„Wie weiter nach dem Referendum? Großbritannien und Europas Zukunft“ – BAPP, 29. November 2016
„Wie weiter nach dem Referendum? Großbritannien und Europas Zukunft“
Begrüßung Prof. Bodo Hombach
Bonn, 29. November 2016
Sehr geehrter Herr Dr. Burghof,
herzlichen Dank für Ihre freundliche Begrüßung.
Exzellenz, Sir Wood,
sehr verehrte Damen und Herren,
der Schock – je nach Standpunkt – sitzt tief. Er soll uns nicht lähmen. Er darf es gar nicht.
Kürzlich hörte ich: „ Wer Zeitung liest und Fakten kennt, gehört schon zum Establisment.“ Oxford Dictionnaries erklärte gerade „postfaktisch“ zum internationalen Wort des Jahres. Politik, die auf sich hält, geht von Realien aus. Wissenschaft sowieso. Sie schalten den Verstand ein. Gerade dann, wenn er im Wert zu sinken scheint.
Ein wichtiger Fakt: Am Beginn des 20. Jahrhunderts bildeten die Europäer 20 Prozent der Weltbevölkerung. Heute beträgt ihr Anteil sieben Prozent. Am Ende des Jahrhunderts werden die Europäer nur noch vier Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Man stelle sich vor, wie ein noch kleinerer Teil von denen gegen den Wind spucken will.
Wir schaffen Gelegenheiten wie diese, einander zu begegnen. Wir wollen uns heute mitteilen, wie die Dinge stehen und wie wir sie sehen.
Alexander der Große soll den Gordischen Knoten mit einem Hieb zerschlagen haben. Erich Kästner war davon nicht beeindruckt. Seine Mutter hätte gesagt: „Zerhauen ist nicht. Mach ran, den Knoten aufzudröseln! Strick kann man immer brauchen.“
Es geht auch um Leidenschaften, Ängste und Gefühle. Auch die sind Tatsachen. Wenn die Leute glauben, dass es geschehen sei oder geschehen könnte, ist es so wirkmächtig wie das, was wirklich geschehen ist.
Die Entscheidung, die Europäische Union zu verlassen, ist eine Zäsur im Vereinigten Königreich. Sie ist es auch in der EU. Sie hat erhebliche Konsequenzen. Die reichen von wirtschaftlichen und rechtlichen Unsicherheiten über komplizierte Verfahrensfragen bis zu den künftigen Beziehungen.
Wir sollten uns nicht um diese Herausforderungen beneiden. Denn die Gefahren sind groß. Die Verluste auch. Die Gewinne eher zweifelhaft. Da wir nicht plötzlich Feinde sind, wünsche ich den Briten, dass am Ende ihre Entscheidung nicht zum Trauma wird. Nicht für sie und nicht für uns.
Lange genug hat Europa unter Traumata seiner Geschichte gelitten. Es war der tiefere Sinn der Gemeinschaft, diese nach und nach aufzuarbeiten und aufzulösen. Wir dachten, die Aufarbeitung ginge besser unter einem gemeinsamen Dach als über den Gartenzaun.
Die Entscheidung hat auch für die EU erhebliche Konsequenzen. Nachdem das Ungeplante geschehen ist, erkennen wir, dass wir nicht nur kleiner und ärmer geworden sind. Die EU minus Großbritannien ist nicht 28 minus 1. Der Einschnitt hat überproportionale Folgen.
Es reicht nicht, sich mit den Phantomschmerzen abzufinden und irgendwie weiterzumachen. Ignoranz ist des Bürokraten besondere Gewohnheit. Brüssel ist deren Hauptstadt. Es kommt Wind auf. Bei der Gelegenheit wird auch der Kurs diskutiert und neu bestimmt werden. Konstitutionelle Reformen stehen an. Die Intensität einer nötigen Vertragsrevision ist wichtig. Wir werden im Rest Europa paradoxerweise britischer werden müssen, wenn wir zusammenbleiben wollen. Das heißt, mehr gelebte Subsidiarität, Einigung ja – Einheitlichkeit nein, keine bürokratischen Übergriffe gegen regionale oder nationale Besonderheiten, die Europa nicht gefährden, sondern nur bunter machen. Das hieß bei den Gründungsvätern „Einigkeit in Vielfalt“. Das heißt auch: „Wir wollen unsere eigenen Fehler machen.“
Das Unvorstellbare ist geschehen, einfach so. Das ändert die äußere und innere Konstitution der Gemeinschaft.
Der Brexit ist keine vereinzelte Rhythmusstörung, kein Betriebsunfall. Anschwellende Bewegungen in vielen Mitgliedsstaaten betrachten ihn als Blaupause für eigene Bestrebungen.
Italien, Österreich, die Niederlande, Frankreich, Ungarn ringen um Antworten auf die gleiche Frage. Gerade EU-Skeptiker bitten das Volk zu sagen, was zu tun sei. Für Demokraten ist es ein Dilemma, „Volksabstimmungen“ fürchten zu müssen. Hochkomplexe Sachverhalte verengen sich zum einfachen „Ja“ oder „Nein“. Alternativen spielen eine große Rolle.
Nicht nur in den USA erkennen wir eine tief gespaltene Gesellschaft. Wir erfahren ein explosives Gemisch aus zwei Komponenten: Ein wütendes Misstrauen in die als parasitär empfundene „Elite“. Und eine Fundamentalopposition, die nur noch das bestehende Regime verletzen will. Den Durchlauferhitzer machen dann demagogische Begabungen und die ungeheure Verstärkerwirkung des Internets.
Europa war immer ein unruhiger Kontinent. Auf relativ engem Raum drängten sich schroffe Gegensätze.
Das Schlüsselwort schon der altgriechischen Kultur hieß „agon“. Es bedeutet „Wettstreit“ in jeder Hinsicht, lustbetont und manchmal als Selbstzweck. Pro und Contra war und ist in nun schon zweieinhalb Tausend Jahren die zentrale Methode der Wahrheitsfindung. Das gilt auch für wissenschaftliche Entdeckungen. Das gilt auch für die kulturelle, soziale und politische Evolution.
Deshalb sollten wir begierig auf andere Sichtweisen als die eigenen sein. Die EU ist kein ultimatives Ergebnis. Sie ist work in progress. Das ist kein Manko. Sie kann Gegenspannung aufbauen und das Problem konstruktiv bearbeiten. Sie kann sich neuen Gegebenheiten anpassen.
Großbritannien ist – wie der Kontinent – eine Erhebung über den Meeresspiegel. Beide stehen auf der gleichen Platte der Erdtektonik. Der Ärmelkanal ist erst vor 6.000 Jahren eingebrochen. Die Platte schwimmt auf glutflüssigem Magma. Der Meeresspiegel steigt. Oben wie unten haben wir gemeinsame Probleme. – Mit Vernunft und Geduld sollten wir sie einer Lösung näherbringen.
Vier Schritte kennzeichnen vernünftige Politik: Versuchen. Scheitern. Wieder versuchen. Besser scheitern.
Unsere großartigen Gäste, die Frau Wesel gleich vorstellen und moderieren wird, werden nicht scheitern. Exzellenz, Sir Wood, wir sind begierig, Sie zu hören. Wir Zuhörer werden am Ende des Abends klüger sein, als wir gekommen sind. Dafür meinen vorauseilenden Dank.