„Rollenspiele. Journalistische Hauskreise in der Bonner Republik“ – Buchbeitrag, 24. Oktober 2017
Beitrag zum Buchprojekt
„Über Bonn hinaus.
Die ehemalige Bundeshauptstadt und ihre Rolle in der deutschen Geschichte“
Herausgegeben von Prof. Dr. Tilman Mayer
und Dr. Dagmar Schulze Heuling
Rollenspiele
Journalistische Hauskreise in der Bonner Republik
von Prof. Bodo Hombach
Es gab nie eine wirkliche „Stunde Null“, aber die Siegermächte hatten 1945 sämtliche bestehenden Zeitungen verboten. Der „blackout“ sollte Radio, Film und Presse als die besonders perfiden und wirksamen Propagandainstrumente der NS-Diktatur restlos neutralisieren. Während die Sowjets in ihrer Zone das Prinzip politischer Gleichschaltung als Diktatur mit anderen Inhalten fortsetzten (entsprechende Kader waren schon vor Kriegsende in Moskau für diese Aufgabe vorbereitet worden), kontrollierten die Westalliierten den Neuaufbau eines deutschen Pressewesens über die Vergabe oder das Verweigern von Lizenzen. NS-kontaminierte Journalisten und Altverleger hatten Berufsverbot. Presseoffiziere hielten den Neubeginn an einer – allerdings nicht allzu – kurzen Leine. Immerhin konnten in der amerikanischen Zone bis 1948 schon wieder 56 Zeitungen erscheinen, eingeschränkt eher durch Papierknappheit als durch Zensur.
Ohne viel Aufhebens saßen bald auch wieder Journalisten in den Redaktionen, die schon vor 1945 geschrieben hatten, aber als „minderbelastet“ galten. Manche wurden erst Jahrzehnte später von ihrer Vergangenheit eingeholt (z. B. der Fall „Werner Höfer“). Da – anders als in der Sowjetzone – die Altverleger im Westen nicht enteignet worden waren, blieben sie als Besitzer der Druckmaschinen im Boot. Die Situation bot jedoch Quer- und Seiteneinsteigern gute Chancen. So erhielt ein gewisser Rudolf Augstein von britischen Presseoffizieren den Auftrag, ein deutsches Wochenmagazin nach dem Muster des TIME-Magazins zu entwickeln. Als er dort auch kritische Artikel über die Besatzungsmächte veröffentlichte, kam schon nach sechs Nummern das Aus. Der junge Journalist (*1923) erwarb daraufhin eine Verlegerlizenz und brachte am 4. Januar 1947 die erste Nummer des Magazins DER SPIEGEL heraus.
Im Mai 1949 erhielt die Bundesrepublik Deutschland ihre Souveränität. Den Rahmen für das Pressewesen bot nun das bundesdeutsche Recht. Ab September 1949 war durch Generallizenz die Gründung neuer Zeitungen frei. Das führte zu einer deutlichen Aufforstung des Blätterwaldes, bald auch durch Zeitschriften und Illustrierte. Übergreifende Angebote, wie die Deutsche Presseagentur oder ab 1956 als Organ der Selbstkontrolle der Deutsche Presserat, ergänzten die Landschaft.
Berlin mit seinem Vier-Mächte-Status konnte nicht mehr Hauptstadt sein. Zwei andere Trümmerhaufen namens Frankfurt und Kassel bewarben sich um diese „Würde“. Den Zuschlag bekam jedoch ein idyllisches Residenzstädtchen am Rhein. Es gehört zu den gut erfundenen Legenden der westdeutschen Republik, dass die Nähe zu Rhöndorf den Ausschlag gegeben hätte. Bundeskanzler Konrad Adenauer, damals schon 73jährig, Rosenzüchter und Bocciaspieler, musste nur den Fluss überqueren, um seinen Dienstort zu erreichen. Regierungssitz des „Provisoriums“ wurde also das beschauliche Bonn. Die lieblich-romantische Kulisse von Rheintal und Siebengebirge ließ keinen Gedanken an das wilhelminische Getöse der alten Hauptstadt aufkommen. Ein nicht geringer Vorzug Bonns.
Nach der größten Selbstvernichtung, die je ein Kulturvolk sich selbst angetan und dabei den ganzen Kontinent bis zum Ural äußerlich und innerlich verwüstet hatte, konnte die Rückkehr in den Kreis der zivilisierten Völker nur gelingen, wenn sie quasi auf leisen Sohlen geschah. Dafür war Bonn die geeignete Metapher. Die Westzonen waren zusammengewachsen. Auf Befehl der Alliierten war das Grundgesetz entstanden. „Verfassung“ durfte es nicht heißen, um der erhofften Wiedervereinigung keine Optionen zu nehmen. Ein viermaliges „Nie wieder!“ war der Rütli-Schwur des Weststaates: Nie wieder Verletzung der Menschenrechte. Nie wieder Diktatur. Nie wieder Krieg und nie wieder unsoziale Strukturen. Artikel 5 platzierte die Pressefreiheit an prominenter Stelle in den Bestand der Unkündbaren: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“
Im realen Leben bestimmten weitere Feldlinien die Gestalt der medialen Öffentlichkeit:
- Deutschland und Berlin lagen auf der Trennlinie zwischen West und Ost. Hier wie nirgendwo sonst war der Kampfplatz der beiden Weltsysteme. Adenauers Außenpolitik setzte ganz auf Westanbindung. Die Wiederbewaffnung sollte aus dem „besiegten Feindstaat“ einen unentbehrlichen Partner der NATO machen.
- Mit der Montanunion bahnte sich ein Weg für Europa an, der über die Schaffung eines gemeinsamen Marktes („Handel statt Händel“) das Fernziel einer friedlichen Völkergemeinschaft im Visier hatte.
Innenpolitisch entstand das für fast 20 Jahre stabile Dreiecksverhältnis von CDU/CSU, SPD und FDP. Konrad Adenauer regierte nach „Gutsherrenart“. Er verstand es, komplizierte Dinge einfach aussehen zu lassen. Sein rheinischer Humor federte harte Tatsachen ab. Aufgrund ihrer Alltagsprobleme war die große Mehrheit der Bundesbürger ohnehin politisch wenig interessiert. „Der Alte“ würde schon alles richten. Das Junktim von Thron und Altar funktionierte. Die „Wahlhirtenbriefe“ der Bischöfe hielten die Schäflein auf ihre Weise beisammen.
1955 waren die Westverträge unter Dach. Als der Kanzler allerdings gleich darauf nach Moskau flog mit der Illusion im Gepäck, nun würde der Kreml aufgeben und ihm die Wiedervereinigung anbieten, erlebte er eine herbe Enttäuschung. Chruschtschow genehmigte der DDR eine eigenständige Botschaft in Moskau. Von nun an galt für Bonn die Hallstein-Doktrin. Sie wurde von der westdeutschen Presse weitgehend beachtet, von den Zeitungen des Springerkonzerns mit Inbrunst vertreten und verteidigt.
Während sich die Zeitungen einigermaßen deutlich auf das Parteienspektrum verteilt hatten, war der Rundfunk nach dem Muster der BBC und auf Druck der britischen Besatzungsmacht öffentlich-rechtlich definiert. Er sollte sich gleichweit von kommerziellen wie von politischen Einflüssen fernhalten, – eine für Kanzler Adenauer schwer verdauliche Maßgabe.
Der Rundfunk war von Anfang an Objekt politischer Begierde. Ihn davor zu schützen bedurfte aufmerksamer Beobachtung. Regierungskreise betonten die „Funkhoheit“ des Bundes, welche die Rechte der Besatzungsmächte ersetzen sollte. 1952 versuchte ein Gesetzentwurf des Innenministers durch einen semantischen Trick, die im Grundgesetz definierte „Fernmeldehoheit des Bundes (Art. 73,7) im Zuständigkeitsbereich des Bundespostministers mit „Inhalt“ zu füllen. Es kostete eine öffentliche Debatte, um klarzustellen, dass sich dieser Artikel nur auf die technische Seite bezog, auf die organisatorische nur so weit, wie sie sich aus technischen Anforderungen ergab. Walter Dirks, zusammen mit Eugen Kogon Herausgeber der „Frankfurter Hefte“, argumentierte 1952: „Der Rundfunk ist insgesamt kein Fernmelde-Unternehmen, sondern ein Instrument kultureller und politischer Aktivität. Von einer ‚Hoheit‘ des Bundes über diese Seite, von einer ‚Funkhoheit‘ also, kann keine Rede sein, es sei denn, man denke dabei nur an das Funken und nicht an das, was gefunkt wird. Die ‚Kulturhoheit‘ haben nach dem Grundgesetz die Länder.“
Der Konflikt war damit benannt. Er ist seitdem, meist aus gegebenen Anlässen, eine Konstante der Rundfunkpolitik. Die drei Volksparteien der Bonner Ära empfanden sich nach und nach nicht mehr als „Mitwirkende“ bei der politischen Willensbildung, sondern als „Protagonisten des Staatstheaters“ mit dem Privileg, die Welt restlos unter sich aufzuteilen. Ihnen war die Staatsferne von Rundfunk und Fernsehen nicht leicht zu vermitteln. Mehrfach musste das Bundesverfassungsgericht nach übergriffigen Gesetzesinitiativen auf die „Reset-Taste“ drücken.
Zwei pressepolitische Großereignisse markierten das Ende der Adenauer-Ära: die SPIEGEL-Krise und der an Wachsamkeit und Widerstand der Ministerpräsidenten gescheiterte Versuch des Kanzlers, übers Wochenende eine „Deutschland Fernsehen GmbH“ als Regierungssender zu etablieren.
In der Jugendrevolte von 1967 bis 1969 erlebte die Bonner Republik eine Auseinandersetzung ganz anderer Art. Da sich der – zunächst zaghafte – Studentenprotest auch gegen das Engagement der Amerikaner in Vietnam richtete, wagte er sich in die „No-go-Area“ der Springerpresse, die damals in Berlin eine Quasi-Monopolstellung hatte. Kritik an den USA, seit der Blockade „Schutzmacht“ Berlins?:Das ging gar nicht. Entsprechend robust wurden die Studenten niedergeschrieben und hatten nun ihrerseits eine ergiebige Projektionsfläche für Fundamentalkritik am „Establishment“, wozu sie selbstredend die konservative Presse zählten. Höhepunkt waren der Schuss auf Benno Ohnesorg und das an Studentenführer Rudi Dutschke verübte Attentat. Sie führten zur Auslieferungsblockade von Springer-Zeitungen.
Das Bonner „Parteiensystem“ geriet erstmalig durch die „Grünen“ aus dem Takt. Sie hatten als „Bewegung“ begonnen und waren nach und nach in Landtage und Bundestag einzogen. Sie überlebten die Phase ihrer Selbstfindung („Realos“ gegen „Fundis“), weil sie offenbar ein allgemein vermittelbares Interesse vertraten, das bis dahin ausgeblendet war. Den „Etablierten“ erschien das Phänomen lange als eine Art Sakrileg oder ungehörige Störung der öffentlichen Ordnung. Sie hatten Mühe, aus dem Modus des Schmähens („linke Naturapostel“) in den der argumentativen Auseinandersetzung zu finden. Nach und nach sickerten dann jedoch „grüne“ Positionen in ihre eigenen Parteiprogramme ein und gehören dort heute zum selbstverständlichen Bestand.
Hier ist nicht der Ort, die Einzelheiten zu referieren. Die genannten Ereignisse machten jedoch klar, dass sich die Presse inzwischen als „vierte“ Macht im Staat etabliert hatte und sich nicht mehr obrigkeitlich kujonieren ließ. Im Fall des Adenauer-Fernsehens erwies sich die Kulturhoheit der Länder als selbstbewusste Antinomie gegen zentralistische Vereinnahmung, und hier sogar als eine Art „konstruktives Misstrauensvotum“, denn am Grabe von Adenauers Idee konstituierten die Länder das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF).
Entgegen der äußeren Dramatik mancher Auseinandersetzungen herrschte zwischen Politikern und Journalisten im Bonner Alltag ein durchaus pragmatischer Ton. Viele beäugten sich misstrauisch und waren sich oftmals nicht „grün“, aber man war auf einander angewiesen. Es gab bei Etlichen durchaus ein enges Zusammenspiel. Dieses im Bonner „Treibhaus“ besonders gewucherte Geflecht hat damaligen „Spin Doctors“ breiten Spielraum gegeben. Auch Indiskretionen setzen Vertrauen voraus. Bei dem einen das Vertrauen, nicht verraten zu werden, bei dem anderen das Vertrauen, nicht verladen zu werden. Auf diese Weise konnten Hintergründe und Zusammenhänge, aber auch wahre Absichten besser ausgeleuchtet und journalistisch verarbeitet werden, als es gegenwärtig der Fall zu sein scheint. Von solchen „Vertrauensverhältnissen“ war das Verhältnis zwischen Politik und Journaille in der Bonner Republik sehr viel mehr gekennzeichnet als das Verhältnis Medien und Politik in Berlin. Die Politik brauchte die Medien, um sich vor dem Wählervolk zu erklären, und die Presse wusste bei allem Enthüllungseifer und aller kritischen Distanz: Nur in einem „geregelten“ Konflikt, wo man sich grundsätzlich gegenseitig respektierte und auch gelegentlich Verschwiegenheit möglich blieb, konnte man authentische Wahrheiten, Hintergründe und verwertbare Hinweise und Informationen erlangen.
Auf dieser Basis bildeten sich in der Bonner Republik zahlreiche „Hintergrundkreise“ als geordnetes Treffen zwischen Presse und Politik. Der älteste war der Berliner Presseclub von 1952. Man traf sich im Hotel Albrechtshof mit Spitzenpolitikern. 1971 entstand die „Gelbe Karte“, ein Kreis von 30 Journalisten, den junge Sozialliberale gründeten. Sie setzten damit einen Akzent gegen den rechtskonservativen „Ruderclub“. Weitere Kreise nannten sich „Lila Karte“, „Bodenseekreis“, „Rotes Tuch“, „Enklave“, „Kartell“, „Dresslerkreis“, „Berliner Zimmer“, „Antenne“, „Vino Rosso“. In der Regel waren sie sauber parteipolitisch sortiert. Eindringlinge aus anderen Lagern wurden nicht geduldet. Erst nach der Wende lockerte sich diese Exklusivität ein wenig.
Die meisten Kreise wurden von Journalisten organisiert, zum Teil an wechselnden Schauplätzen („Wohnzimmerkreis“). Aber auch Politiker luden ausgewählte Pressevertreter zum vertraulichen Gespräch, um mit ihnen das aktuelle politische Tagesgeschehen zu diskutieren. Die Inhalte waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, aber das Treffen bot Gelegenheit, durchaus hoch relevante Informationen und interessante Standpunkte auszutauschen. Zugleich war es eine Chance, das gegenseitige Verständnis zwischen Politik und Medien anzubahnen und auszubauen.
Der Zugang zu Hintergrundkreisen unterlag einer Kontrolle. Mitglied konnte nur werden, wer die strengen Regeln akzeptierte. Dazu gehörten die verbindliche Teilnahme an den Gesprächen und die Maßgabe, dass aus jeder Redaktion nur ein bestimmter Journalist Zugang hatte. Aus Sicht der Politiker bot sich hier die Möglichkeit gezielter Indiskretion. Man konnte einen Sachverhalt oder ein Thema in die Öffentlichkeit lancieren, ohne dass damit schon ein Name verbunden war.
In der Bonner Republik war die Überschaubarkeit dieser Szenerie leichter herzustellen als es nach dem Umzug nach Berlin möglich war. Das Interesse an Hintergrundkreisen nahm ab, nicht zuletzt in Folge journalistischer Indiskretionen. „Gebrannte“ Politiker ziehen heute das Vier-Augen-Gespräch oder die Distanz vor. Die Entfremdung der Akteure, manchmal sogar der gegenseitigen Missachtung ist in Berlin dramatisch gewachsen.
Noch heute spielt aber die Bundespressekonferenz eine besondere Rolle. Anders als die Öffentlichkeit gemeinhin glaubt, war und ist sie keine Veranstaltung der Regierung, sondern der Journalisten. Sie haben sich im gleichnamigen Verein organisiert, und auch nur die Mitglieder haben im Saal das Haus- und Fragerecht. Ausländische Journalisten empfinden dieses Konstrukt als wunderlich und beneidenswert. Sie erleben Pressekonferenzen ihrer Regierung nur dann, wenn diese es für nötig hält.
Wie die Hintergrundkreise hat auch die Bundespressekonferenz ihren eigenen Code. Von jetzt auf gleich kann sie vertraulich werden, wenn ein Regierungsvertreter das signalisiert. Er tut es mit der Formulierung „unter zwei“ (= die Quelle der Information darf nicht genannt werden) oder „unter drei“ (= Quelle und Information sind streng vertraulich, also „off the record“). Dann müssen alle Bild- und Tonmitschnitte unterbrochen werden. Die Konferenz verwandelt sich in einen „Hintergrundkreis“. – Wer diese Konvention verletzt, wird aus dem Verein ausgeschlossen (Paragraf 16 der Satzung des Vereins Bundespressekonferenz). Auf dieser Basis funktioniert die Kommunikation zwischen Politikern und Journalisten auch bei anderen Gelegenheiten.
Im Vergleich zur heutigen Situation erscheint die Presse der – vergleichsweise betulichen – Bonner Phase der Republik als schärfer konturiert und mit einem deutlich breiteren Themen- und Meinungskorridor. Obwohl die großen Themen der Gegenwart allen Stoff liefern für große und kontroverse Erzählungen, obwohl auch die Bevölkerung angesichts der hochkomplexen Verhältnisse in der globalisierenden Welt nach Kriterien und Erklärungen hungert, beobachten die Analysten einen engen Meinungskorridor, aber breiten „Mainstream“ der Berichterstattung. Man bescheide sich damit, wenigen Stichwortgebern aus Partei, Wirtschaft oder Leitmedien zu lauschen, um dann sogleich in Schulterschluss und Gleichschritt zu verfallen, anstatt der eigenen Wahrnehmung zu trauen oder gar über mühsame Recherche zu einer abweichenden Einsicht zu kommen, schrieb kürzlich der Leipziger Medienwissenschaftler Dr. Uwe Krüger. Auf diese Weise entstünden „dunkle Löcher“ in der Wahrnehmung der Realität, wodurch der öffentliche Raum und Dialog zu schrumpfen droht.
Die Gründe für diese Entwicklung sind mannigfach (schrankenlose Kommerzialisierung, schwindende Abonnenten- und Inserentenzahlen, Arbeitsverdichtung bei gleichzeitiger Ausdünnung der Redaktionen, Negativauslese der Sensationspresse, die nur noch auf Event, Skandal, Tempo setzt). – Das Internet als hilfreiches Medium einer neuartigen, globalen und totalen Öffentlichkeit hat sich bisher als Illusion herausgestellt. Solange es seine anarchische Grundstruktur nicht in den Griff bekommt, gibt es nur uralten, provinziellen und totalitären Gelüsten einen ungeheuren Verstärker in die Hand. In einem solchen „globalen Hintergrundkreis“ wäre eher Indiskretion nicht der gelegentliche Fauxpas, sondern geltendes Prinzip, ohne das der Wahrheitsgehalt durch wirksame Filter geprüft wird.
Schon 1961 schrieb Jürgen Habermas in einer grundlegenden Arbeit über „Strukturwandel der Öffentlichkeit“. Er trug dort ein neues Verständnis der Funktion von Öffentlichkeit vor. Danach war sie im säkularen Staat nicht mehr der statische Raum, den die Obrigkeit mit repräsentativer Verlautbarung füllte oder im Randbereich – widerwillig – zur Druckentlastung etwas Spielraum gewährte, sondern eine dynamische Funktion der vom Staat getrennten bürgerlich-demokratischen Gesellschaft. Sie entstand erst dadurch, dass man sie beanspruchte. So gesehen war und ist auch die freie Presse keine Veranstaltung für die Gesellschaft, sondern eine Veranstaltung der Gesellschaft. – Habermas zog mit seiner Schrift die Grundlinien seiner späteren „Diskurstheorie“ als Beschreibung eines normativen, empirisch begründbaren und aufklärerisch-rationalen Umgangs der gesellschaftlichen Kräfte miteinander. Diese Idee eines hermeneutisch interessierten Rollenspiels ist noch immer modern. Durch das weltweit zu beobachtende Rollback journalistischer Tugenden und dialogischer Kompetenzen erscheint es moderner denn je. Man muss hoffen, dass es nicht wieder utopisch wird.
So gut und historisch richtig der Regierungsumzug nach Berlin nach der Wiedervereinigung war, die Berichterstattung über Bundespolitik ist keineswegs vielfältiger, tiefgreifender oder aufklärerischer geworden.
2017, 339 S., brosch., 34,– €
ISBN 978-3-8487-4422-0
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