„Politisch heimatlos – Brauchen wir eine neue Politik der Mitte?“ – BAPP, 6. September 2018

„Politisch heimatlos – Brauchen wir eine neue Politik der Mitte?“

Grußwort von Prof. Bodo Hombach

Bonner Universitätsforum, 6. September 2018

Verehrter Herr Bundesminister Spahn, verehrter Herr Professor Güllner, verehrter Herr Alexander,

neben Herrn Bundesminister zwei der erfahrensten und gesuchtesten Hintergrunderheller. Herr Dr. Matthiesen – Chefredakteur des Bonner Generalanzeigers – wird unsere Gäste gleich protokollgerecht vorstellen.

Sehr verehrte Damen und Herren,

auch in Ihrem Namen möchte ich unsere großartigen Gäste herzlich begrüßen.

Man fragt einen Fernsehdirektor: „Wie erklären Sie sich, dass das Programm früher viel beliebter war als heute?“ Die Antwort: „Verstehe ich auch nicht: Wir bringen doch dasselbe wie vor 20Jahren…“

Wenn das so einfach wäre. Wir müssten unser Thema nicht aufrufen. Ich bin nicht einsam, wenn mir frei nach Heine einfällt: Denk ich an unsere Volksparteien in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht. SPD voran, aber auch die Union, erleiden einen Absturz in der Wählergunst. Es ist Feuer unterm Dach. Eigentlich ist in Berlin niemand abkömmlich. Wenn es brennt, können wichtige Feuerwehrmänner nicht reisen. Aber Jens Spahn ist gekommen. Allein dafür schon herzlichen Dank.

Vielleicht teilt er unsere Überzeugung: Verlorenes Vertrauen nicht nur an einem Ort zu suchen, sondern überall. Bestimmt auch in diesem Haus. Hier geschehen unablässig Verstehensversuche.

Lange schien er in Ordnung, der Globus der Bundesrepublik. Er drehte sich im Takt der Wahlen. Drei Parteien teilten das politische Geschäft unter sich auf. Jede fühlte sich in der Mitte. Als Volksparteien galten solche mit großen Mitgliederzahlen und der Fähigkeit, eine breite Wählerschaft zu integrieren. CDU/CSU demonstrieren Überkonfessionalität im Gegensatz zum katholischen „Zentrum“ der Weimarer Republik. Die SPD öffnete nebenan in Godesberg Türen und Fenster für auf-stiegswillige und bürgerliche Kreise. Freie Demokraten fuhren elegant Slalom zwischen der Freiheit des Marktes und der Bürgerrechte.

Klare Verhältnisse zahlten sich aus. Wohlstand und soziale Zuwendungen wuchsen. Alle Parteien wussten: Man muss erst erarbeiten, was man ausgeben will. Nicht nur der Pate im Film sagte: Keiner darf mit der Beute durchgehen. So wurde Soziale Marktwirtschaft gelebt.

Wir kannten scharfe Debatten – über West- und Ostverträge, über Doppelbeschluss und EU-Erweiterung. Aber in den 1970er Jahren gab es Wahlbeteiligungen von 90 Prozent. Bei der jüngsten Bundestagswahl sank die auf 70,8 Prozent. Über 18 Millionen Kreuzchen-Berechtigte verzichteten auf ein Bürgerrecht. Auch massenhafte Stimmlosigkeit wurde Volkes Stimme.

Die großen Parteien schrumpfen regelmäßig auf ihr historisch schlechtestes Ergebnis. Europäi-sche Sozialdemokraten verlieren nach rechts. Der Reflex am Wahlsonntag ist: „Wir waren nichtlinks genug.“ Am kommenden Sonntag werden wir das aus Schweden hören.

Es etablierten sich Parteien, die ihre Länder verändern wollen: weniger Rechtsstaatlichkeit, weni- ger Pressefreiheit, weniger Demokratie, viel weniger multipolare Verflechtung mit der Welt. Sie wollen nationale Abschottung. Der Rückfall in völkischen Tribalismus wird propagiert. Der Aufstieg der neuen Rechtsparteien hat sicher soziale Realitäten als Ursache, aber ganz sicher auch die mit dem Zuwanderungsdruck verbundenen Folgen. Nur Naive glauben, solche Bewegungen seien über Nacht aus dem Sumpf der Geschichte aufgetaucht.

Es muss Gründe geben, die tiefer wurzeln. Die mag man unterschiedlich gewichten. Über gewisse Erscheinungsformen darf man sich auch ekeln. Man muss sie aber zur Kenntnis nehmen und sich ihnen stellen. Man redet vom „Herbst“ der Volksparteien. – Ich kann unseren klugen Gästen nicht vorgreifen. Ein paar Aspekte erscheinen mir erheblich:

  • Parteienverdrossenheit war unser Thema schon vor 20 Jahren. Glaubwürdigkeitskrise von Autoritäten und Institutionen diskutieren wir beinahe so lang. Glaubwürdigkeitskrise der Medien ist ein ziemlich neues Thema. Sicher ist: Wer an nichts und niemandem mehr glaubt, ist nicht im Zustand liberaler Glückseligkeit. Er ist verunsichert. Er sucht neue Orientierung.
  • Abweichung des „Unter-uns-Gesagten“ vom öffentlich Vertretenen gab es immer. Abermein Eindruck ist: eine so große Differenz wie heute gab es nie. Die Differenz zwischen politischer Korrektheit, angemessenem Sprech und eigener Wahrnehmung kennt jeder. Gefühle sind nicht statistikaffin. Eine zunehmende Differenz ist nach meiner Beobachtung in den USA ein tragendes Element Trumpschen Erfolges.
  • Traditionelle Gruppen und Regionen mit klarer Parteibindung (Bauern, Selbständige, Arbeiter) nehmen ab. Wechselwähler nehmen zu.
  • Vereine, ständische Gruppen, vor allem auch die Kirchen leiden unter Auszehrung. Mit der Wiedervereinigung wuchs die Zahl der Konfessionslosen in Deutschland.
  • Die Pluralisierung der Lebensverläufe mit ihrer Unplanbarkeit erodiert die klassischen Milieus. Die Wahlbeteiligung der Jüngeren ist unterdurchschnittlich. Der Trend verstärkt sich.
  • Auch die Mitgliederlisten der Parteien schrumpfen. Das Durchschnittsalter der Verbliebenen liegt bei 57 Jahren.Der langfristige gesellschaftliche Wandel ist wohl nur eine Seite der Medaille. Akute und selbst- gemachte Probleme kommen hinzu. Sie addieren sich nicht. Sie multiplizieren einander.Für Demokraten ist es ein schmerzliches und ernstes Problem, wenn sie Volksbegehren fürchten müssen.

Die Wiedervereinigung brachte 16 Millionen Ostdeutschen nicht nur Bananen und blühende Landschaften, sondern auch neue Unübersichtlichkeit und tiefsitzende Demütigungen.

  • Große Koalitionen sollen (müssen) ein Dilemma lösen. Sie werden aber auch selber eines. Der Parlamentarismus leidet. Die häufigen Sprechshows ersetzen ihn nicht. Kompromisse im Kabinett werden weniger als vernünftig empfunden. Parteigänger erleben sie als Ver- rat.
  • Konkretes Fehlverhalten, parteiinternes Flügelschlagen und peinlich personalisierte Gra- benkämpfe zeichnen Volksparteien nicht als Lösung, sondern als Teil des Problems.Was erwarten Politiker von den Wählern, wenn diese nichts mehr von ihnen erwarten?
  • Die Globalisierung artikuliert sich nicht als neue Struktur der Weltkultur, sondern nur als Erweiterung des Jagdreviers. Eine Menge Leute fürchten, sie seien die Beute.
  • Die Digitale Revolution erscheint vielen deshalb nicht als Chance, sondern als Risiko. Ab- stiegsängste und die Sorge um Statusverlust grassieren.
  • Flüchtlingsdruck und Armutswanderung machen den Eindruck von Kontrollverlust der Regierung.
  • Ein quasi anarchisches Internet öffnet die Schleusen für Fakes und Fantasmen.
  • Eherne Konstanten wie die atlantische Brücke und die europäische Wertegemeinschaft stehen unter Vernichtungsdruck.Von allen Seiten kräht man nach „klarer Kante“. Gleichzeitig korrodierenden Techniken politischerKultur. Eine Welt voll „klarer Kanten“ ist ein ungemütlicher Ort. Wir erkennen die Notwendigkeit, den Wandel nicht sich selbst zu überlassen. Das Glas ist halbleer. Aber ist es auch halbvoll. Wir wären nicht in diesem Saal, wenn wir nicht an die Wandlungsfähigkeit der Gesellschaft glaubten.Es sind immer noch Kräfte in den Teilsystemen Wirtschaft, soziales Management, politische Par- teien fähig und bereit, für ein allgemeines Wohl zusammenzuwirken. Es gibt nicht nur ein puber- täres Entweder-oder. Es gibt auch das erwachsene Sowohl-als auch. Für mich ist die Fähigkeit zu erkennen, dass jedes Ding zwei Seiten hat – manchmal auch mehr – Kernkompetenz und Merkmal der Bürger in der gesuchten Mitte. Alle haben zwei und mehr Seelen in der gleichen Brust. Das ist die Weisheit „der Mitte“.Bert Brecht meinte: Eine Regierung, der das Volk abhandenkommt, sollte sich ein neues wählen. – Die Bibel macht einen anderen Vorschlag. „Beim Sturm auf dem Meer“ sind die Jünger in läh-mender Angst. Ihr Meister aber schläft. Als sie ihn wecken, sagt er nur: „Warum seid ihr so klein- gläubig?“ Im nächsten Moment beruhigen sich die Elemente. Beide Haltungen sind eher mär- chenhaft als realistisch. Sie haben aber einen anregenden Kern.Lieber Herr Minister Spahn!
    Wir sind unbändig gespannt auf Ihren Vortrag.Mit einem habe ich mich noch nie getäuscht: Wir werden diesen Raum klüger verlassen, als wir ihn betreten haben. Unsere bedeutenden Gäste bürgen dafür. Dafür mein voreilender Dank.

https://bodohombach.de/06092018-bapp-politisch-heimatlos-langfassung-final/