Interview „KLARTEXT – Verbandszeitung des Bundes der Steuerzahler“, mit Herrn Maier

12. Mai 2020

„Ich hoffe auf einen erhöhten Reproduktionswert der Rationalität.“ (Bodo Hombach)

Herr Professor Hombach, ich darf mit einer Ihre Beziehung zum Bund der Steuerzahler betreffenden Frage beginnen: Der europäische Bund der Steuerzahler hat Ihnen 2002 die höchste Auszeichnung, den „European Bull“, für effiziente Mittelverwendung als Stabilitätspakt-Koordinator für Südost-Europa verliehen. Ihre damalige Rechnungsprüfung wurde durch die Wirtschaftsprüfer mit „Bücher gut, effektive Kontrolle“ bewertet. Kess gefragt: Ist das, was eigentlich normaler Alltag sein sollte, auch heute noch preiswürdiger Sonderfall?

Ein so komplexes Gebilde wie die EU-Verwaltung steht völlig zu Recht unter Beobachtung und Rechtfertigungsdruck. Der Bund der Steuerzahler vertritt die Interessen derer, die das finanzieren. Er schielt unter Teppiche und lüftet muffige Ecken. Das spart Geld, erhöht Effizienz und ist pädagogisch wertvoll. Als man uns damals auszeichnete, war das gleichzeitig eine Klatsche für EU-Bürokraten. Die hatten zweimal den Rechnungshof geschickt. Wir haben deren Behäbigkeiten gestört. Wir haben deutlich angesprochen, wenn Vollzug gemeldet wurde, obwohl die Arbeiten nicht mal begonnen hatten.
Deshalb sollten Prüfer Kritisches finden, weil sie immer was finden. Ungewohnterweise gab es aber Lob und Komplimente. Der Bund der Steuerzahler war auch da wieder mal hellwach. Auch dafür sollten wir ihm einen Preis verleihen. – Vielleicht keinen Stier, der wurde vom lüsternen Entführer Zeuss als Tarnung missbraucht, sondern eine schützenswerte „Prinzessin Europa“. Sie kritisieren Fehlentwicklungen, weil Sie die Europäische Idee verteidigen. Das ist gut so.

Klartext:
Besten Dank! – Der Vorschlag ist jetzt in der Welt. – Sie haben Steuermittel effizient und unbürokratisch für den Friedensprozess auf dem Balkan eingesetzt und waren immer der Meinung, öffentliche Verschwendung sei mit Steuerhinterziehung gleichzusetzen. Fallen Ihnen dazu aktuelle Beispiele ein?

In der Corona-Not musste geholfen werden. Aber mit welcher Leichtigkeit – nicht nur im schlicht regierten Berlin – Gauner Geld abgreifen konnten, erschüttert schon. Sie und die Rechnungshöfe kreiden an, welche Unsummen jährlich verlorengehen. Öffentlich durch Inkompetenz, Unachtsamkeit, Prestigedenken, Geldgier, Inflation und Planungsmängel. Privat durch Steuerhinterziehung, Cum-ex-Geschäfte, Schum-melsoftware, Cyberkriminalität usw. In jedem Einzelfall wird die Allgemeinheit bestohlen. Das Geld fehlt in Schulen, Krankenhäusern, Verkehr. Ein Gesetzgeber, der sich nicht konsequent dagegenstellt und die Raffinesse der Täter nicht mit gleicher Raffinesse der Aufklärung und Verfolgung beantwortet, verliert Legitimation, zunächst schleichend und dann galoppierend. Es diszipliniert durchaus, wenn sie ausleuchten machen, was im Dunkel geschieht und verdunkelt bleiben soll.

Klartext:
Die Laudatio hielt Martin Schulz, damals stellvertretender Vorsitzender der SPE-Fraktion im Europäischen Parlament. Er zitierte Sie mit dem Satz: „Wenn Europa scheitert, dann nicht an fehlender politischer Einsicht, sondern nur an der Ineffizienz der Apparate“. Gilt die Warnung noch immer?

Ganz sicher. Jean-Claude Juncker hat bei dieser Veranstaltung den Rednerreigen eröffnet. Er hat mein öffentliches Aufstöhnen: „Mein Balkan ist Brüssel“ humorvoll aufgegriffen und verstärkt. Man sagt „Der Teufel steckt im Detail“. Der Liebe Gott manchmal auch. Aber der beseelte zu meiner Zeit den Brüsseler-Apparat nur sehr bedingt.
Ich hoffe , dass Politik und damit Demokratie zwischenzeitlich Boden gutgemacht hat. Eine Anekdote enthüllt Ihnen, wie ich den Apparat erlebt habe. Auf dem Weg zum klugen und als Hongkong-Gouverneur gestählten Christ Patten hat mir im Aufzug seine Chefbeamtin zugeraunt: „Der Kommissar wird ihnen gleich sicher was versprechen. Glauben Sie nicht, dass wir das umsetzen.“ Ich habe ihm das in Anwesenheit der Dame sofort verpetzt. Seine britisch gelassene, resignierte Antwort ist unvergesslich: „ Bodo … mit dieser Bürokratie hier ist es so, als wenn Du mit bloßen Händen Wasser die Wand hochschieben willst.“ Unterschiedliche Sichtweisen und Interessen der Mitgliedstaaten, bürokratische Wucherungen der Institutionen, Lobbyismus und nicht zuletzt menschliche Geltungssucht machen Fehler und Missbrauch alltäglich. Vertrauen ist da naiv, Kontrolle ist unverzichtbar. Die meisten Entscheidungen sind Kompromiss zwischen Gaspedal und Bremse. So ist Finanz- und Währungspolitik der EZB hoch umstritten. Das erleben wir gerade in diesen Tagen. Der Kampf gegen das Corona-Virus testet die Spannkraft nun bis an den Bruchpunkt. Ein „Apparat“ sollte die Kraft des Motors auf Achsen und Räder übertragen. In Brüssel ist er aber auch Schauplatz von Territorialneid, Rangkämpfen, pompöser Hofhaltung. Der Wirkungsgrad ist leider nicht so hoch wie sein Eigenleben. Talleyrand sagte einmal „Eine gute Verfassung ist kurz“. Europäische Regelungen sind lang und unübersichtlich. Aber ganz klar : Weil wir Europa wollen, gar lieben, sollten wir’s beschirmen, indem wir es verbessern.

Klartext:
Martin Schulz erinnerte in seiner Laudatio an Ihr Wirken in Nordrhein-Westfalen. Unter Landesvater Johannes Rau übersetzten Sie das erfolgreiche CSU-Konzept „Wir Bayern und unsere Partei“ in die Kampagne „Wir in NRW“. Heiner Geißler hätte Sie damals als die gefährlichste Waffe der SPD bezeichnet. Wie stehen Sie heute zu Ihrer Partei?

Ein abendfüllendes Thema, aber nach meinem Wechsel aus der praktischen Politik in die akademische Arbeit fände ich es unfair, mich zum Präzeptor aufzuschwingen. Ich mag keinen „Gratismut“. Aber Raus Grundsatz „Versöhnen statt Spalten“ wollte die, die sozialen Transfer brauchen, mit denen, die ihn wollen und wesentlich finanzieren, zusammenhalten. Sozialdemokratische Kanzler haben auf soziale Fairness geachtet aber auch die gewürdigt, die erwirtschaftet haben, was verteilt werden konnte. Heute bauen einige das Wort vom „Besserverdiener“ als Feindbild auf. Die spalten, säen Zwietracht und Neid. Dieser Populismus nutzt niemandem. Ich wünsche meiner Partei wieder ein feineres Ohr an den Graswurzeln und eine argumentative Debattenkultur, eine glücklichere Hand im Umgang mit ihrem Führungspersonal und – jetzt werde ich schon unbescheiden – weniger Energieverlust durch Flügelschlagen angesichts der ungeheuren Herausforderungen unserer Zeit. Das Gute daran: Man bräuchte keinen Augenblick warten.

Klartext:
Ihre Verbindung mit dem Bund der Steuerzahler setzt sich bis heute unter anderem in Ihrer Funktion als Präsident der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik fort. Der Präsident des Bundes der Steuerzahler in Bayern, gleichzeitig Präsident des europäischen Bundes der Steuerzahler, Rolf Baron von Hohenhau, ist Mitglied des Kuratoriums der Akademie. Deren Programm ist es, „die Verständigung zwischen Wirtschaft, Medien und Politik zu fördern“. Wären da auch die Interessen der Steuerzahler und Leistungsträger der Gesellschaft ein Thema für Lehre, Forschung und Publikationen?

Möglich und tatsächlich sehr nötig. Die Tür steht weit offen. Wir blenden kein Thema von öffentlichem Interesse aus und fürchten keine Kontroverse. Gerade Themen, die andere vernachlässigen, greifen wir umso lieber auf. Ich bin noch bei jeder Veranstaltung klüger hinaus- als hineingegangen, gerade dann, wenn widerstreitende Meinungen zu Wort kamen. Dabei wollen wir kein entrücktes „Glasperlenspiel“, sondern suchen nach Anregungen für praktische Politik. Referenten und Diskutanten haben nicht nur Fakten, sondern auch Meinungen, aber immer „Komma, weil…“. Eine so wichtige „Bürgerinitiative“ wie der Bund der Steuerzahler ist in der Akademie der Uni Bonn mehr als willkommen. Er recherchiert und offenbart Fakten. Baron von Hohenhau bereichert damit jede Debatte. Gerne mehr davon.

Klartext:
Vergleichbare Aufgaben und Ziele haben Sie als Vorstandsvorsitzender der Brost-Stiftung. Zu deren Selbstverständnis gehört unter anderem das Engagement als Reparaturbetrieb für Versäumnisse und Defizite der Vergangenheit, beispielsweise der öffentlichen Hände. Was ist damit gemeint? Und eine Zusatzfrage: Welche Projekte werden von der Brost-Stiftung gefördert?

Stiftungen sind „Bürgerinitiativen“. Sie kommen aus der Bevölkerung und haben ein Sensorium für Entwicklungen und Bedürfnisse, die vom politischen Betrieb übersehen oder nicht geleistet werden. Parteien haben manchmal die Neigung, aber nicht das Recht noch die Kompetenz, die Welt restlos unter sich aufzuteilen. Stiftungen können schneller, feiner abgestuft und pragmatischer reagieren. Sie müssen gute Ideen nicht ablehnen, nur weil sie vom politischen Gegner vorgeschlagen wurden. Die Geschichte unseres Landes ist auch die seiner Denkblockaden, Umwege und schmerzhaften Verzögerungen. Zudem hält eine Stiftung die Erinnerung an beispielgebende Persönlichkeiten wach, nicht durch ein gemeißeltes Denkmal, sondern durch Fortführung ihrer Intentionen über den Tod hinaus. Wer länger leben will als es die Biologie erlaubt, sollte eine Stiftung gründen. Im Ruhrgebiet ergeht es ungezählten Menschen etwas besser, freier und schöner, weil die Brost-Stiftung einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensumstände leistet. Es geht um Strukturwandel, Ausbildung, Mobilität, Gesundheit, Integration, Kultur. Unsere Projekte bündeln Kräfte, die vereinzelt schwächer wären, und sie erzeugen die „Zündtemperatur“ für Prozesse, die dann eine Eigendynamik entwickeln.

Klartext:
Herr Professor Hombach, Sie haben in einem „Zwischenruf“ für das Handelsblatt „social distance versus soziales Füllhorn“ Politiker kritisiert, die sich in der Corona-Krise für Wohltaten huldigen lassen, die sie nicht bezahlt haben. Was halten Sie in der gegenwärtigen Situation für besonders spektakulär?

Wir alle staunen. Eben noch galt die „Schwarze Null“ quasi als Staatsraison. Für die einen war es eine „Heilige Kuh“ mit Fetischcharakter, für die anderen der Ausweis einer soliden Fiskalpolitik. Als dann Covid-19 über uns hereinbrach und die Phase der Beschwichtigungen verging, öffneten sich plötzlich alle Schleusen, „Alternativlos“- denn es war Not im Verzug. Die neue Situation enthüllte Defizite unserer Gesundheitspolitik und einer blinden Globalisierung. Innerhalb von Tagen drohte eine Katastrophe à la Italien, USA u.a. . Die GroKo flutete das System mit Geld, um ökonomische Folgen abzufedern. Vor allen Kameras gibt man sich bis heute die besten Zensuren. Die eigentlichen Geber sind jedoch die Steuerzahler. Warum sollten die sich als Beschenkte fühlen! Wenige wie z. B. Südkorea hatten etwas mehr kreative Fantasie und Umsetzungskraft. Jetzt sind wir in die tiefste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit geritten. – Aber die Stunde dieser Wahrheit steht uns noch bevor.

Klartext:
Sie sagten auch: „Wo das Rettende wächst, wachsen auch die Gefahren“. Was haben Sie damit gemeint?

Der Satz, den Sie zitieren, ist die Umkehrung eines berühmten Diktums von Friedrich Hölderlin („Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“) Eine Krise wie Covid-19 fokussiert alle Aufmerksamkeit und Kraft auf ein Thema. Da geraten andere in den Schatten, die vielleicht nicht so dringlich, aber ebenfalls wichtig sind. Ich denke an den Niedergang von Demokratien und internationaler Solidarität. Ich denke an die Relativierung der Menschen- und Freiheitsrechte. Was uns ja nicht bevorsteht, sondern schon eingetreten ist. Ich denke auch an die „Echokammern“ und Hassorgien des Internets. Wenn wir nun eine Lawine von Insolvenzen erleben, besonders bei kleinen und mittelständischen Betrieben, brechen gewaltige Steuersummen weg. Ich eigne mich nicht zum Apokalyptiker, aber hier muss ich meinem Optimismus schon sehr gut zureden, um ihn zu behalten. Wir Deutschen kennen unsere drei Apokalyptischen Reiter – Ritter, Tod und Teufel. Nach den ökologischen Ängsten, der Virussorge wird nun die Ökonomie große Ängste auslösen. Einige frohlocken schon – wie am 11.5. die Linkenvorsitzende im TV – als sie „Verteilungskämpfe“ ankündigte.

Klartext:
Sie schrieben auch, dass die heute verausgabten Steuergelder vorrangig diejenigen aufzubringen hätten, die soeben große Teile ihres Vermögens verlieren und noch verlieren werden? Schwächt das nicht die „starken Schultern“, die mehr zu tragen hätten? Ich denke, Ihre Meinung dazu ist in der Zeitung des Bundes der Steuerzahler von natürlichem Interesse.

Ich will Sie nicht mit einer umfassenden Gerechtigkeitsdebatte strapazieren. Ich sah einmal eine Karikatur. Eine Familie – Vater, Mutter, zwei Kinder – gehen auf Wanderschaft. Vater hat den kleinsten Rucksack, die Kinder haben den größten. Ein Mann am Wegrand wundert sich und bekommt die Erklärung (des Vaters): „Bei uns geht es gerecht zu. Alle sind mit ihrem Rucksack gleich schwer.“ Ich vermute mal: Diese Familie wird nicht oft zusammen wandern… Ein sozialer Staat ist ohne sozialen Frieden nicht vorstellbar. Er darf aber nicht das Huhn schlachten, das die meisten Eier legt, solange es nicht den anderen die Körner wegfrisst. Wir haben in Deutschland ein gewachsenes Junktim zwischen denen, die Transferleistungen erwirtschaften und denen, die sie brauchen. Die Steuerpolitik kassiert nicht nur ab. Sie steuert auch, dass – nach Matthias Claudius – „die einen nicht zu eng und krumm liegen und die anderen nicht zu weit und gerade“. Der Grenzwert ist immer wieder neu zu bestimmen – im geregelten Konflikt, der mit im gesellschaftlichen Frieden enden will. Sagen wir: Nicht als Blues, sondern als Tango.

Klartext:
Das Erfolgsgeheimnis der Bundesrepublik heißt aus Ihrer Sicht nicht „Sozialismus“ und nicht „Marktwirtschaft“, sondern „Soziale Marktwirtschaft“. Welche Maximen sollte erfolgreiche Sozialpolitik von diesem Grundsatz ableiten?

Marktwirtschaft entfesselt Wettbewerb und Produktivkräfte, meinetwegen auch aus schnöder Gewinnsucht. Sie regelt aber nicht alles. Große Bereiche wie z. B. die Landwirtschaft, das Bildungs- und Gesundheitswesen verschlechtern sich, wenn man sie blind den Marktgesetzen überlässt. Das Grundgesetz definiert unser Gemeinwesen als „sozialen Rechtsstaat“ (Art. 28 Abs. 1). Das verpflichtet den Gesetzgeber zu Korrekturen, wenn der Marktprozess den freien und fairen Wettbewerb oder gar die Menschen- und Freiheitsrechte bedroht. Die wichtigsten Maxime einer gedeihlichen Sozialpolitik und Wirtschaftsdemokratie entstammen übrigens der katholischen Soziallehre des 19. Jahrhunderts. Sie heißen Personalität, Solidarität und Subsidiarität. Sie widersetzten sich den schweren sozialen Verwerfungen der Industriellen Revolution. Sie ermöglichten auch den erfolgreichen Wiederaufbau unseres Landes nach dem totalen Zusammenbruch. Ich möchte in keinem Land leben, wo sie nicht gelten.

Klartext:
„Rechte Ideologien spalten von oben, linke von unten. Beide versprechen das Paradies und produzieren Katastrophen“. In welche Richtung mahnen Sie mit dieser Feststellung?

In alle, wo jemand versucht, sich die Welt aus einem Punkte zu erklären. Jede Ideologie ist eine verkappte Religion, ein Schreibtischprodukt, das die bunte Vielfalt der Welt und die Widersprüchlichkeiten des Lebens nicht verkraftet. Man will ein schlüssiges, in sich widerspruchsfreies System. Wenn dieses dann mit der Wirklichkeit kollidiert, umso schlimmer für die Wirklichkeit. Schulterschluss und Gleichschritt dulden keine Abweichler. Sie verarmen und ersticken die Palette der möglichen Alternativen. Das führt immer in die Katastrophe. Jeder Mensch ist viele und heute ein anderer als morgen. Ideologen begegnen immer nur sich selbst. Das macht sie so langweilig. Ihnen fehlen Selbstzweifel und Humor. Das macht sie gefährlich.

Klartext:
Was fällt Ihnen zum Kampfbegriff „Besserverdiener“ ein?

Wenig. Er besagt erst einmal nichts und wird unschärfer, je näher man ihn untersucht. Ich kenne niemanden, der nicht gern besser und mehr verdient. Es gibt ja auch keinen Abergläubischen, der auf ein 13. Monatsgehalt verzichten würde. Im politischen Kampf insinuiert der Begriff, ein unverdientes „Besserverdienen“. Die Leute unterscheiden zwischen einer Leistung, die reale Werte schafft und den Pirouetten einer enthemmten Finanzindustrie. Meine Mutter war eine begnadete Volkswirtschafterin. Sie hatte zwei Grundsätze: „Von nix kommt nix“ und „Gib nicht mehr aus als du hast!“ – Das hätte uns schon manche Krise erspart.

Klartext:
Sie zitieren in Ihrem Zwischenruf Tucholsky: „Das Volk weiß nichts, aber es ahnt alles“. Und Sie sind der Meinung, das „postfaktische Zeitalter“ sei ein voreiliges Etikett gewesen. Wie und was können wir aus der Corona-Krise lernen?

Sie rückt Verzerrungen zurecht und sensibilisiert für Wesentliches. Die Menschen, die sich nicht ins Wolkenkuckucksheim von Verschwörungstheorien weglügen, wollen ein realistisches Bild der Lage, um adäquat handeln zu können oder das Handeln der Entscheidungsträger nachzuvollziehen. Wenn plötzlich zehntausende US-Bürger an einem Virus sterben, dem ein marodes Gesundheitssystem zuarbeitet, verliert das irrlichternde Twittern eines seltsamen Mannes im Weißen Haus seinen Unterhaltungswert. Aufklärung und wissenschaftliche Erkenntnis steigen im Wert. Es war und ist zu viel Geschrei und Geplapper in der Öffentlichkeit. Ich hoffe auf einen erhöhten Reproduktionswert der Rationalität. Wissenschaftliche Beratung war lange unterversorgt oder nur als lästige Pflichtübung ritualisiert. Das scheint sich gegenwärtig zu ändern. Man hört wieder Leuten zu, die wissen, wovon sie reden. – Übrigens: Auch der Lügner will nicht belogen werden.

Klartext:
Die bayerische SPD-Landtagsfraktion fordert: „Wer die Hilfe des Staates in Anspruch nimmt, soll keine Dividende zahlen“. Wäre es sinnvoll, auf die Ausschüttung von Gewinnen und Boni zu verzichten und, wie die SPD fordert, die Gelder für Investitionen und Weiterbildung der Beschäftigten zu verwenden?

Shareholder sind Anteilseigner – auf Gedeih und Verderb. Sie nutzen Chancen und riskieren Verluste. Dividenden sind o.k., aber nur, wenn der Betrieb auch ohne Staatsknete Gewinne macht. Der demokratische Staat kann enthemmtes Anspruchsdenken auf Dauer nicht verkraften, weder an der Spitze, noch an der Basis der Einkommenspyramide. Er verwaltet treuhänderisch das Vermögen eines gemeinnützigen Vereins namens „Bundesrepublik Deutschland“. Nur dann „vermag“ er, seinen Daseinszweck zu erfüllen. Das Nähere regeln die Gesetze. Punkt. Es gibt aber auch Anstandsregeln. Sie sind die Vitamine, Ballaststoffe und Spurenelemente der humanen Gesellschaft. Parasitäres Verhalten Einzelner würde Schaden stiften – materiell und ideell. Gewinne für Investitionen oder Weiterbildung zu nutzen, ist nicht nur in Notzeiten vernünftig.

Klartext:
Herr Professor Hombach, ein anderes Thema: Sie haben in Ihrer Einführung zu einer Diskussionsveranstaltung des Bonner Universitätsforums über die Akzeptanz und Vermittelbarkeit von Gerichtsurteilen unter anderem festgestellt, der Rechtsfriede leide, wenn man Kleine fängt und Große laufen lässt oder wenn Jagdgebiete krimineller Clans wie rechtsfreier Raum erscheinen oder wenn „political correctness“ Dinge nicht mehr beim Namen nenne. Welchen Hintergrund haben Ihre Feststellungen?. Was läuft schief „im Namen des Volkes“?

Wenn Urteile das Rechtsempfinden derart irritieren, dass sie den Rechtsfrieden gefährden, wenn Durchsuchungsaktionen durchgestochen werden, damit das Fernsehteam pünktlich vorher die Kameras aufbauen kann, wenn sich Staatsanwälte bei laufendem Verfahren öffentlich „zur Sache“ äußern und ihre politische Intentionalität durchscheinen lassen, dann sollten gewisse „Abstands- und Hygieneregeln“ auch auf diesem Feld erinnert werden. Die Justiz wurde zum Teil krankgeschrumpft. Das gefährdet die Qualität ihrer wichtigen Arbeit und auf Dauer das Legalitätsprinzip unserer Verfassung.

Klartext:
Seit September 2019 läuft die Kampagne des Bundesjustizministers „Wir sind Rechtsstaat“. Er soll „sichtbarer und verständlicher“ werden. Er soll sich als durchsetzungsfähig erweisen. Wie muss nach Ihrer Meinung konsequentes Handeln zum Schutz der Allgemeinheit im Rechtsstaat aussehen?

Der Rechtsstaat ist in der Bundesrepublik nicht als solcher gefährdet. Wir haben keine Exekutive, die sich die kontrollierende Judikative oder gar die Legislative vom Halse schafft. Der Rechtsstaat lebt aber nicht nur in seinen Strukturen. Er braucht auch Bürger, die ihn wollen und respektieren. Es ist gefährlich, deren Vertrauen zu vergeuden. Eine Kampagne nach dem Muster: „Keine Sorge! Es ist alles in Ordnung!“ befördert möglicherweise eher das Gegenteil. Wirksamer wäre eine gute Ausstattung von Justiz und Polizei, denn der Schutz vor Unrecht und Gewalt ist ein elementares Daseinsbedürfnis. Wenn die Verbrecher frei herumlaufen, kerkern sich die normalen Bürger ein. Der Rechtsstaat hat das Gewaltmonopol. Er muss sich dessen Akzeptanz jedoch verdienen. Es ist simpel: Um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, braucht es mehr als Vertrauen.

Klartext:
Eine abschließende Frage zu einem erneut anderen Thema: Seit einiger Zeit regiert Schwarz/Grün in Österreich. Vor einer Diskussionsveranstaltung mit dem Thema: „Den Nachbarn verstehen und daraus Lehren ziehen“ haben Sie festgestellt: Die neue Farbmischung der Koalition beflügelt unsere Phantasie und Neugier. Viele hier liebäugeln mit einer solchen Polit-Beziehung. Sie zitieren aus einem Brief des Apostels Paulus an die verwirrten Thessalonicher: „Prüfet alles und behaltet das Gute!“. Welche Regierungskoalition wünschen Sie sich nach der Bundestagswahl?

Keine große. Sie sollte die Ausnahme sein, denn sie überdehnt das System. Die Demokratie wurde nicht erfunden, um irgendwen an die Macht zu bringen, sondern um Machtmissbrauch zu verhindern. Das war bei den Alten Griechen nicht anders als im Absolutismus des 18. Jahrhunderts. Eine gewählte und abwählbare Regierung muss selten begründen, was sie erlaubt, aber sie muss sehr genau begründen was sie verbietet. Das lehrt auch die Virus-Krise. Dass ich ein überzeugendes liberales Moment vermisse, merkt man mir wohl an. Mich überzeugen Persönlichkeiten übrigens immer mehr als Parteitagsbeschlüsse und deren Leitanträge.
Österreich war nach Ibiza fähig, das Vakuum des Übergangs pragmatisch zu managen und nach den Neuwahlen eine Koalition demokratischer Parteien zu finden, die bis dahin noch als „inakzeptabel“ galt. „So what!“