„Moderne Wirtschafts- und Sozialpolitik zwischen Balance und Blockade“ – BAPP, 25. Oktober 2016

Verehrter Erster Bürgermeister von Hamburg,

lieber Herr Steingart,

sehr verehrte Damen und Herren,

meine Großmutter war eine kluge Frau.
Sie beherrschte die vier Grundrechenarten.
Sie brachte in punkto Wirtschaften ihr Erfahrungswissen auf drei Hauptsätze:

  • „Von nichts kommt nichts.“
  • „Man muss vorher verdienen, was man ausgibt.“
  • „Gib nicht mehr aus als du hast!“

Damit wäre sie gut durchs Leben gekommen.
Sie hätte ruhig schlafen können.
Sie hätte ein bescheidenes Pölsterchen angespart.

Irgendwann kam ihr allerdings die Wallstreet dazwischen

Einen Verdacht bin ich nie ganz losgeworden:
Sehr viel klüger als die alte Frau ist die Wirtschaftspolitik nicht geworden.
Wo es gut läuft, hat sie die drei Sätze beachtet.
Wo es schlecht läuft, hat sie auf irgendeine Weise dagegen verstoßen.

Nun könnten wir schon auseinandergehen.
Das wäre aber schade.
Nichts ist schwieriger als das Einfache.
Warum einfach, wenn’s auch komplizierter geht.

Kluge Wirtschaftspolitik hat bekanntlich ein Ziel:
Sie erstrebt ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht.
Zu diesem Zweck sitzt sie vor einer Art Mischpult mit vier Schiebereglern.

Deren Beschriftung lautet:

  • Hoher Beschäftigungsstand
  • Stabiles Preisniveau
  • Stetiges und angemessenes Wachstum
  • Ausgeglichene Handelsbilanz

Neuerdings kommen noch zwei Regler dazu:

  • Nachhaltigkeit, sprich: Umweltschutz und
  • Gerechte Verteilung von Löhnen und Vermögen

Das hört sich einfach an.
Man spricht vom „Magischen Sechseck“.
Damit deutet sich an, dass der gesunde Menschenverstand nicht ausreicht, um diese Postulate ins Gleichgewicht zu bringen.
Ein wenig Magie, Glaskugel und Alchemie
gehören offenbar dazu.

Das Ganze hat eine unangenehme Eigenschaft.
Es ist kein Nebeneinander von gesicherten Fakten. Es ist ein Mit- und Gegeneinander dynamischer Faktoren.
Schlimmer noch: Zahlreiche Personen, Gruppen, Parteien, Verbände fummeln an den Reglern.
Sie haben den Tunnelblick ihrer Funktionäre.
Alle haben partikulare Interessen und Perspektiven. Jeder stellt die seinen in die Mitte.

Schlimmer noch:
Vielen Entscheidern geht es um den eigenen Wohlstand.
Es geht ihnen nicht ums allgemeine Wohlergehen. Noch schlimmer:
Es mischen gefährliche Neigungen mit wie Gier, Herdentrieb, Machtgelüste.
Oft ist auch Testosteron im Spiel.

Verhaltenspsychologen haben herausgefunden,
dass wir Menschen
(anders als die geduldige Natur)
unbegabt sind, dynamische Systeme mit mehr als vier Wirkkräften im Gleichgewicht zu halten.
Wir über-reagieren zumeist.
Wir wollen den „Triumph des Augenblicks“ – nicht den „Glanz der Dauer“.

Unsere Werkzeuge sind grob.
Unter unseren Händen schaukeln sich kleine Fehler zu krisenhaften und dramatischen Zuständen auf.
Da wir dann den Fehler bei anderen suchen, finden wir ihn nur schwer, wenn überhaupt.

Machen Sie einen Rundumschwenk über die globale Szenerie vom Libor über

  • Diesel-Gate,
  • Griechenland,
  • Lehman-Brothers,
  • Eurokrise bis hin zum
  • amerikanischen Wahlkampf,

und es stürzen Ihnen die Beispiele entgegen.

Was also ist zu tun?
–Mit dieser Frage sind wir hier zusammengekommen. Ich bin überzeugt, wir alle werden Dank unserer großartigen Gäste klüger gehen als wir gekommen sind.
Das wird gelingen, wenn wir mehr Fragen im Gepäck haben als Antworten.
Solche zum Beispiel:

  • Wie sieht eine moderne Wirtschaftspolitik aus?
  • Wie kann man gewinnen, ohne dass dafür andere verlieren?
  • Wie buchstabiert man den antiquierten Arbeitsbegriff angesichts galoppierender Automatisierung, künstlicher Intelligenz und digitaler Revolution?
  • Wie versorgt man eine exponentiell wachsende Weltbevölkerung bei schwindenden Ressourcen?
  • Wie sind die anarchischen Tendenzen des Internets und des Börsenhandels zu domestizieren?
  • Wie schaffen wir eine ehrliche Kostenrechnung auch gegenüber kommenden Generationen?
  • Wie erreichen wir globale Offenheit, ohne dass der Pegel sozialer Desintegration ansteigt?
  • Brauchen wir weniger Europa oder mehr oder ein anderes?
  • Wie wird aus der Formel „Eigentum verpflichtet“ gelebte Realität?
  • Müssen wir uns zwischen Nachfrage- und Angebotspolitik entscheiden?
  • Welche Bildungsziele sind unabdingbar, um möglichst viele Menschen für die Herausforderungen der Zukunft fit zu machen?
  • Wie kann man ökonomische und ökologische Vernunft vor ideologischen Denkblockaden schützen?

Sie können diesen Katalog noch beträchtlich verlängern.
Der gibt eine Ahnung, vor welchen Herausforderungen wir stehen.

Ich habe nicht den Eindruck, dass wir uns schon angemessen verhalten.
Es fehlt an globaler Zusammenarbeit.
Stattdessen vermehren sich Zerfallstendenzen. Siehe: Europa, wo die Union vor ihrer bisher gefährlichsten Krise steht.

Wir schreiben heute den 25. Oktober.
– 1929 war das ein Freitag.
Er ging als „schwarz“ in die kollektive Erinnerung ein.

Nach einer hoffnungsvollen Erholungsphase stürzte die Weltwirtschaft in den Abgrund.
Eine falsche Wirtschaftspolitik schuf den Nährboden für extremistischen Massenwahn und wurde eine der Ursachen für Diktatur, Holocaust und Weltkrieg.

Wir sind heute besser aufgestellt.
Wir dürfen weiter ruhig schlafen.
Aber wir sollten nicht ruhig weiterschlafen.

Ich freue mich schon auf die Ausführungen des Hamburger Oberbürgermeisters, den ich – auch in Ihrem Namen herzlich begrüße.
Wir freuen uns auch auf das anschließende Gespräch von Herrn Oberbürgermeister Olaf Scholz mit dem Chefredakteur, Verlagsmanager, Herausgeber und Buchautor Gabor Steingart.

Letzte Woche fand man im besten Printprodukt Deutschlands (dessen Titel „Handelsblatt“ brauche ich nicht zu verraten) ein Zitat von ihm:
„Wir leben in einer Welt des vorsätzlichen Wahnsinns.“
– Das passt zum Titel seines neuen Buches „Weltbeben“.
Dabei kennen wir ihn als Mensch mit Hoffnungen, wenn auch nicht vom fröhlich-rheinischen Optimismus angesteckt.

Unsere beiden Gäste sind Garanten dafür,
dass wir in zwei Stunden klüger sein werden,
als wir es jetzt sind.

Dafür mein vorauseilender Dank.