klugen Köpfe und Macher der Bonner Uni haben nicht umsonst so eindrucksvoll den Exzellenzwettbewerb gewonnen. Ein besseres Zeugnis gibt es nicht. Es geht nicht darum, Trennschärfen zu entwickeln, sondern Ergänzendes.

Was machen Ihre Absolventen mit dieser Ausbildung? Wollen die anschließend alle in die Politik?

Hombach: Ich höre von den unterschiedlichsten Plänen. Und nach dem 20. Semester, in dem ich mitwirken darf, auch schon von geglückten Karrieren, sei es in Behörden, Regierungen, Redaktionen oder auch in Parteien. Übrigens: In allen demokratischen Parteien finde ich frühere Studenten oder Doktoranden wieder. In einer Zeit, wo Fakes und andere Lügen nicht mehr peinliches Vorkommnis irgendwelcher Hütchenspieler auf dem Jahrmarkt sind, sondern eine in „Weißen Häusern“ akzeptierte Methode der Weltpolitik, brauchen wir Zeitgenossen, die gelernt haben, realitätssüchtig zu sein, sich der Wirklichkeit zu stellen und zugleich das Undenkbare zu denken. Mir ist nicht wichtig, wo sie das dann tun.

Bei Ihren Veranstaltungen gibt es immer Gelegenheit, sich jenseits des eigenen Programms mit den Teilnehmern auszutauschen. Warum ist Geselligkeit auch für die Wissenschaft wichtig?

Hombach: Moritz Jahn reimte einmal: „Fast alles sagten andre schon gescheiter. / Du selbst bist nur ein kleines »Undsoweiter«“. Auch der einsamste Wissenschaftler steht auf Schultern aller vorherigen Epochen und im Dialog mit seinen Fachkolleg*innen. Er führt sogar ein ständiges Selbstgespräch als schärfster Kritiker der eigenen Lieblingsthesen. Wissenschaft ist „fröhlich“. Wie sollte sie da nicht auch gesellig sein! Oft kommen die besten Ideen von Leuten, die „simpeln“, ohne vom Fach zu sein. Meine Großmutter etwa wusste alles über Volkswirtschaft und brachte es in zwei Sätzen unter: „Von nix kommt nix“ und „Gib nicht mehr aus als du hast!“.

Gibt es ein Thema, das Sie sich dringend noch besonders vornehmen wollen?

Hombach: Die nächsten hundert Jahre sind schon verplant.


ZUR PERSON.

Bodo Hombach, geboren am 19. August 1952 in Mülheim an der Ruhr, war Landtagsabgeordneter in Nordrhein-Westfalen, Landesgeschäftsführer der SPD und Landeswirtschaftsminister. 1998/99 war er Chef des Bundeskanzleramts unter Gerhard Schröder, dann EU-Sonderkoordinator. Hombach studierte nach seiner Ausbildung zum Fernmeldehandwerker und dem erfolgreichen Abschluss des zweiten Bildungsweges von 1973 bis 1978 Sozialwissenschaft in Düsseldorf, Duisburg und Hagen.

WAS IST DIE BAPP?

Die Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik ist ein als GmbH organisiertes „An-Institut“ der Uni Bonn. Sie soll Forschung und Praxis in Politik, Wirtschaft und Medien enger vernetzen und betreibt dazu Symposien und Forschungsprojekte sowie ein Lehrprogramm für Führungskräfte.

BRÜCKENSCHLAGG ZWISCHEN THEORIE UND PRAXIS

Lehrveranstaltungen haben großen Zulauf

An der Universität Bonn wird Bodo Hombach aus Sicht von Volker Kronenberg, Dekan der Philosophischen Fakultät, wegen des „Brückenschlags zwischen Theorie und Praxis“ sehr geschätzt. Politische Wissenschaft werde an der Universität Bonn traditionell als praktische Wissenschaft verstanden, sagt Kronenberg. Bodo Hombach sei jemand mit großer Erfahrung in den drei Bereichen praktische Politik, Medien und Wirtschaft. „Davon profitieren die Studierenden ungemein. Seine Lehrveranstaltungen haben einen riesigen Zulauf“, so Kronenberg. „Es ist eine große Freude, dass wir ihn in unseren Reihen haben.“ Volker Kronenberg ist Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie und seit April 2015 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der BAPP.