Diskussionsveranstaltung „Schwarz/Grün in Österreich – Den Nachbarn verstehen und daraus Lehren ziehen“
Begrüßung
Professor Bodo Hombach
12. Februar 2020
Sehr verehrte Damen und Herren,
verehrter Herr Dr. Gusenbauer,
Herr Dr. Siebenhaar sitzt für das renommierte Handelsblatt in Wien. Er ist dort seit 2015 Präsident der Auslandspresse. Mit gewisser Logik ist er aus Wien auch für den Balkan zuständig. Sein Buch „Österreich – Die zerrissene Republik“ konnte ich besprechen. Ich fragte darin: “Muss ein Deutscher das Buch lesen?“ Ich antwortete mir selbst: „Er muss es lesen, denn Zerrissenheit und Blockadementalität kennzeichnen zunehmend auch unsere Republik. Kommende Wahlkämpfe werden es offenbaren.“
Herr Dr- Siebenhaar wird mitreden, moderieren und gleich unsere wunderbaren, kompetenten Gäste protokollgerecht und ausführlich vorstellen. Die begrüße ich – auch in Ihrem Namen – sehr herzlich und respektvoll.
Noch nie habe ich auf bedeutende Besucher im Saal hingewiesen. Es sind davon zu viele. Meine Zeit ist zu kurz. Heute erlaube ich mir eine Ausnahme. Aus St. Pölten eingeflogen ist der stellvertretende Landeshauptmann Franz Schnabl. (Fortschrittlich gegendert heißt es auf der Regierungswebsite: Landeshauptfrau – Stellvertreter.) Herr Franz Schnabl war Generalinspektor der Bundespolizei in Wien. Er ist Landesparteivorsitzender der SPÖ Niederösterreich. Er will die Selbstverzwergung der ehemals stolzen Volkspartei (auch das ist eine verwandtschaftliche Parallele) nicht als schicksalhaft hinnehmen. Er setzt auf die Überzeugungskraft pragmatischer Problemlösung. Dafür viel Glück und freundlich willkommen.
Nachbarn haben vieles gemeinsam: eine Hauswand, einen Gartenzaun, Interessen, Konflikte. Man kennt sich, besucht sich, hilft sich, ärgert sich. Hier wird die große Welt greifbar, spürbar, unmittelbar wirksam. Man braucht das Nebeneinander, aber auch das Gegenüber. Man entdeckt Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. An beidem schärft sich eigene Kontur.
Das ist bei Staaten wie im privaten Mikrokosmos. Nachbarstaaten haben eine gemeinsame Geschichte, durchaus streckenweise die gleiche. Es kommt vor, dass sie sich an den Kragen gehen. Dann allerdings werden nur sehr langsam vernarbende Wunden geschlagen.
Wir neigen dazu, uns Bewohner eines Sprach- und Kulturraums als eine Identität vorzustellen. Das sind Derivate der Altsteinzeit. Wie alle Allegorien vereinfachen sie Verständigung. Der „Typ“ von nebenan ist dann die französische Marianne, der holländische Pfeffersack, der deutsche Michel oder Piefke und der amerikanische Uncle Sam. Solche Karikaturen haben mit der Realität wenig zu tun.
Moderne Staaten haben kein Volk. Sie haben eine Bevölkerung. Da tummelt sich eine wilde Vielfalt von Interessen, Erfahrungen, Erinnerungen. Es gibt Dumme und Kluge. Schnelle und Langsame. Die schärfsten Grenzen ziehen sich oft nicht zwischen den Ländern, sondern innerhalb derselben. Wirkliche Probleme pfeifen auf Schlagbäume. Verschreckte ziehen Zugbrücken hoch. Nüchterne setzen sich zusammen und suchen Konsens.
In Goethes „Faust“ plappert einer beim Osterspaziergang: „Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn – und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen.“
Wir lernten: Ereignisse in fernsten Ländern sind kurz darauf Gegenstand heimischer Kommunalpolitik. August Macke definierte Kunst als „Auftauchen am anderen Ort.“ Das gilt auch für gute Politik. Die ist ständige Suche nach der besseren Alternative und guten Beispielen. Klischees sind Zeitverschwendung.
Vernünftige Ideen kommen nicht zum Zug, weil ein Ungeliebter sie hatte. Viel verbales Schießpulver ist nötig, um Grundrechenarten durchzusetzen. Unkonventionelle Bewegungen bewirken oft Gutes. „Man kann mit Anstand alt werden. Besser noch unanständig jung bleiben.“
Wie sich stures Fingerhakeln auswirkt, ist in den USA zu beobachten. Politiker werden Realitätssimulanten. Der 1968er Schlachtruf „Legal, illegal, sch…egal“ war Appell – heute Interpretation. In unserer eigenen verharzten und blockierten Gesellschaft lernen wir: Vieles wuchert, wenn es liegenbleibt.
Jüngst las man in der Zeit: „Alles, was der Zukunft überantwortet wird, kommt morgen als verschärfte Gegenwart zurück.“ Österreich scheint bewegter und beweglicher. Die Politiker – Gewissenserforschungs – Frage lautet: „Habe ich heute ein Stück Realität erkannt und bearbeitet oder nur den Mainstream ratifiziert?“
Österreich und Deutschland sind einander zu nahe, um künstlich fremdeln zu dürfen. Das wissen 35.000 deutsche Studenten. Die fühlen sich in den Hörsälen der alten Republik wohl. 40 % der österreichischen Gästebetten werden von deutschen Touristen belegt. Die Wirtschaft pflegt regen Austausch. Mit nachbarschaftlicher Hilfe wurde die PKW – Maut vermieden. In der Flüchtlingsfrage ist Gesprächsbedarf. Aber auch wir lernten: Ohne ein geregeltes Einwanderungsregime wird es nicht gehen. Ibiza hat uns natürlich auch verstört.
Häme sollte nicht aufkommen. Das könnte auch bei uns geschehen. Überhaupt: Mit Spannung, aber auch Empathie hat man hierzulande die Turbulenzen beim Nachbarn beobachtet. Mit Bewunderung konnten wir sehen:
- wie sich Pragmatismus und Handlungsfähigkeit durchsetzten.
- wie das Staatsoberhaupt durch klaren Schnitt den Neuanfang ermöglichte.
- wie der Übergang verantwortlich geregelt wurde.
- wie sich das demokratische System gegen seine Verächter behauptete.
Die neue Farbmischung der Koalition beflügelt unsere Phantasie und Neugier. Man hockt aufgeregt lauernd hinter der Gardine, wenn’s der Nachbar einfach mal ausprobiert. Viele hier liebäugeln mit einer solchen Polit – Beziehung. Zugegeben wird das nur zögernd. Noch ist man gschamig.
Wenn es ehrlich und transparent zugeht, verkraften Wähler mehr Probleme als verzagte Politiker ihnen zumuten wollen. Das gerade in einer Zeit wachsender Unübersichtlichkeit und bedrohter Konstanten. Der sich verbreitende intentionale Journalismus verliert Deutungsautorität. Bürger wollen nicht im Gefühl der Irrelevanz einbetoniert bleiben.
Für Suchende hatte der Apostel Paulus Rat. Er schrieb an die verwirrten Thessalonicher: „Prüfet alles und behaltet das Gute!“
Ich wünsche uns eine heitere Vermehrung der Erkenntnisse. Wir können voneinander lernen. Wir werden klüger gehen als wir gekommenen sind. Dafür, Herr Dr. Gusenbauer, räume ich den Platz.