Buchbesprechung: „Viel erreicht, wenig gewonnen. Ein realistischer Blick auf das Ruhrgebiet“ – 13. Februar 2012

Im Folgenden können Sie die Rezension des Moderators des Initiativkreises Ruhr nachlesen:

Ein Buch zur rechten Zeit am rechten Ort.

Vier Professoren, die Herren Heinze, Bogumil, Lehner und Strohmeier von der Ruhr-Universität Bochum, haben ein Buch geschrieben. Das ist erst einmal nicht der Stoff, aus dem Schlagzeilen sind. – Aber dieses Buch hat welche in sich.

Der Titel schlägt Alarm: „Viel erreicht – wenig gewonnen. Ein realistischer Blick auf das Ruhrgebiet.“ Erschienen im Klartext Verlag, und es macht diesem Namen damit Ehre.

In späteren Zeiten werden es Archäologen benutzen, um sich ein Bild vom Ausgrabungsgelände zwischen Ruhr und Emscher zu machen. Dabei geht es nicht um Grundmauern und Brandspuren, sondern um reale Lebensverhältnisse der Bewohner.

Was macht neugierig auf dieses Buch?

1.  Es verzichtet auf blumige Präambeln und verbalen Stuck. Ohne Umschweife kommt es zur Sache. Wer sich einen Joint erwartet, der ihn in die alten Mythen des Reviers entführt, der darf sich auf eine Enttäuschung freuen.

2.  Es redet nicht viel von Hardware wie Straßen, Häusern, Fabriken, sondern von Menschen und Leuten.

Diese werden nicht als „Objekt“, nicht als „Werkstück“ angesehen, das man bearbeiten müsste, damit es in die neuen Zeiten passt. Sie sind „Subjekt“, die entscheidende Ressource für alles. Auch für Projekte der Strukturentwicklung. Wer an ihnen vorbeiplant, vergeudet Mühe und Energie. Er verwechselt ausgedachte Ergebnisse mit tatsächlichen Voraussetzungen. Das geht immer schief. Das machen die Autoren klar. Das Buch ist kein Nachschlagewerk für Neujahrsempfänge und Sonntagsreden.

Es diagnostiziert

  • die Entmischung der sozialen Gruppen zu Parallelwelten, die sich in ihren Stadtteilen verschanzen,
  • die A 40 als Sozialäquator des Reviers,
  • schwindende Teilhabe durch Arbeitslosigkeit und Bildungsschwäche,
  • Abstiegsängste auch der mittleren Schichten.

Aber das Buch hängt nicht die Fieberkurve ans Bett des Patienten und macht sich davon. Es entwickelt passende Therapievorschläge:

  • Profilbildung, Arbeitsteilung und Zusammenarbeit.
  • Regionale Verwaltung nicht als Prokrustesbett, wo man den Langen die Füße abhackt und den Kurzen die Beine streckt, sondern räumlich und dynamisch abgestimmt auf die jeweiligen Bedürfnisse. Weg von den Konstanten, hin zu den Variablen.

Die große Frage ist: Kann eine Region sich selber helfen? Die Antwort ist: Sie muss.

Weit und breit ist niemand, der das für sie erledigen könnte, denn alle sind mit sich selbst beschäftigt. Hinzu kommt eine erkennbare Fehlleitung angeblich solidarischer Förderung in unserer Republik. Ganz ehrlich: So war’s eigentlich immer. Die Leute hier wissen das seit 150 Jahren: Probleme löst der am ehesten, dem sie unter den Nägeln brennen. Was die anderen nicht einmal begreifen, schafft man am besten allein. Beim Lesen des Buches hält man zuweilen inne und schaut aus dem Fenster. Mir wurde wieder klar: Richtiges Erinnern ist manchmal die beste Vision für die Zukunft. Hier bei uns geriet die soziale Komponente der Marktwirtschaft nie in Vergessenheit. Hier hatte sie Tradition und fand Asyl, als ihr alle Welt das Sterbelied sang und sich dabei die aktuellen Börsenwerte durchgeben ließ. Heute ist sie modern wie nie zuvor.

Der „Rheinische Kapitalismus“ sollte „Ruhrkapitalismus“ heißen. Er ist nicht Auslauf-, sondern Zukunftsmodell. Und dazu passt die zentrale These des Buches: Konsens tut not. Nicht als Fassade und nicht als Einheitsbrei. Es geht um effiziente Verwirklichung, und das heißt vor allem: Beseitigung der Konsensblockaden. Konsens entsteht nicht durch bedrucktes Papier, sondern durch Kooperation, wo immer sie sinnvoll und nützlich ist. Die Wirtschaft kapiert das als erste. Schon immer bahnte sie „Seidenstraßen“. Sie hat einen Widerwillen gegen Grenzen und Schlagbäume. Wissenschaft und Kultur machten und machen dabei mit. Die Politik trottete hinterdrein.

Das Projekt „Kooperationswettbewerb“ der RAG und des Initiativkreises Ruhr ist angelaufen. Es macht Zusammenarbeit nicht zur sauren Pflicht, sondern zum lustbetonten Lernziel und Wertobjekt. Der Wettbewerb heißt nicht mehr: Wer hat den höchsten Kirchturm? Sondern: Wie kann man ihn gemeinsam abtragen? Der verbale „Ruhrstadt“-Schaum bringt es nicht. Er gehört in Sonntagsreden, und dort soll er bleiben. Er verhindert das eigentliche Ziel, denn er hängt es so hoch, dass man bequem darunter durchschlüpfen kann.

Zu viele fühlen sich gefährdet und steigen auf die Bremse. Besser ist es: viele Realitäten schaffen, wo endlich zusammenwächst, was schon längst zusammengehört. Man mag am Ende ein Etikett draufkleben, egal was draufsteht.

Brauchen wir Helden? Das waren früher die Drachentöter und Prinzessinnenbefreier. Die Drachen liegen heute in der Wallstreet und hüten ihre virtuellen Schätze. Moderne Prinzessinnen haben ein Karate-Diplom und brauchen keine Ritter mehr. Helden von heute, das sind diejenigen, die das tun, was sie können. Die anderen nämlich tun es nicht.

Harald Schmidt sagte einmal mit drohendem Unterton: „Hilf dir selbst, sonst hilft dir Gott!“– Die Region hat durchaus Selbstbewusstsein. Wer ihren Puls fühlt und ihr in die Augen schaut, der weiß: Die Leute leben hier gerne. Sie wollen ihre Probleme hier und nirgendwo anders. Hier trauen sie sich auch die Lösungen zu. Sie mögen den herben Pragmatismus ihrer eigenen Umgangsformen. Der Ruhrgebietskabarettist Frank Goosen fasst seine Liebeserklärung ans Revier in dem Satz zusammen: „Woanders ist auch scheiße.“ – Keine Antithese zum hier besprochenen Buch.

Die Menschen hier wollen nicht über ihre Verhältnisse leben, aber auch nicht unter ihrem Niveau.

Ich begrüße dieses Buch und danke den Autoren. Es fährt keinen Schmusekurs und es rennt nicht in den Panikraum. Es ist konstruktiv, kenntnisreich, „just in time“, klar geschrieben und somit gut lesbar. Es wird was bewirken, das ist mein größtes Kompliment an die Autoren. Was will man mehr?