„Was ist Heimat? Zur politischen Wirkungsmacht einer fast vergessenen Kategorie“ – BAPP, 29. November 2018

Was ist Heimat? Zur politischen Wirkungsmacht einer fast vergessenen Kategorie

Begrüßung durch Prof. Bodo Hombach

29. November 2018

Sehr geehrte Frau Fuhr,
herzlichen Dank für die freundliche Aufnahme.

Herr Klamroth – u.a. Moderator einer eigenen Sendung bei n-tv. – hat eine eindrucksvolle Biografie. Der Versuch, ihn vorzustellen, würde meine Redezeit sprengen. Auch in Ihrem Namen begrüße und danke ich ihm herzlich. Er wird Ihnen gleich unsere großartigen Gäste protokollgerecht vorstellen.

Sehr verehrte Damen und Herren,

wir sind hier ein ganz klein wenig in Rheinland-Pfalz. Da kommt einem der Dokumentarfilm „Heimat“ von Edgar Reitz in den Sinn. Eine eindrucksvolle Szene in einem Hunsrück-Dorf: Ein junger Soldat kehrt müde heim. Aus dem Ersten Weltkrieg. Verwundet und innerlich erloschen. Kinder des Dorfes sehen ihn kommen. Sie beobachten scheu, wie er sein Vater- und Mutterhaus betritt. Sie hören Stimmen im Innern. Die Mutter erscheint am Fenster. Sie hat die zerbeulte Feldflasche ihres Sohnes in der Hand. Sie gießt das abgestandene Wasser aus. Die Kinder starren auf die kleine Pfütze. Ein Junge ist mutig. Er kommt heran, taucht den Finger ein. Er probiert vorsichtig das fremde Wasser aus der fernen Welt.

Die Szene offenbart viel. Da kehrt jemand heim aus einer mörderischen Fremde, ein aus seinem Leben Vertriebener, Opfer zynischer Machtinteressen, tief verwundet durch den Zusammenbruch aller Gewissheiten. Aber da ist ein Haus, das einzige in der Welt, wohin er zurückkehren kann. Vermutlich eine Illusion. Es ist nicht mehr, wie es in seiner Kindheit war. Da ist ein Vater, der von Heldentaten hören will. Die Mutter mit einer starken Geste: Sie beseitigt das verdorbene Wasser aus der zerbeulten Flasche. Sie geht zur Pumpe in den Hof und holt ein frisches Glas. Da ist ein vorwitziger Junge mit Neugier und unbewusstem Grauen.

Der Zuschauer des Films weiß: Bald kommt wieder einer mit Marschmusik und Wortgetöse. Der drückt diesem Jungen ein Gewehr in die Hand und jagt ihn im Gleichschritt in die Fremde.

Das Wort „Heimat“ verbreitet sich wieder. Einige recken es mit der Faust empor. Deren geistige Ahnherren waren die größten Heimatvernichter der deutschen und europäischen Geschichte. Ich finde es ehrenwert, dass Volksparteien ihnen dieses Wort nicht überlassen wollen.

Ich finde es erfreulich, dass Sozialdemokraten hier Berührungsempfindlichkeit überwinden. Gut, dass sie sich nicht in die Rolle des „vaterlandslosen Gesellen“ drängen lassen. Wir erleben wachsendes Bewusstsein für Regionalität. Nicht nur in Katalonien, Schottland, Flandern und anderswo. Meist nicht als Rückwärtssehnsucht nach Schlagbäumen und Panzergräben. Viele junge Leute, modern, gebildet und solidarisch sind Vorwärtsträumer in ein Europa der Regionen. Die haben aber kürzlich nicht aufgepasst. Sie hielten einen Brexit nicht für möglich. Jetzt haben sie ihn. Der verbaut ihnen die Zukunft.

Gestrige nutzten die Chance, wenn Demokraten gleichgültig werden. Ungenutzte Freiheiten verkümmern wie ungenutzte Muskeln. Das Wort „Heimat“ war lange verdorben. Es war gründlich missbraucht. Es schien für immer erloschen. Aber es bedeutet mehr als „Gartenlaube“ oder kollektiver Wahn. Von Verkrustungen befreit, zeigt es neue Vitalität. In Zeiten grenzenloser Probleme wie Globalisierung, Digitalisierung, Armutswanderung, Klimawandel erwacht Sehnsucht nach Überschaubarkeit. Wer das ignoriert, ignoriert das Menschliche. Solche Ignoranten haben nicht begriffen, dass man den Ausbau supranationaler Strukturen mit ausdrucksstarker Pflege einer regionalen Wohnlichkeit kompensieren muss. Nicht nur für Langsame und Gestrige, mehr noch als Startrampe für die Modernen von Übermorgen. Nur wer festen Boden unter den Füßen hat, riskiert große Sprünge.

Pädagogen wissen: Ein Kind gedeiht nur gut mit der richtigen Mischung aus Anregung und Geborgenheit. Nur in einem dichten Netzwerk unkündbarer Beziehungen kann aus ihm eine starke Persönlichkeit werden. Die hat dann auch die Voraussetzung zum Weltbürger. Der findet seine Haltung in Brechts Kinderlied wieder:

„Und da wir dies Land verbessern
lieben und beschirmen wir’s
Und das Schönste magˋs uns scheinen
So wie andern Völkern ihr’s“

In der Heimat versteht man die Nuancen der Sprache, sogar das Schweigen. Da kennt man Kochrezepte und Gerüche. Da kennt man die Festlichkeiten und kann ihre skurrilen Rituale entziffern. Da weiß man – der ehemalige Staatssekretär für Weinbau (welch toller Job) – ganz sicher: Wein besteht fast zu 100 % aus Wasser. Aber auf dem Weg zur Traube löst es Mineralien, Salze, Nähr-und Duftstoffe. Sehr spezielle und einzigartige. Die sind untrennbar verbunden mit dem Ort, wo die Wurzeln sind.

In der Heimat trägt man auch an den Lasten der Vergangenheit mit. Heimat hat mit tiefen Schichten individueller und kollektiver Entwicklung zu tun. Heimat hat wesentlich auch mit Sprache zu tun. Die Zerstörer von Heimat verderben und verwirren immer als erstes die Sprache. In das Vakuum setzen sie Parolen. Die hämmern sie durch ständige Wiederholung in Gehirne. Unter dem Vorwand, nicht alles sagen zu dürfen, sagen sie das Unsagbare und Unsägliche. Es soll sich eingewöhnen. Sogenannte Soziale Medien sind dafür Werkzeug. Das Internet entgrenzt Raum und Zeit. Die ganze Welt ist plötzlich nebenan.

Die sozialpsychologischen Folgen können wir noch nicht annähernd abschätzen. Internet kann nicht Heimat sein. Es bietet eine uferlose Menge an Herausforderung und Anregung. Es erlaubt keinen privaten Schutzraum. Es steigert die Menge der pseudopersönlichen Kontakte ins Unsinnige. Es bietet aber keine belastbaren Beziehungen. Gefährdete Jugendliche kann die Flucht ins All des Internets zum Absturz ins Nichts führen. Heimat ist nicht digital. In allen Kulturen geht es auch um Gedächtnisstiftung. Identität gründet auf Vergangenheit. Mit ihren Triumphen und Niederlagen. Auch mit ihren Visionen und Zielen

Heimat lässt uns das Kontinuum der Zeit deutlich erleben. Die digitale Ziffern-Uhr am Handgelenk war kurze Mode. Man bevorzugt wieder Zeiger. Die fixieren zwar den Zeitpunkt, lassen uns aber den Zeitraum besser überblicken.

Wir planen längst eine Expedition zum Mars. Wir bringen es nicht fertig, jedem Menschen einen „Schluck Erde“ (Heinrich Böll) zu überlassen. Einen Platz, wo er den kleinen Zeitspalt seines einzigen Lebens in angstfreier Entfaltung seiner Möglichkeiten zubringen kann.

Wer den Heimatgedanken pflegt, bleibt glaubwürdig, wenn er mit ähnlicher Leidenschaft für das Heimatrecht Verstreuter und Herumgestoßener eintritt. Franz Schuberts „Wanderer“ meint: „Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück.“

Liebe Gäste,

ich komme nicht zum Schluss. Ich höre einfach auf. Unsere wunderbaren Gäste sind Garantie: Wir werden klüger gehen als wir gekommen sind. Dafür vorauseilenden Dank.