Vortrag „Der unruhige Balkan Süd-Ost-Europa vor schwierigen Zeiten“, mit Dr. Hans-Peter Siebenhaar Michael Martens

Gastreferenten: Dr. Hans-Peter Siebenhaar
Michael Martens

Einführung:
Prof. Bodo Hombach

20. Mai 2020

Meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie und unseren Gastreferenten, Herrn Dr. Hans-Peter Siebenhaar. Er ist ein renommierter und erfahrener Journalist. Er ist Politologe und als Korrespondent für das Handelsblatt für Südosteuropa einschließlich Österreich tätig. Schreibtisch in Wien. Verfasser kluger Reisebücher und großartiger Informant auch für unser Thema. Herzlich willkommen!

Ich begrüße einen exzellenten und erfahrenen Kenner, Beobachter und Analytiker des Thema, um das es uns geht.

Herr Michael Martens, ist Journalist. Er war Redakteur für russlanddeutsche Zeitungen und ist seit 2002 Sonderkorrespondent der FAZ. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte er Stationen in Belgrad, Istanbul und Athen. Seit 2019 auch er mit Sitz in Wien. Im vorigen Jahr erschien von ihm ein großartiges, lesenswertes Buch: „Im Brand der Welten“, eine Biografie des Literaturnobelpreisträgers Ivo Andric. Dessen Roman „Die Brücke über die Drina“ ist noch immer eine der besonderen gültigsten Formulierungen zur Geschichte und inneren Struktur der Region, die uns in diesem Seminar interessiert.

Wir freuen uns auf die Expertise unseres Gastes.

Er hat u.a. das Wirken des amerikanischen Sonderbeauftragten im Kosovo aufmerksam beobachtet und eingeordnet. Seine Artikel dazu haben Sie gelesen. Den Kommentar von Frau Stör und Herrn Dr. Ederer dazu haben sie gehört.

Vorab eine kurze historische Bestandsaufnahme.

In der deutschen Geschichtsschreibung gilt Südosteuropa als Teilregion Osteuropas. Sie ist im Innern geographisch differenziert, an den Peripherien aber verkehrsoffen, also ohne natürliche Barrieren. Das macht sie zum wichtigen Bindeglied zwischen Mitteleuropa und Vorderasien. Es machte sie aber auch seit Jahrtausenden zum Durchzugsgebiet und zur Brücke zwischen zwei Kontinenten. Seit der Antike wurde die ethnografische Karte immer wieder umgestaltet. Slawische und ungarische Landnahmen be- oder verdrängten die Urbevölkerung aus Griechen, Albanern, Rumänen. Von Kleinasien aus expandierte das Osmanische Reich. Im Gegenzug drang die Habsburgermonarchie in den Raum vor. Es entstand ein instabiles Vielvölkergemisch. Nationalstaaten waren meist reine Fiktionen. Umso leidenschaftlicher wurden sie gefordert und behauptet.

Heute leben in Südosteuropa mindestens zwölf Staatsvölker: Albaner, Bosniaken, Bulgaren, Griechen, Kroaten, Magyaren, Mazedonier, Montenegriner, Rumänen, Serben, Slowenen und Türken. Viele bilden außerhalb ihres staatlichen Territoriums zugleich nationale Minderheiten. Zusätzlich gibt es ethnische Gruppen ohne eigenen Staat. Die meisten praktizieren eine eigenständige Schriftsprache. Um die Seelen konkurrieren vor allem drei Konfessionen in einem orthodoxen, römisch-katholischen und einem islamischen Raum.

Über ein halbes Jahrtausend war ein Großteil Südosteuropas von den Entwicklungen im abendländischen Europa abgeschnitten. Die osmanische Herrschaft überformte die byzantinisch-orthodoxe Kultur. Mit vielen Varianten im ostalpinen, pannonischen oder adriatischen Küstenraum.

Die heutigen Staaten formierten sich im 19. Jahrhundert. Ermöglicht durch das Machtvakuum des zerfallenden Osmanischen Reiches. Aufstände, Kriege und Interventionen der rivalisierenden europäischen Großmächte behinderten die Entwicklung.

Nach dem Ersten Weltkrieg gab es einen Weg zur grundlegenden Neugestaltung der politischen Landkarte. Sie litt jedoch unter territorialen Maximalforderungen, die sich wechselseitig überschnitten. Man argumentierte mit ethnischen, historischen, wirtschaftlichen und strategischen Maßstäben. Sie sollten oft partikulare Interessen kaschieren oder legitimieren. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker spielte bei der Grenzziehung keine Rolle. Die unübersichtliche Gemengelage ließ diesen Gedanken gar nicht aufkommen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Region für vier Jahrzehnte geteilt in einen westlichen und einen sozialistischen Raum. Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien und Albanien standen unter sowjetischem Einfluss, allerdings mit unterschiedlichen Sozialismusmodellen. Sie veränderten kaum die historisch gewachsenen Strukturen. Diese brachten sich sofort wieder gewaltsam ins Spiel, als das Kunstprodukt „Jugoslawien“ nach 1990 zerfiel.

Ich schließe meinen Exkurs mit einer vital optimistischen Frage an die Zukunft Südosteuropas:

  • Ist es möglich, die Vielfalt der Region als das Verbindende darzustellen, so dass die kommenden Generationen sich selbstbewusst zum kulturellen, sprachlichen, ethnischen und sozialen Formenreichtum ihrer Heimatregion bekennen können?
  • Wäre sie dann nicht geradezu das Experimentierfeld und die Blaupause für ein modernes Verständnis eines gedeihlichen Miteinanders?
  • Müsste sich dann ein in versöhnter Verschiedenheit vereintes Europa nicht von Südosteuropa zutiefst verstanden fühlen, anstatt es als heiklen Unruhestifter auf Abstand zu halten?