„Die vierte Gewalt“ mit Markus Grill – Uni Bonn, 21. Oktober 2015
Sehr geehrte Damen und Herren,
lieber Herr Grill, lieber Chefredakteur von CORRECTIV,
Sie werden gleich über Ihre Exkursion nach Hannover berichten. Dem will ich nicht im Wege sein. Deshalb nur ein paar hingeworfene Sätze, sozusagen als „warming up“ für unser Thema.
Meine Erfahrung: „Kants kategorischer Imperativ – die Frage: „Was ist, wenn es alle tun?“ – ist mir in der Politik nicht begegnet. Macht und Mächtige fürchten weniger das Gesetz oder ihr Gewissen, sondern die Enthüllung von dem, was sie geheim halten wollen. Der kategorische Imperativ der Mediengesellschaft ist die Frage „Was ist, wenn es rauskommt?“.
Presse – mit verbrieften Rechten – gilt als „vierte“ Macht im Staat. Sie bestimmt mit, was auf die Agenda kommt, und wie es die Leute sehen werden. Das bedingt Verantwortung und Verpflichtung. Die dürfen wir einfordern. Wir müssen es, denn unser politisches System hat jedem Erwachsenen ein „Kreuzchen“ auferlegt, – spätestens in der Wahlkabine.
Wer an öffentlichen Dingen teilhaben und einwirken will, ist auf Medien angewiesen. Freie Presse ist nicht eine Veranstaltung für die Gesellschaft. Sie ist eine Veranstaltung der Gesellschaft. Laut Jürgen Habermas ist Öffentlichkeit kein vorhandener Raum. Öffentlichkeit entsteht erst und nur dann, wenn die Gesellschaft sie beansprucht.
Wir erwarten, dass uns von Schauplätzen, Personen und Vorgängen berichtet wird, die uns selber unzugänglich sind. Wir wollen wenigstens sekundär erfahren, was wir primär immer seltener erleben. Wir bezahlen Journalisten für die Fähigkeit und Bereitschaft, uns ein korrektes Bild der Wirklichkeit zu liefern. Das setzt Unabhängigkeit voraus. Wer Teil des Geschehens ist, kann es nicht objektiv betrachten.
Die Medien halten sich für den Spiegel der Gesellschaft. Aber wer hält ihn? Wer blendet aus? Was wird unnötig lange beäugt? Qualitätsjournalismus recherchiert sorgfältig, prüft die Quellen und untersucht die Relevanz der Ereignisse. Die Sensationspresse sucht nach Erregung. Sie will Schurken und Heilige, Täter und Opfer, spannende Zuspitzung, Triumphe und Niederlagen. Die Realität bleibt auf der Strecke.
Die digitale Revolution macht‘s möglich: Ereignis und Bericht fallen zeitgleich zusammen. Die nützliche Knautschzone des Nachdenkens und Abwägens entfällt. Unbeschränkte Interkommunikation erzeugt ein anarchisches Tummelfeld von Meinungen und Aktionen. Die neue Öffentlichkeit geht einher mit einer neuen Anonymität. Menschenverachtende und kriminelle Absichten lassen sich verbergen.
Wenn Nachrichten und Berichte überwiegend Ware sind, hat das Folgen: Schnelligkeit vor Sorgfalt, Sensationslust vor Authentizität, Personalisierung vor Strukturanalyse, Polarisierung vor abgewogener Argumentation, Massenwirkung vor individuellen Schutzrechten.
Der Presse liebstes Kind ist der Skandal. Der wirft ein Blitzlicht auf den Zustand einer Gesellschaft. Er beleuchtet auch den Zustand der Medien. Jagdfieber macht sich breit. Ein Betroffener hat kaum Chancen, sich zu wehren. Verteidigung gilt als weiterer Schuldbeweis. Medien interessiert Anklage und Verurteilung, nicht der Freispruch. Medien sind selten fähig und bereit, eigenes Fehlverhalten kritisch zu reflektieren. Ermittlungsbehörden der Justiz wahren zu häufig nicht den gebührenden Abstand. Dass von vielen Skandalen juristisch nichts übrigbleibt, liegt in der Natur der Sache. Es gibt Staatsanwälte, die das nicht wahrhaben wollen.
Es bedarf der Regeln und gesetzlicher Rahmungen. Das Netz darf kein rechtsfreier Raum bleiben. Zu lange hat Politik die dramatischen Folgen der neuen Technik verschlafen.
Medien müssen sich entscheiden: Aufrichten oder niedermachen, verwirren oder aufklären, Ermutigung oder Apathie verbreiten. Medien, die den Menschen nicht dienen, dienen zu nichts.