„Der unruhige Balkan – Süd-Ost-Europa vor schwierigen Zeiten“ mit Prof. Dr. Marie-Janine Calic – Uni Bonn, 20. Dezember 2017

„Der unruhige Balkan – Süd-Ost-Europa vor schwierigen Zeiten“

Einführung von Prof. Bodo Hombach

Gast: Prof. Dr. Marie-Janine Calic, Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München

20. Dezember 2017

Meine Damen und Herren,

wir haben einen besonders hochkarätigen Gast. Die Wissenschaftlerin Frau Professor Dr. Marie-Janine Calic lehrt Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Konflikt-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Region. Konkret geht es dabei um ethnische Minderheiten und die nationale Frage, Konfliktprävention, internationale Friedenssicherung und Vergangenheitspolitik. – Es geht also um alles.

Sie war uns in Brüssel eine besonders gefragte Beraterin und Mitarbeiterin im internationalen Diplomatenteam, als ich nach dem Balkankrieg Sonderkoordinator des Stabilitätspakts für Südosteuropa war. Heute ist sie auch Herausgeberin der Zeitschrift „Südosteuropa“ und befeuert mit ihren Kenntnissen und Erkenntnissen wichtige Gremien und Institute, die sich mit der Region befassen. – Herzlich willkommen, Frau Professor Calic!

Im letzten Teil dieses Seminars steht eine wichtige Frage im Vordergrund: Kann im spannungsreichen Südosten gelingen, was im Westen Europas bisher gelungen ist: zänkische Völker unter einem Dach gemeinsamer Interessen zu befrieden?

Wir hatten hier schon spannende und meinungsfreudige Diskussionen. Ich versuche, einiges davon verdichtet und pointiert zu spiegeln: Der Nationalismus ist die pubertäre Phase in der Geschichte eines Volkes (Großmannssucht, Zusammenrottung, Rauflust). Wir fragten uns kritisch: Ist er überhaupt überwindbar? Überwindet man ihn durch supranationale Verständigung bei globalen Problemen und gleichzeitiger Pflege regionaler Wohnlichkeit?

Unter dem Druck ökonomistischer Raubzüge, der Flüchtlingskrise, dem BREXIT erleben wir das Aufkommen re-nationalistischer Bewegungen, also eher das Gegenteil.

Die EU galt lange als eine großartige Erfolgsgeschichte. Europa wurde zum Traumland aller notleidenden Regionen der Welt. Aber offenbar hat die Gemeinschaft für viele Europäer nur noch geringe Strahlkraft. Zynische Medienkampagnen, Falschmeldungen und ein paar populistische Hütchenspieler können zweistellige Erfolge erzielen. Da ist offenbar einiges schiefgelaufen. Auch in Brüssel. Auch in den nationalen Parlamenten.

Andererseits stehen an den Rändern der Gemeinschaft Völker ungeduldig in der Warteschlange, um endlich Mitglied zu werden. Die Alten zeigen Ermüdungserscheinungen. Die Jungen versprechen sich eine goldene Zukunft. Aber Ziel und Weg sind nicht mehr selbstverständlich. Eine bessere Zukunft war schon immer mühselige, geduldige Arbeit.

Man darf sich auch nicht auf Erfolgen ausruhen. Muskeln – wie auch Gehirnzellen -, die man nicht nutzt, verkümmern. Ein neugeborenes Kind ist so unwissend wie ein Neandertaler-Baby. Menschen lernen nur wenig von allein.

Europa gibt ein widersprüchliches Bild ab, wie es scheint. Den Visionären kommen die Visionen abhanden. Im grenzenlosen Globalrausch erscheint Europa manchen als zu langsam, bürokratisch, fast schon provinziell. Andere schalten angesichts einer wachsenden Komplexität der Verhältnisse in den panischen Rückwärtsgang. In den Hauptquartieren hat das Denken in simpel strategischen Kategorien nie ganz aufgehört.

Die Ost-Erweiterung vereinigte das gespaltene Europa. Sie machte Länder mit düsterer Wirtschaftsprognose zu stabileren, berechenbareren und erfolgreicheren Partnern. (Rumänien ist dieses Jahr Wachstumsanführer.) Sie vertiefte aber auch die Entfremdung zwischen der EU und ihren Bürgern, zwischen den Institutionen in Brüssel und den Mitgliedsstaaten.

Vielfalt und Buntheit sind interessant, so lange man sie aus einer Position der Sicherheit betrachtet. Wenn diese jedoch schwindet, wird daraus Unübersichtlichkeit und erscheint vielen als bedrohlich.

Die französische Europaabgeordnete Sylvie Goulard bekannte: „Wir haben leider viel mehr Wert darauf gelegt, dass diese Länder sich entwickeln und zahlreiche Bedingungen erfüllen. Wir haben uns nicht die Frage gestellt, was müssen wir alten Mitgliedsländer tun, damit die EU besser funktioniert mit mehr Mitgliedern.“

Nur wenige haben begriffen, dass das Einigungswerk eine ganz neue Logik der internationalen Beziehungen anstrebt. Die früher geltende „Mengenlehre“ von Bevölkerungsgröße und Wirtschaftsmacht soll einem solidarischen Miteinander von Großen und Kleinen weichen. Die Zukunft der Gemeinschaft entsteht aus der besseren Idee, nicht aus der breitesten Sitzfläche. Gute Ideen kann auch das kleinste Mitglied haben. Die Realität sieht anders aus. Starke Kräfte verharren in den Kategorien des 19. Jahrhunderts, wo Bündnisse nur so lange hielten, wie sie den Starken Vorteile brachten.

Auch die Erkenntnisse aus zwei Weltkriegen scheinen mit wachsendem Abstand zu verblassen. Zu lange beherrschte auch das aggressive Ost-West-Schema die Köpfe und Strukturen. Es echot nach.

Die so genannte Wende von 1989 brachte offenbar keinen wirklichen Wandel. In zu vielen Köpfen des Westens sind die Völker Osteuropas noch immer irgendwie „Warschauer Pakt“. Der Eiserne Vorhang ist zwar gefallen. Das vom Kalten Krieg geprägte Unterbewusstsein besteht jedoch fort. Die Ukraine-Krise macht das sehr deutlich.

Nicht alle sind erschrocken. Manche reiben sich die Hände. Die Hardliner haben geduldig abgewartet. Jetzt sind sie wieder da. Der verabredungswidrige Vortrieb der NATO bis an russische Grenzen war entweder sträflich unklug, oder die erwartbare Reaktion des Kremls war willkommen. Die Rüstungsaktien jedenfalls erleben neuen Höhenflug. Die östlichen Nachbarn waren nicht freiwillig Satelliten Moskaus. Nun da sie es de jure nicht mehr sind, wollen sie es de facto nicht bleiben. Nachvollziehbar, dass viele eilig und heftig unter den NATO-Schirm schlüpfen und an die Brüsseler EU-Türen klopfen.

Die West-Europäer tun so, als seien sie nicht zu Hause. Viele sehen im Zuzug der armen Verwandten eine Bedrohung für den eigenen Lebensstandard. Europa war für sie immer nur eine Torte, die man nicht mit noch mehr Hungrigen teilen will. Und dann auch noch mit solchen, die gleich nach der Wende den Balkankrieg entfesselten. Die Bomben auf Sarajevo und das Massaker von Srebenica waren ein traumatischer Schock. Die Ereignisse versorgten nicht nur die Region mit einem neuen Vorrat an Hass. Sie vertieften im Westen auch das Misstrauen in die neuen Nachbarn.

Gegenwärtig schweigen die Waffen, aber nur hart gesottene Optimisten glauben an eine Zukunft als Selbstläufer. Unterentwickelte Wirtschaft, Grenzkonflikte, alte Geheimdienstkader und neue Nationalisten, Regierungen ohne Durchsetzungskraft, parasitäre Oligarchen, ethnische Stammeskämpfe. Da hatte man es nicht eilig. Aber Abschottung war keine Lösung. Jean-Claude Juncker resümierte: „Entweder bringt die Europäische Union Stabilität nach Osten, oder der Osten bringt seine Instabilität nach Westen.“

In der Tat: Wie schon in Osteuropa zeigt die Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der EU auch im Südosten positive Effekte. Zumindest die fortschrittlichen Kräfte

  • wollen offene Grenzen und fühlen sich ermutigt,
  • kümmern sich um nationalistische Brandherde,
  • mühen sich um den Schutz von Minderheiten,
  • bekämpfen Korruption,
  • zeigen Friedensbereitschaft mit den Nachbarn.

Entwicklungen, für die Westeuropa 50 Jahre brauchte, haben sich in Polen, Tschechien, der Slowakei, Slowenien und Ungarn in knapp 15 Jahren Terrain erobert. Die baltischen Staaten waren besonders eifrig und erfolgreich. Es steht zu hoffen, dass auch Südosteuropa neue Kapitel aufschlagen wird.

Die EU wird dabei durchaus als normgebende Instanz akzeptiert. Kommission und Parlament haben in der Bevölkerung eine größere Wertschätzung als die eigenen nationalen Organe. Der polnische Publizist Adam Krzeminski meinte: „Es ist gut, dass es einen Schiedsrichter gibt, falls wir verrücktspielen.“ – Er bringt zum Ausdruck, dass die EU ihre Mitglieder nicht nur vor äußeren Gefahren schützt. Vor allem schützt sie ihre Mitglieder vor sich selbst. Vor ihren schlechten Angewohnheiten, ihren chauvinistischen Leidenschaften und den resistenten Keimen ihrer unverdauten Geschichte.

Ist das „Pfeifen im Wald“? – Wachsen die Probleme nicht schneller als die Lösungen? Ist Europa nur ein gefährdeter „Besitzstand“ oder wirklich eine „Methode“, die Frieden und Wohlstand fördert? Brauchen wir Schulterschluss und Gleichschritt oder spannungsreichen Wettbewerb in versöhnter Verschiedenheit? Werden die Völker des Balkans, ob schon Mitglied oder noch nicht, ihre guten Kräfte einbringen oder den Zerfallsprozess beschleunigen?

Gerade erst trafen sich die Gestrigen in Prag, um der EU den Vernichtungskampf anzusagen, weil sie – so Geert Wilders und Marine Le Pen – die Nationalstaaten zerstöre. „Na hoffentlich!“, möchte man sagen. Zweimal nämlich brachte der Nationalismus Europa an den Rand der Selbstvernichtung. Wozu also ein dritter Versuch?

Frau Professor Calic, wie sehen Sie die Situation und die Situation der Zukunft?