„Was ist ein Skandal“ – Interview WamS, 12. Dezember 2012

Welt am Sonntag: Herr Hombach, jüngst ernannte Sie die Uni Bonn auf Vorschlag der Philosophischen Fakultät zum Professor. Beantworten Sie uns doch die urakademische Frage: was ist ein Skandal?

Bodo Hombach: Gerne unakademisch. Der Skandal ist eine Rute, die bösen Knaben unserer Gesellschaft – auch aus Politik und Wirtschaft – Nachhilfe in Anstand und Ehrbarkeit vermittelt. Aber wir lernten: Knecht Ruprecht ist durchaus willkürlich.

Und etwas akademischer?

Wenn es am Gewissen hapert, dann diszipliniert Macht und Mächtige nichts besser als die Sorge, dass Fragwürdiges herauskommt. Kant fragte noch: „Was ist, wenn‘s alle tun?“ Der kategorische Imperativ der Mediengesellschaft lautet: „Was ist, wenn es rauskommt?“ Die Angst vor dem Bekanntwerden eigener Fehler ist erzieherisch wertvoll. Enthüllungsfähige Medien sind die wirksamste Machtkontrolle.

Es gibt aber Erziehungsresistente.

Nicht zu knapp. Wer aber heute noch glaubt, Korruption, Steuerhinterziehung und Maggeleien blieben sein Geheimnis, kann dem Unterricht nicht folgen. Er hat nicht nur ein moralisches, er hat ein intellektuelles Problem.

Am Ende kommt immer alles raus?

Fast immer, fast alles.

Wie entstehen Skandale?

Wer Feuer machen will, braucht einen Zündfunken, Brennmaterial und Sauerstoff. Der Skandal stellt alles bereit. Irgendwer macht einen Fehler, der Amt und Ansehen beschädigt. Es folgt ein Mix aus Enthüllungen, Jagdfieber und ungeschickter Gegenwehr.

Welche Reaktion wäre geschickt?

Die ganze Geschichte muss erzählt werden. Es findet sich jemand, den der andere Blickwinkel, das evtl. nachvollziehbare Motiv interessiert. Wer nur zugibt, was die Presse schon weiß, steht dauernd im kurzen Hemd da. Wer unschuldig gejagt wird, nehme einen starken Anwalt. Wer aber Schuld auf sich geladen hat, zeige tätige Reue. Das findet Respekt.

Warum fällt das vielen so schwer? 

Das hat oft mit der Persönlichkeit zu tun. Der eine beweist im Skandal Charakter, der andere Charakterchen. Vielleicht ist das der eigentliche Skandal: ein Mächtiger entlarvt sich als jemand, der sich in schwieriger Situation das Heft aus der Hand nehmen lässt oder nicht das Format hat, Fehler zu bekennen.

Denken Sie an Ihre Parteifreunde Hannelore Kraft oder Ralf Jäger?

(seufzt) Nee. Ich werde zunehmend altersmilde und gutgläubiger. Übrigens haben Politiker eine dünnere Haut als man meint. Sie hungern nach Akzeptanz und Beifall. Es ist unangenehm, Zielscheibe einer beißbereiten Öffentlichkeit zu sein.

Wie Sie aus eigener Erfahrung wissen. 1998 wurden Vorwürfe laut, der Veba-Konzern habe Ihnen für Ihr Eigenheim einen sechsstelligen Preisnachlass eingeräumt. Das soll Ihren Rücktritt als Kanzleramtsminister Gerhard Schröders ausgelöst haben.

Ja. Die Vorwürfe wurden im innerparteilichen Machtkampf erfunden und lanciert. Das Juristische führte 2007 bis zum BGH. Kein Vorwurf hatte Bestand. Aber Abstürze gehören zum Leben. Schwache können daran scheitern, Starke werden stärker. Denken Sie an Adenauer, Wehner oder Strauß…

…oder Ralf Jäger?…

…an wen ich denke, weiß nur ich. Vielleicht die NSA. Könner wie Adenauer, Wehner oder Strauss holten sich durch ihre Skandale jedenfalls neuen Schwung und wurden heimlich bewundert – bis der Daumen des Publikums endgültig nach unten ging.

Sie wollten noch die Entstehungsgeschichte des Skandals abschließen.

Richtig. Nach ungeschickter Gegenwehr des Angegriffenen nimmt der politische Gegner Witterung auf. Interessengruppen stellen ihr Süppchen dazu. Die Sensationsgier des Publikums ist nach oben unbegrenzt. Medien pusten hinein. Sie geben sich als Gralshüter öffentlicher Moral, schielen aber heftig auf Einschaltquote, Klickzahl und Auflage. In Online-Medien sind die Sitten besonders rau und fast gesetzlos. Aber zum „Storm“ wird der „Shit“ erst, wenn klassische Medien ihn aufgreifen.

Womit wir beim Die-Medien-sind-schuld-Lamento wären? 

Das liegt mir fern, aber es ist die spezifische Versuchung einiger Medien, durch Übertreibung und Dramatisierung, durch die Konstruktion von Scheinskandalen aufzufallen.

Wer dies zu sehr fürchtet, verschläft womöglich den echten Skandal.

Das wäre schlimm. Die Alternative zur skandalhungrigen Öffentlichkeit wäre das Wegschauen, Kuschen, Unter-den-Teppich-Kehren. In der Diktatur gibt es keine Skandale. Demokratie ist dadurch definiert, dass die Objekte der Macht über die Subjekte der Macht zu Gericht sitzen – in der Wahlkabine, am Stammtisch, am Gartenzaun und in der Heute-Show. Es sollte allerdings in Formen geschehen, die Persönlichkeitsrechte respektieren. Hetzjagd stößt ab. Es gibt einen Unterschied zwischen Aufklärung und effekthaschendem Skandalieren.

Ein Beispiel?

Die Berichterstattung über Altbundespräsident Wulff. Da jagten Journalisten sogar einem Bobbycar hinterher, das er nicht bezahlt habe. Das kleinste Fehlverhalten war willkommen, um eine Familie zur Strecke zu bringen. Ich empfand das als öffentliche Hinrichtung mit einem Hauch von griechischer Tragödie: relativ geringe Schuld, aber Übermaß an Strafe. Gleichwohl sind Medien, die enthüllen, was Mächtige nicht enthüllt sehen wollen, konstitutiv für unsere Demokratie. Auch wenn es gelegentlich Kollateralschäden gibt. Wer aber jeden Unsinn skandalisiert und sich anschließend noch peinlich korrigieren muss, verspielt seine Autorität als Wächter, wenn es darauf ankommt.

Gibt es neben den Medienschaffenden nicht auch Politiker, die Scheinskandale inszenieren?

(schmunzelt). Unter uns: Ich habe skandaliert. Ein Wahlkampfmanager wird nicht morgens wach und fragt sich: „Wie kann ich heute die reine Wahrheit an die Journalisten bringen?“. Ich wurde skandaliert. Weil ich beleidigt und verblüfft war, habe ich zunächst nicht professionell reagiert. Nach 10 Jahren als Verlagsgeschäftsführer forsche ich heute über Skandale.

Sie kokettieren. In etlichen Wahlkämpfen waren Sie der Spin Doctor.

Sie übertreiben. Aber ich habe – auch aus Wunden und Narben – gelernt: Diese Methode des Parteienkampfes ist ein Krankheitssymptom der politischen Kultur. Es kann sie auf Dauer zerrütten. Die USA führen uns vor, wie sich ein großes Land mit weltwichtigen Aufgaben im Innern polarisieren, zerlegen und lähmen kann. Ich hoffe, dass wir lernen, mit dieser Fehlentwicklung umzugehen. Zuviel Fettgedrucktes schädigt bekanntlich Stoffwechsel und Kreislauf.

Es gibt einen weiteren Akteur, der Skandalisierung begünstigt: den skandalverliebten Teil des Volkes.

In der Tat: Der des Skandals Beschuldigte wird unterbewusst von vielen Zeitgenossen durchaus geschätzt – als kollektive Projektionsfläche. Das war zu allen Zeiten seine Rolle. Man zeigt mit dem Finger auf den Busch, hinter dem man selbst schon gesessen hat oder gern sitzen würde.

Genießen wir die gekonnte Skandalinszenierung?

Oh ja, sie hat alle Elemente des Theaters als moralische Anstalt, wie sie Schiller vorschwebte. Da stürzt einer vom hohen Ross. Da entlarvt sich ein Heuchler. Da verstößt einer gegen die Konventionen. Es gibt Höhe- und Wendepunkte, und am Ende eine Katastrophe. Jemand sagte einmal: Über jeder Bühne sollte stehen: „Ach, wenn wir doch groß wären!“ So fühlen wir uns und zahlen dafür. Wir klatschen Beifall und gehen innerlich geläutert nach Hause.

Und um Erkenntnis bereichert?

Hoffentlich. Der Skandal macht ja oft ein Dilemma sichtbar, das gewohnte Maßstäbe durchbricht. Er bewegt sich häufig nicht eindeutig jenseits des Erlaubten, sondern in den unscharfen Zwischenräumen von Gesetz, Tradition und Moral. Das bietet eine Chance. Der Skandal wird zum Prüfstein und Motor gesellschaftlichen Wandels. Die öffentliche Debatte bringt uns auf neue Ideen und kreiert zeitgemäßere Spielregeln.

Bitte ein Beispiel aus NRW.

Na gut: Eine Ministerpräsidentin wird nicht noch einmal erzählen, dass sie eine Woche lang nicht erreichbar war. Und beim humanen Umgang mit Flüchtlingen wird NRW künftig hoffentlich Vorreiter sein. Was ja viel wichtiger wäre als ein rollender Ministerkopf.

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