„Perspektiven für den Lokaljournalismus an Rhein und Ruhr“ – Auftaktworkshop, 10.12.2018

Grußwort von Prof. Bodo Hombach im Auftaktworkshop der Reihe „Perspektiven für den Lokaljournalismus an Rhein und Ruhr“ im Haus der Technik, Essen

10. Dezember 2018

Verehrte Damen und Herren,

es ist Freude und Ehre, einen so hochkarätigen Kreis zum Thema Lokaljournalismus begrüßen zu dürfen. Diese wunderbare Zusammenballung von Kompetenz ist ein Versprechen. Wir werden klüger gehen als wir gekommen sind. Dafür vorauseilenden Dank.

Ich danke – auch in Ihrem Namen – Herrn Dr. Matthiesen, der das Projekt und die Redner vorstellen wird. Er stellt sich zudem der Mühe der Moderation.

Ich werde ein paar Eulen nach Athen tragen. Die sind betagt. Die werden keine Ihrer Flugbahnen kreuzen. Die alten 68er wollten ihren langen Marsch im Konkreten, in der Nahwelt, im Kommunalen beginnen. Selbst Jusos hielten Kommunalkongresse ab und schrieben dazu lange Papiere. Kevins von heute scheint diese Welt zu klein.

In schwerer See, wenn es durch Klippen und Brandung geht, sollte man öfter den Kurs bestimmen. Dabei spielen konkrete Sachfragen eine Rolle: Wie stabil ist das Schiff? Ist die Mannschaft eingespielt? Ist genug Proviant an Bord? Gibt es präzise Seekarten, einen Kompass für die Richtung und ein Senkblei für die Tiefe? Es wäre auch gut, wenn jeder seinen Handgriff kann. Besonders, wenn Sturm aufkommt. Wer es versteht, kommt sogar gegen den Wind voran.

All das ist wichtig. Aber noch wichtiger erscheint mir eine andere Frage: Warum machen wir das überhaupt? Wohin geht die Reise? Gibt es ein gemeinsames Ziel, das auch bei längerer Flaute trägt und die Leute zusammenhält? Sie kennen den Satz: „Wenn du willst, dass die Leute ein Schiff bauen, wecke in ihnen eine Sehnsucht nach dem Meer!“

Der Lokaljournalist braucht vielleicht keine Sehnsucht nach dem Meer. Ich glaube aber, er ist ein Realitätsjunkie. Er kann gar nicht genug davon kriegen. Sein Feld ist die Provinz, aber die ist nicht provinziell.

Wenn wir aus den Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts etwas gelernt haben, dann ist es die enge Vernetzung aller Faktoren des globalen Systems. Man muss nicht den berühmten Schmetterling bemühen, dessen Flügelschlag im brasilianischen Urwald letzten Endes einen Tornado in der Karibik auslöst. Wir erleben aber täglich, dass scheinbar lokale Ereignisse
enorme Wirkungen haben können. Ebenso kann eine gute Idee, in einer Vorort-Dachkammer ausgebrütet, plötzlich eine weltweite Denkblockade beenden.

Die Literaturgeschichte macht es vor. Sie kurvt immer wieder zwischen großen Themen und Menschheitsentwürfen und – wichtig und spannend – genau beobachteten Nahgeschichten.

Heinrich Böll wurde gefragt, wie man auf die Idee kommt, einen Roman zu schreiben. Seine Antwort: Du sitzt im Abteil des Vorortszuges, und immer ist da – schräg gegenüber – eine Frau. Eines Morgens: Sie ist nicht da! Auch nicht am nächsten Tag und den folgenden. Da muss was passiert sein. Plötzlich fühlst du dich angefragt und zuständig. Die Unbekannte gehört zu dir.

Gerade hatten wir die Schriftstellerin Gila Lustiger für ein Jahr als Stadtschreiberin im Revier. Wir waren gespannt: Wie entdeckt und sieht eine Autorin aus der Weltstadt Paris unsere Region und ihre Menschen? Was entdecken und sehen wir durch ihre Wahrnehmung? Gerade konnte ich erste Texte ihres nächsten Buches lesen. Man spürt sofort: Sie mag Menschen, besser noch: Sie liebt die Leute. Sie geht auf sie zu, spricht und lächelt sie an und will wirklich wissen: Wer bist du? Was treibt dich um? Was macht dich glücklich oder unglücklich?

Die Angesprochenen fühlen: Das ist keine Pose. Die meint es ernst. Die forscht nicht nach Meinungen im Auftrag eines Instituts. Ihr Gegenüber ist nicht Objekt oder Projekt. Sie wird es nicht in irgendeiner Statistik versenken. Das Ergebnis sind kleine, aber authentische Episoden.

Es geht immer um den einzelnen Menschen. Wer von „der“ Menschheit redet, beweist nur seine Denkfaulheit. Regionalität hat Zukunft. Das große Versäumnis der vergangenen Jahrzehnte ist das Starren auf die kontinentalen oder globalen Strukturen. Die sind wichtig. Nichts gegen internationale Beziehungen und gemeinsame Märkte. Aber sie sind nicht überall und für alles zuständig.

Die meisten Menschen verbringen ihr Leben in ihrer Region. Dort kennen sie die Sprache, die Kochrezepte, die Geschichte und Geschichten. Dort knüpfen sie ihre Beziehungen. Nur wenn sie dort ein definiertes „Standbein“ haben, machen sie Schritte und Sprünge. Lokaljournalisten können dabei helfen. Sie bewegen sich im Jetzt und Hier.

Gerade in einer Zeit dramatischer Um- und Abbrüche sind sie besonders gefordert,

  • wenn die öffentliche Sprache verludert und die allgemeine Verrohung zunimmt,
  • wenn Lüge und Wahrheit gezielt vernebelt werden,
  • wenn sich Millionen in ihrer Meinungsblase verfangen,
  •  wenn journalistische Standards bedroht sind durch die Lust an der Macht oder an der Unterwerfung,
  • wenn totale Ökonomisierung die Gewichte verschiebt und nur noch Klickzahlen und Quoten gelten.

Mit- und Nachläufer gibt es genug. Nie war es einfacher, sich ein Alleinstellungsmerkmal zu verschaffen. Durch saubere Recherche, begründete Unterscheidung, und durch niederschwelliges Erzählen.

Mit der Überschwemmung durch ungeprüfte oder gefakete „Informationen“ im Web wird professioneller Journalismus nicht leichter aber wichtiger. Hier hat der Lokalteil eine besondere Bedeutung. Er bewegt sich in Räumen, die seinen Lesern vertraut sind. Sie bemerken es, wenn die geschriebene Realität nicht zur erlebten passt.

An Rhein und Ruhr leben rund 10 Millionen Menschen. Hier gab es immer schroffe Gegensätze und einen Mix aus unterschiedlichen Gruppen und Interessen. Hier werden wichtige Weichen des Landes gestellt. Der Strukturwandel ist noch längst nicht bewältigt, aber hier sind die Probleme oft interessanter als anderswo die Lösungen. Die Gemeindestruktur des Ruhrgebiets bietet Chancen. Aber nur, wenn sie nicht durch eifersüchtiges Territorialverhalten verschüttet werden. Was hier gelingt, muss sich nirgendwo anders mehr beweisen.

Wie steht es um die Perspektiven für den Lokaljournalismus in dieser Region? – Meine Einschätzung: Gut, denn er hat eine.

Ich danke Ihnen und freue mich, von Ihnen lernen zu dürfen.