„Ab heute bin ich Journalist“ – Kommentar Focus, 9. September 2015
Kommentar für den FOCUS – 7. September 2015
Mit einer unabhängigen und kompetenten Presse steht und fällt das demokratische Gemeinwesen. Sie spiegelt die Welt, die uns umgibt. Die ist uns nur in einem winzigen Teil durch Primärerfahrung zugänglich. Es interessiert uns, wie es dort zugeht. Es muss uns interessieren, ob man uns ein zutreffendes Bild vermittelt. Das erwarten wir von Journalisten. Ich bin bereit, groß von ihnen zu denken, wenn sie ihre Arbeit ordentlich machen. – Es würde mich auch nicht stören, wenn sie – unter dieser Bedingung – selber groß von sich denken.
„Nicht mit einer Sache gemein machen“. Dieses journalistische Versprechen ermöglicht uns Entscheidungsfreiheit. Der sich verbreitende intentionale Journalismus sollte nicht weniger als ein Lebensmittel transparent machen, was drin ist. Wer uns zu einer bestimmten Sicht drängen will, sollte es offenbaren.
Nun ist die digitale Revolution, ein Paradigmenwechsel von epochaler Wucht. Die totale Mobilisierung der Geräte, die explosive Ausfaltung des Internets, die zeitgleiche Synchronität von Ereignis und Rezeption, die grenzenlos mögliche Kommunikation und deren Überwachung, auch die totale Überflutung mit ungeprüfter Information lässt keine Branche unberührt, am wenigsten das Pressewesen. Das Vertrauen in den Journalisten wird wichtiger, aber es sinkt. Er steht unter verstärkter Beobachtung. Einige zeigen wenig Neigung, sich selbst kritisch zu hinterfragen. Staatliche Zensur – gottseidank – „findet nicht statt“, aber Selbstimmunisierung gegen Medienkritik, die als „Medienschelte“ oder gar Angriff auf die Pressefreiheit abgebügelt wird, ist kein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche.
Als ein Schwäche-Anfall dieser Art erscheint mir die Affäre um „Netzpolitik.org“ – die war auf allen Kanälen das Top-Thema. Mich beschäftigt hier nicht das Pro und Kontra „Staatsgeheimnis“, die Rechtmäßigkeit einer Anzeige oder die Absetzung des Bundesstaatsanwalts. Natürlich gibt es einen Dauerkonflikt zwischen Diensten, die zuweilen spendabel mit dem Geheimnisstempel umgehen, und Journalisten, denen das Veröffentlichen Pflicht und Herzensanliegen ist.
Mich interessiert das Verhältnis professioneller Presse zur freilaufenden Bloggerkultur. Die Betreiber von „Netzpolitik.org“ definierten sich laut FAZ.net als „nicht neutral“ und als Mischwesen. „Wir sind halb journalistisch und halb NGO.“ Nun gut. Aber kann man morgens aufwachen und sagen: „Heute bin ich nicht Interessensvertreter, sondern Journalist!“?
Merkwürdig: Es gab wenig Erstaunen über diese Selbstermächtigung. Nur ein Bundesrichter fragte kritisch nach. Man stellte die rechtlichen Standards der eigenen Branche wie Ramschware in den Ausverkauf. Inflationierung beschädigt die Wirkmacht der Vierten Gewalt.
Im Straßenverkehr haben bestimmte Fahrzeuge Sonderrechte. Bei Gefahr im Verzug schalten sie ihr Blaulicht ein. Dürfen alle sagen: „So ein Blaulicht will ich auch.“?
Zugegeben eine holzgeschnitzte Analogie. Wenn jeder Journalistenrechte beansprucht, weil er einen Presseausweis ergattert hat und wütende Sätze schreiben kann und ihm sein Tablet für lau einen Welt-Sender zur Verfügung stellt, sollten professionelle Journalisten eine steile Stirnfalte bekommen. Sie sollten nicht weichgespült von der „Blogger-Kultur“ schwärmen, die die Demokratisierung der Presse realisiere.
Im Internet tummeln sich unzählige Spontis als Verkünder letztgültiger Wahrheiten, oft unter der Burka phantasievoller Decknamen. Heckenschützen können auf die anlegen, die ihr Gesicht zeigen. Zunehmend sind auch wahrheitsverliebte Journalisten Opfer von Häme und Drohung. In Shitstorms erlauben sich viele Grobianismen, die einen angestellten Journalisten nicht erlaubt würden. Man sollte zögern, ihnen Sonderrechte wie Quellenschutz oder Zeugnisverweigerung zuzugestehen.
Wenn Profis allerdings der Blogger-Szene Themenfelder überlassen, für die ihnen selbst Mut oder Eifer fehlen, brauchen sie sich nicht zu wundern, wenn der Komödienstadl das Staatstheater besetzt.
Wir brauchen Journalisten, die uns, aber auch sich selbst, sehr ernst nehmen. Wir brauchen keine Windbeutel, die sich als „Herren der Stürme“ gebärden.
In französischen Fabelbüchern liest man die Geschichte von „Chantecler“. So lautet dort der Name des Hahns. Jeden Morgen bildet er sich ein, erst durch sein Krähen gehe die Sonne auf. Entsprechend selbstbewusst stolziert er im Hühnerhof, und die Hennen, die es besser wissen, lassen ihm seinen Spleen. Eines Tages wird ihnen sein protziges Getue jedoch zu bunt. Sie mischen ihm ein Schlafmittel unter die Körner. – Als er am nächsten Morgen erwacht, steht die Sonne schon hoch am Himmel. Chantecler ist zutiefst erschüttert. Er erlebt die totale Identitätskrise, und aller Glanz fällt von ihm ab. – „Hochmut kommt vor dem Fall!“ sagen die Hühner und picken ungerührt weiter.
Wie wäre es mit einem jährlichen Bundespressetag – meinetwegen vor dem Bundespresseball -, wo sich Wissenschaft, gesellschaftliche Gruppen, Politik und Presse die Meinung sagen? Sie können einen Dialog führen, der die Voraussetzungen schafft, den Gesellschaftsvertrag im Kapitel Medien/Presse fortzuschreiben. Die Zeit ist reif.