„Brexit – und dann?“ – Handelsblatt, 19. Februar 2016

Wenn sich Großbritannien in den außereuropäischen Raum verirrt, ist es auch das Werk einer geschichts- und skrupelarmen Boulevardpresse. Bei allem, was aus Brüssel kommt, weiß die im Vorhinein, was man davon zu halten hat, nämlich nichts. Einer der heftigsten Europa-Feinde sitzt im Europäischen Parlament. Nigel Farage interessiert sich wenig für mögliche Lösungsschritte konkreter Probleme. Seine populistische Ukip hält sich mit Details nicht auf. Wo ein Mikrophon oder eine Kamera herumstehen, giftet er hinein, um das Gesamtwerk der Europäischen Einigung zu desavouieren. Jeder Inhaber eines Ressentiments kann im Vollbesitz geistiger Bedürfnislosigkeit Europa verantwortlich machen. Er ist nicht einsamer Rufer in der Wüste. Ihm steht via Internet ein Weltsender zur Verfügung. Der verbreitet die dümmste These wie die weiseste Erkenntnis mit gleichem Desinteresse millionenfach. – Es könnte passieren, dass das bedeutendste Projekt der europäischen Geschichte an der Massengesellschaft scheitert, die sich von dumpfen Befindlichkeiten und Demagogen zurück in die nationalistische Sackgasse treiben lässt.

Das musste gesagt werden. Aber nun zur Sache.
Ein Europa ohne Großbritannien wäre verwundet und schwerst geschwächt. Deutsche Einsamkeit würde größer. Ein Großbritannien ohne Europa wäre im globalen Wettbewerb eine Randerscheinung. Die ökonomische Musik spielt in Asien und Amerika. Die drängenden Probleme (Terrorismus, Flüchtlingsströme, Umweltgefahren) scheren sich nicht um Schlagbäume oder Zäune.

Europa soll nie wieder mit Bibel und Kanonenboot als Präzeptor der übrigen Welt auftreten. Aber es hat der Welt etwas anzubieten. Inmitten lauter schiefer Ebenen, wo Staaten und Völker in ausweglose Konflikte taumeln, entstand eine Vision. Eine Vision vom friedlichen Ausgleich der Interessen und solidarischem Ausgleich historisch-geografisch-kultureller Gegensätze. Dabei ging es – wie Helmut Schmidt sagte – gar nicht in erster Linie um den Schutz vor externer Bedrohung. Es ging um den Schutz der Mitgliedsvölker vor sich selbst. Sie hatten endlich eine Chance, ihre ethnischen und sozialen Erbfeindschaften zu überwinden und sich die schlechten Gewohnheiten ihres Konfliktverhaltens abzutrainieren.

Das konnte gelingen auf dem heilsamen Weg über einen gemeinsamen Markt und das Konzept füreinander nützlich zu sein. Die europäischen Institutionen wurden kompliziert, die Entscheidungen langwierig, aber die supranationale Struktur wurde zum Mediator. Ein solcher macht sich nicht zum Komplizen jeweiliger Parteigänger. Er sucht nach verschütteten Ressourcen und glaubt nicht an ausweglose Sackgassen. Er setzt bewusst auf Zeit, damit sich Leidenschaften abkühlen und Einsicht wächst. Er setzt sogar auf Konsens aller Beteiligten, auch wenn dann der Bremser das Tempo bestimmt.

Natürlich bevölkern fehlbare Menschen diese Institutionen. Sie erliegen den Sirenenklängen von Lobbyisten. Sie irren sich und setzen falsche Akzente. Wie in jeder Bürokratie reißen sie Zuständigkeiten an sich, die woanders besser aufgehoben wären. Im Dschungel des anschwellenden Regelwerks wachsen auch absurde Sumpfblüten, die sich für kabarettistische Pointen eignen. Nicht alles ist der Kommission anzulasten. Es ist das „Räppelchen“ nationaler Regierungen, die auf dem Umweg über Brüssel durchsetzen wollen, was ihnen das heimische Wählervolk verweigert. Jürgen Trittin galt hier als Meister. Und wunderbar! Europa eignet sich prächtig als „Watschenfrau“. Jederzeit kann man ihr eigene Fehlleistungen in die Schuhe schieben.

Immer war der Einigungsprozess auch durch theoriebesessene Schreibtischtäter gefährdet. Sie verwechselten Einheit mit Einheitlichkeit. Ein so bunter Kontinent wie Europa verliert sofort seinen Charme und seine Zukunft, wenn man ihn auf Schulterschluss und Gleichschritt verpflichten will. Das gelingt nicht, aber es stiftet Schaden. Die Demokratie ist nicht das Handwerk des „Entweder-oder“, sondern die Kunst des „Sowohl-als auch“. So lange es irgend möglich ist, vermeidet sie die Diktatur der 51 über die 49. Sie sucht nach lebbaren Alternativen, die neben einander bestehen können. Wer wüsste denn auch schon heute, welche für immer gut und richtig ist. Noch jeder allgemeine Fortschritt begann als einsame Idee eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe. Oft brauchte es Jahre und Jahrzehnte, um mehrheitsfähig zu werden. Zeit und Bewusstsein müssen reifen. Institutionen, die nicht dienen, dienen zu nichts.
Aus diesem Grunde wurde das Subsidiaritätsprinzip erfunden. Gutes entsteht von unten. Dann erst wird es durch professionelle Begleitung und Unterstützung von oben (sprich: von der Allgemeinheit) ermutigt und abgesichert. Entscheidungen fallen auf der unteren Ebene und nur dann auf der höheren, wenn sie alle betreffen. Ob das Heimatdorf eine Umgehungsstraße bekommt oder nicht, geht Brüssel nichts an, – auch nicht Berlin.

Gegen dieses Prinzip wurde viel zu oft verstoßen. Der Globalisierungsrausch erzeugt tote Winkel und blinde Flecken. Um das zu vermeiden hätte man bei jedem Schritt nach außen über die Grenzen einen nach innen in die Regionen und die demokratisch gewachsenen Institutionen der Nationen tun sollen. Die europäische Reise zu neuen Zielen hätte eine Gruppenreise sein sollen und nicht eine Expedition von Eliten. Supranationale Strukturen wecken berechtigtes Misstrauen. Erst recht, wenn ihre Vorteile nicht im Erlebensbereich der Menschen ankommen. Hier entsteht Lebensgefühl. Früher konnte das Provinzialismus bedeuten. Heute erlauben Medien, Internet und Verkehrsnetze jedem, nach Lust und Laune, Weltbürger zu sein. Mit Recht wird er nervös und widerborstig, wenn man seine „kleine“ Welt an die „große“ versteigert.

Die EU ist ein Europa demokratisch legitimierter Regionen und Nationen, oder sie hat keinen Bestand. Menschen, die sich von Brüssel in ihrer überschaubaren Lebensumgebung gegängelt oder übervorteilt fühlen, kündigen der Gemeinschaft ihr Vertrauen. Fatalerweise suchen zu viele ihr Heil nicht in der Verbesserung der Gemeinschaft, sondern im Rückzug auf nationale Illusionen. Das ist nicht nur gefährlich, sondern auch hoffnungslos antiquiert. Er war die Pubertätsphase der Völker, führte über „hormonales“ Imponiergehabe und Türenschlagen in ständige Prügeleien. Am Ende war Europa ein rauchender Trümmerhaufen. In seiner Nachkriegsrevue „Schwarzer Jahrmarkt“ ließ Günter Neumann die abgebrannten Eingeborenen von Trizonesien singen:

Wir mögen euch vielleicht etwas komisch erscheinen,
doch komisch, ihr Leut‘ war das nicht.
Wir krochen ans Licht raus mit schwankenden Beinen,
und Viele erlebten es nicht.

Europa schlug ein neues Kapitel auf und wurde zum Erfolgsmodell. Wer heute irgendwo in der Welt unter Diktatoren und marodierenden Banden um sein Leben fürchtet, hat einen Traum: Europa. Es könnte einmal zu den Treppenwitzen der Geschichte gehören, dass just dieses Europa an seiner humanen Spannkraft scheitert, weil es mit diesem Pfund nicht wucherte, sondern es in krämerhafter Unsolidarität oder naiver Realitätsferne verspielte.
Man darf über die Spielregeln der Gemeinschaft diskutieren. Sie nimmt aber schweren Schaden, wenn sich einzelne Mitglieder nicht mehr an die Spielregeln halten, die sie selbst mitbeschlossen haben. Auch ist es kindisch, das Brett umzuschmeißen, weil man nicht immer der Gewinner ist. Europa ist, wenn kleine und große Länder am runden Tisch sitzen.

Andererseits gibt es ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, nicht als Programm, aber als Tatsache. Die Einigung war und ist ein dynamischer Prozess mit Versuch und Irrtum, nicht Durchmarsch, sondern Springprozession. Sie wird es immer sein. Die europäischen Wünsche werden sich nie zu Tode erfüllen.

Den Briten ist zu wünschen, dass sie den trüben Schaum ihrer Rückwärtsträumer bremsen. Uns ist zu wünschen, dass die politisch etwas kühleren, aber rationalen und demokratieerfahreneren Briten Europa reformieren, stabiler machen und erhalten. Ein gesundes „Reset“, das Europa zurückführt zu den großen eigentlichen Aufgaben, würde ihm in allen Ländern mehr Akzeptanz bescheren. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre ein schrilles „Mehr Europa!“ oder auch nur ein „Weiter so!“ wenig hilfreich.

 

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