Carlo Sprenger „Zivilisierte Verachtung“ – Rezension, 30. April 2015
Carlo Sprenger: „Zivilisierte Verachtung – Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit“ – edition suhrkamp
Kampf den falschen Gedanken!
Ein schmales Buch, aber ein starkes Stück. Man nennt das eine „Schrift“, ein „Traktat“ oder – vornehmer einen „Essay“. Carlo Strengers Aufruf zur „Zivilisier-ten Verachtung“ ist aber kein „Versuch“. Es denkt nicht auf Probe. Es sammelt Symptome, stellt eine Diagnose und folgert daraus eine entschiedene Therapie. In einer Periode brennender Probleme, aber öffentlicher Argumentationsarmut rührt der Autor die Trommel, mit zugespitzten Thesen, überprüfbaren Gründen, Eloquenz und einem Vibrato von Zorn. Das ist wie Schocklüftung und tut gut. Wie sagte schon Papst Gregor der Große im 7. Jahrhundert: „Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht.“
Angesichts der Selbstentwertung westlicher Großmächte durch Kapitalverbre-chen wie Kolonialismus und Weltkriege verfielen gerade Linke einem Kurz-schluss: Zwischen postmodernen Gesellschaften, Kulturen, Religionen und Traditionen sei als „politisch korrekt“ alles und jedes gleichgültig als gleich gültig und -wertig zu betrachten. Hinter dem Imperialismus Europas lauerte Weltbeglückung durch Kanonenboote. Der Zusammenbruch dieses Wertekanons schien dazu zu berechtigen, Prinzipien über Bord zu werfen, auch die guten. Man nannte das „politische Korrektheit“. Sie wurde zur neuen Ideologie. Sie würde dafür sorgen, dass sich friedlicher Ausgleich überall durchsetzt.
Pustekuchen. Statt paradiesischer Zustände öffneten sich die Pforten der Hölle, auf dem Balkan, dann in Afrika und der arabischen Welt. Als Antwort auf Nine-Eleven bescherten schlichte Hirnstrukturen der Welt drei neue Kriege. Nun regieren Bootsflüchtlinge, Syrien und IS-Terror die Albträume des Westens. Dessen falsch verstandene Toleranz wurde und wird von den Einheizern des Terrors als Kapitulationsurkunde gern entgegengenommen. Wehe aber dem Karikaturisten einer westlichen Provinzzeitung, der denen Intoleranz vorwirft. Ihn trifft mordbereiter Volkszorn. So wie Neonazis Asylheime anzünden und Jagd auf Ausländer machen, um so als „anständige“ Deutsche das christliche Abendland zu verteidigen, so meinen Selbstmordattentäter, man müsse die Größe und Barmherzigkeit Allahs dadurch nachweisen, dass man auf dem Wochenmarkt ahnungslose Menschen, Frauen, Kinder und Greise zerfetzt.
Auch im Landesinneren diagnostiziert der Autor eine Verwirrung der Begriffe. Die Pose des Relativismus führt zur Athrophierung des Denkens. Auch das Hirn ist ein Muskel, der durch Nichtgebrauch verödet. Aus der Vermeidung auszusprechen, was ist, wurde wuchernde Verunsicherung. Das schuf ein Vakuum, in das rechtsextreme Bewegungen ihre dumpfen „Mir-san-mir“-Parolen strömen lassen.
Medienmenschen, die nicht sagen oder schreiben, was Sache ist, sondern verquasen, drüber hinreden, schönreden oder danebenliegen, befeuern den Ruf „Lügenpresse“.
Ein Traktat muss nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Strenger bleibt streng, auch mit sich selbst. Er unbequemt sich zur Differenzierung, die den Intellektuellen schmückt. Wohltuend stellt er klar, dass die Aufklärer mitnichten Toleranz als Placebo für falsches Denken forderten, sondern für Denker. Jeder darf sagen, was er will, aber dann blühen ihm scharfe Gegenthesen und beweiszugängliche Fakten. Jeder darf behaupten, der Mond sei blau, aber wehe ihm, wenn er zur Waffe greift, seinen Spleen durchzusetzen. Dann soll er sich ein blaues Auge holen.
Hier lauert eine Falle. Gewiss: Wer das sachlich-analytische Denken und die politischen Errungenschaften der europäischen Aufklärung nur schüchtern und heimlich vorträgt, begräbt die Hoffnung der geschundenen Welt auf Modernität. Wer aber als stämmiger Westpatriot meint, Menschenrechte und Toleranz seien ein exportfähiges europäisches Patent und dabei Andersartigkeiten übersieht, spielt Autokraten in die Hände. Die predigen ihren Völkern, die Bürgerrechte und –freiheiten seien nichts als ein eurozentrisches Räppelchen. Mein Vorschlag: Man verlange Auskunft über die Frage, welches Menschenrecht wem warum nicht zustehe. Vor allem frage man die Opfer und nicht die Henker.
Carlo Strenger empfiehlt „zivilisierte Verachtung“ als Prinzip. Sie heuchelt nicht Respekt, wo nichts zu respektieren ist. Sie akzeptiert kein irrationales und unmenschliches Verhalten, nur weil es eine andere Kultur oder Religion vorschreibt. Ohne zur Gewalt oder zur Erniedrigung anderer aufzurufen, verweigert sie sich der Unterwerfung, auch nicht um des lieben Friedens willen. Das ist eine Attacke auf Konfliktleugner, nicht auf Versöhner.
Die haben sich auch gegen Vorurteile zu immunisieren. Zivilisierte Verachtung traut z. B. dem Islam zu, sich modernisieren und demokratisieren zu können. Sie reicht den liberalen Traditionen und Kräften in anderen Kulturen und Religionen die Hand und ermutigt sie. Längst gibt es nämlich eine Internationale des freiheitlichen Denkens. Sie verläuft nicht zwischen den Lagern, sondern quer hindurch.
Hier beginnt intellektuelle Utopie, nicht als Wolkenkuckucksheim, sondern als kategorischer Zweifel am Undenkbaren. – Schon deshalb: Ein empfehlenswertes Buch. Eine Lockerungsübung für eigenes Denken und dann vielleicht noch ganz andere Gedanken.