Rede: Soziologenkongress „Ruhrgebiet im Wandel“ – Ruhr-Universität Bochum, 4. Oktober 2012
Ruhr-Universität Bochum, 4. Oktober 2012
Wir reden über den Wandel im Ruhrgebiet. Wir reden über die Zukunft. Das ist so eine Sache, denn wir wissen heute noch nicht, was wir morgen wissen werden (Karl Popper).
Eine junge Frau erzählte ihrer Freundin begeistert, sie sei dem Mann ihrer Träume begegnet. Der könne sogar in die Zukunft blicken. „Und wie ist er sonst?“ – „Ich weiß es nicht. Zwei Wochen, bevor er mich kennen lernen konnte, hat er mich verlassen.“
„Viel erreicht, wenig gewonnen“, – so heißt der Titel des jüngst erschienenen Buches der Professoren Heinze, Bogumil, Lehner und Strohmeier von der Ruhr-Universität Bochum. Es verzichtet auf nostalgische Seufzer und Sprühpflaster. Es ist klar, genau und hilfreich.– Ich lese den Titel aber eine Nuance anders: „Viel erreicht, – noch viel zu gewinnen.“
Die Diagnose zeigt: Das Ruhrgebiet hat wunde Stellen. Die sind erkannt und müssen behandelt werden.
• Soziale Gruppen entmischen sich zu Parallelwelten, die sich in ihren Stadttei-len verschanzen.
• Die A 40 ist der Sozialäquator des Reviers. Sie teilt den problematischen Norden vom besser gestellten Süden.
• Wir beklagen schwindende Teilhabe durch Arbeitslosigkeit und Bildungsschwäche.
• Überlastete und überschuldete Kommunen haben nur wenig Spielraum für heilsame Initiativen.
• In den mittleren Schichten machen sich Abstiegsängste breit.
• Junge Fachkräfte, die an unseren Schulen und Hochschulen ausgebildet wurden, wandern ab, weil sie sich einen attraktiveren Lebensraum wünschen.
Die Ursachen sind vielfältig wie die Probleme selbst. Es braucht einen realistischen Blick – mit Weitwinkeloptik und Tiefenschärfe.
• Bund und Land bürden den Kommunen immer größere Lasten auf.
• Die Goldgräberzeit ist vorbei, aber sie hat Narben hinterlassen. Die Folgekosten müssen in alle Ewigkeit bezahlt werden.
• Eine zerklüftete Gemeinde-Struktur sorgt für Reibungsverluste und lokalpatrio-tische Trägheiten.
• Industrielle Großprojekte werden von der Politik nicht mehr durchgesetzt.
• Vertrauensschwund und Unsicherheit durch die Finanz- und Schuldenkrise bremsen wichtige Entscheidungen und behindern die „Corporate Identity“ der Region. Gefährlicher Trend: Wer es sich leisten kann, konzentriert sich auf sein privates Glück. Das ist Autismus mit Lähmungserscheinungen. Wir wollen nicht über unsere Verhältnisse leben, aber auch nicht unter unserem Niveau.
Strukturelle Verbesserungen sind allerdings nicht durch einzelne Projekte zu erreichen. Nötig ist ein dichtes Geflecht aus vielen Initiativen in einem Gesamtkonzept. Regionale Planung muss räumlich und dynamisch auf die jeweiligen Bedürfnisse abgestimmt sein. Die Parameter heißen Profilbildung, Arbeitsteilung und Zusammenarbeit. Es geht um Wertschöpfung, Innovation und Kommunikation in einem Parallelogramm aus Produktivität, Mobilität, Urbanität und Nachhaltigkeit.
Ich will ein paar Thesen ins Gespräch einbringen:
• Das schönste Design ist unnütz, wenn das Gerät nicht funktioniert. Das Ruhrgebiet war und ist vor allem ein Produktionsstandort. Die Werte und Chancen, die man differenzieren und verteilen will, müssen erst einmal entstehen.
• Nicht nur die „global players“ treiben die Entwicklung voran. Von größerer Bedeutung ist die Innovationskraft mittelständischer Betriebe.
• Wir reden von „Hardware“ wie Straßen, Häusern, Fabriken. Wir reden von „Software“ wie Verwaltung, Organisation, Vernetzung. Wir sollten auch mit den Leuten reden. Die sind nicht „Objekt“ oder „Werkstück“, das man bearbeiten muss, damit es in die neuen Zeiten passt. Sie sind „Subjekt“ und Ziel aller Bemühungen. Sie sind die entscheidende Ressource für alles. Wer an ihnen vorbeiplant, vergeudet Geld, Zeit und Mühe.
• Die alten „Glückauf“-Mythen des Reviers tragen nicht mehr. Es gibt aber eine lebendige Tradition mit Erfahrungswissen und Reformbereitschaft. Auf dieser Basis sind Innovationen und mutige Schritte möglich.
• Das Ruhrgebiet kann und darf keine Subventionsenklave mehr sein. Das Neue entsteht nicht aus transfer-finanzierter Vergangenheit. Es muss sich an den globalen Leitmotiven der kommenden 50 Jahre orientieren: Energie – Werkstoffe – Logistik.
• Wir brauchen Kooperation, wo immer sie sinnvoll und nützlich ist. Nicht weil wir uns alle lieben, sondern als effiziente Verwirklichung gemeinsamer Interessen. Konkurrenzverluste kann sich niemand mehr leisten. Die globalen und europäischen Herausforderungen bedürfen gut vernetzter Teilsysteme.
• Die Region ist größer als ihr bisheriges Korsett aus Emscher und Ruhr. Sie ist vielfach verzahnt mit den Nachbarn des südlichen Münster- und des westlichen Sauerlands. Auch die Rheinschiene ist in alle Überlegungen partnerschaftlich einzubeziehen.
• Ein Gesamtkonzept ist hilfreich. Die Teilziele müssen jedoch konkret und erreichbar sein. Entscheidungsträger, die sich in Amt und Würde gefährdet füh-len, halten zwar schwungvolle Sonntagsreden, stehen aber heimlich auf der Bremse.
• Ein echter Wandel gelingt nur durch den Wechsel der Perspektive. Die entscheidenden Blockaden sind nicht irgendwo da draußen, sondern in den Köpfen.
Trotz aller offenen Fragen: Das Ruhrgebiet braucht keinen Panikraum. Es erlebt etwas ganz Normales, nämlich eine Phase kontinuierlichen Wandels. Das geschieht zur Zeit überall auf dem Globus. Warum sollte es hier anders sein?
Am Ende steht die Frage: Kann eine Region sich selber helfen? – Die Antwort ist: Sie muss. Weit und breit ist niemand, der das für sie erledigt, denn jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Probleme löst der am ehesten, dem sie unter den Nägeln brennen. Harald Schmidt sagte einmal mit drohendem Unterton: „Hilf dir selbst, sonst hilft dir Gott!“