„Zwischen Utopie und Wirklichkeit – Wie weiter mit Europa?“ BAPP, 2. April 2019
Begrüßung durch Prof. Bodo Hombach
2. April 2019
Sehr verehrte Damen und Herren,
„Wie weiter mit Europa?“ – Ein drängend knifflige Frage. Das Politbarometer steht auf Sturm. Dösende wollen das nicht wahrhaben. Wer nicht handelt, wird behandelt. Wer sich gegen Abstieg und Rückschritt nicht wehrt, lebt verkehrt. Ein Angstfurz ist kein Rückenwind.
Wir haben wunderbare Gäste. Die haben Mut und machen welchen. Die haben sich der grassierenden fidelen Resignation, wenn‘s um Europa geht, nicht hingegeben. Elmar Brok ist seit 39 Jahren Abgeordneter im EU-Parlament. Er war in mehreren Perioden Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten. Da ist man mit einigen Wassern gewaschen. Aber er hat es nie bis zum Zyniker gebracht. Kürzlich hat er in Tutzingen behauptet: „Mir ist um die Zukunft Europas nicht bange“. In manchem Ohr klingt das wie das „Pfeifen im Wald“. Aber unser Gast lässt sich die Erfolge Europas nicht kleinreden. Er selbst hat intensiv daran mitgewirkt.
Aber man hält doch den Atem an: Brexit, Flüchtlinge, Gelbwesten, Orban, Kaczinski, Salvini, den Schlingerkurs des Euro, LePen, die AfD und ihresgleichen in Holland, Schweden fast überall. Womit können wir überhaupt noch überrascht werden? Wir sind auf Elmar Brok gespannt. Auch in Ihrem Namen sage ich: Herzlich willkommen!
Er ist nicht allein. Wir freuen uns, Robert Menasse bei uns zu haben: Bedeutender Österreichischer Schriftsteller und Essayist. Vor zwei Jahren gebar er seinen satirischen Roman „Die Hauptstadt“. Die Fachkritik hat ihn als weltweit ersten Roman über die Europäische Union gefeiert – mit sehr guten Gründen. Er erhielt dafür den Deutschen Buchpreis. Sein – vielleicht ganz anderer – intensiver und anregender Blick macht uns aufgeregt neugierig. Herr Menasse – Sehr herzlich willkommen!
Der Informationssender PHOENIX mit seinen großartigen Moderatoren ist für mich der überzeugendste Grund für Pflichtgebühren. Das sagˋ ich ohne Sprachregelung. Heute danken wir der Moderatorin des Abends, Frau Michaela Kolster, sehr herzlich.
Wer positiv über Europa denkt, sieht die EU nicht vorrangig als Ausweis bestandener Vergangenheit. Er glaubt an einen kurvenreichen, aber letztlich zielführenden Weg. Ein Zukunftsprojekt, das – wenn nicht schon da -, gerade jetzt erfunden werden müsste. „Allem Zukünftigen beißt das Vergangene in den Schwanz“, meinte Nietsche. Aus Erfahrung lernen heißt gegen Europafeinde aufstehen. Die zelebrieren eine Art Lust am Untergang.
Sie arbeiten emsig daran, Recht zu behalten. Sie haben Zulauf. Salvini hat regelmäßig 3,5 Mio. Follower im Netz.
Das Resultierende der Gemeinschaft ist um Dimensionen wichtiger als bürokratischer Budenzauber in Brüssel oder das Heer übergriffiger Lobbyisten.
Erst recht mehr als der immer bemühte Quantensprung. Der ist nämlich die kleinste messbare Einheit. Die „Methode Europa“ ist nicht erledigt. Wer von Rationalität, Aufklärung und Demokratie überzeugt ist, sollte sich nicht defensiv machen lassen.
Leider ist wahr: Zunehmend empfinden Menschen, irrelevant zu sein – ohne Einfluss aufs Geschehen. Erst recht aufs Europäische. Der Satz „Auf uns hört ja keiner“ echot massenhaft. Irrelevant zu sein, ist um vieles frustrierender als gegen Widerstände anzutreten. „Eliten“ scheinen eine rätselhafte Physik zu bestimmen.
Verlierer vermuten unfaire Spielregeln zu Gunsten der Gewinner.
- Gewinn und Verlust sind ungleich verteilt.
- Zu plötzlich führen technische Entwicklungen zu Brüchen in der Erwerbsbiografie, im tradierten Milieu, im eingeübten Weltbild.
- Vieles geschieht nur, weil es möglich ist. Vieles Nötige geschieht nicht, weil es sich nicht rechnet.
- Wo der Dollarblick zählt, fristet die Sinnfrage ein Bettlerdasein.
Solidarität leidet, weil Abgreifen können ohne Beitragsleistung in der „Geiz ist geil“-Gesellschaft schamfreie Charaktere freisetzt. Die sich verschiebende Plattentektonik des Welthandels, der globalen Sicherheitsarchitektur und sich erschöpfende Ressourcen begünstigen Grundstimmungen
von Gereiztheit und lähmender Ängstlichkeit. Apokalyptiker haben Hochkonjunktur. Massen sind auf der Suche nach verlorenen Gewissheiten. Der Populismus verschafft ihnen ein Surrogat: Aufmerksamkeit – durch Provokation. Wegdemokratisierte nationalistische Untugenden werden ausgegraben, reanimiert und gefüttert.
Victor Adler, der Gründer der österreichischen Sozialdemokratie meinte: „Es ist besser mit dem Volk zu irren, als gegen das Volk Recht zu behalten“. Der Satz des großen Helmut Qualtinger ist mir näher: „Es gibt kaum etwas Schöneres, als dem Schweigen eines Dummkopfes zuzuhören“. Beim Kampf um die Köpfe darf der Europäer aber nicht schwächeln. „Alternativlos“ reicht nicht. Argumentationsarmut treibt dem Populisten Schäfchen zu. Der beherrscht die Reduktion der Komplexität. Trotz allem halte ich Gelassenheit für sinnvoll.
Warum soll man sich heute aufhängen, wenn’s im nächsten Jahr möglicherweise viel bessere Gründe gibt? Vision und Realität liegen immer im Clinch. Das wird so bleiben. In Afrika leben Millionen, die gern mit den ärmsten Bürgern Europas tauschen würden. Unverzichtbar ist: Wir müssen einander wieder zuhören. Nicht heißer essen als gekocht. Das wilhelminische „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ ist Mode gewordener Unfug.
Differenzierung, die Kunst der Unterscheidung und Akzeptanz von Andersartigkeit ist wertvolle Zivilisation. Zu viele wähnen den Stein der Weisen in ihrem Parteiprogramm. Tatsächlich haben alle Fehler einzusehen und auszubessern.
Man darf die EU als Friedensprojekt darstellen. Aber sie ist auch moderne Ausdrucksform einer Tradition. Eine Tradition gemeinsamer Kultur, der Aufklärung, der wissenschaftlichen Erkundung unserer Welt und der diskursiven Bearbeitung.
- Man könnte die Europa-Offerte Macrons begrüßen. Im operativen Geschäft hindert das niemanden, genauer hinzusehen, und nachzurechnen.
- Man soll sich freuen, dass unser zänkischer Kontinent nach 900 Jahren Erbfeindschaft die „Faxen“ dicke hat und eine intelligentere Methode des Zusammenlebens erstrebt. Das erspart uns aber nicht die Frage, ob es bessere Lösungen gibt.
Im Straßburger Parlament sitzen Parteien, die das zerstören wollen. Marine LePen will Frankreich auf sich selbst isolieren. Nach dem Brexit und ohne Frankreich wäre die EU nicht denkbar. An der Stabilität der transatlantischen Brücke wird getrampt und gerockt. Deutschland ist zu klein und zu groß. Europäisch unabgesprochene Aktionen würden wie immer missverstanden. Westorientierung ohne Westen geht nicht. Deutsche Alleingänge erzeugten eine prekäre Situation, von den wirtschaftlichen Folgen zu schweigen.
Wir hören noch das Echo vom Dictum des ersten Generalsekretärs der NATO – einem Lord – von der Insel: „Keep the Russians out, the Americans in and the Germans down.“ Was tun? Deutschland und Frankreich müssen zusammenarbeiten. Nicht im Blues oder Slowfox verschmelzen, aber im Tango spannungsreich und konfliktfähig tanzen. Wenn sich die beiden Großen allerdings zu einig sind, stemmen Kleine die Haken in den Sand. So war es immer.
Wenn das Zentrum sich genügt, zerfällt die Peripherie. Auch wenn sie zu einer Art GmbH oder einem Orbanschen Klingelbeutel erstarrt, aus dem man mehr rausholt als reintut, gibt sie sich auf. Wer am 26. Mai nicht wählt, protegiert den Zerfall.
Die „Erasmus“-Generation erlebe ich europäisch. Sie hat eher ein Gespür für Chancen als für Risiken. Sie ist es, die noch viel Zukunft hat. Die typische Pose der Alten (Elmar würde sagen: “der alten Säcke“) heißt: „Die sollen erst mal was Vernünftiges werden!“ – Junge Leute wollen vor allem etwas Vernünftiges sein.
Es fehlt nicht an Einschlägen. Starke Kräfte wollen zerstören, was seit dem 2. Weltkrieg aufgebaut wurde. Im günstigsten Fall sind sie geschichts- und ahnungslos. Im wahrscheinlichsten wollen sie vulgären Nationalismus.
Ich räume das Feld für unsere wunderbaren Gäste. Sie sind eine Garantie: Wir werden diesen Raum klüger verlassen, als wir gekommen sind. Dafür vorauseilenden Dank.