„Reviergeschichten – Fragen eines lesenden Schauspielers“ Dietmar Bär trifft Lisa Roy – KAUE Gelsenkirchen, 8. Oktober 2025
Reviergeschichten
Fragen eines lesenden Schauspielers Dietmar Bär trifft Lisa Roy
in der KAUE Gelsenkirchen
Grußwort
Prof. Bodo Hombach
8. Oktober 2025
Verehrte, liebe Frau Roy
Verehrter, lieber Herr Bär,
verehrte Gäste der lit.RUHR und der Brost-Stiftung,
dass ein Ruhri wie Dietmar Bär im Tatort Köln Kriminalfälle löst, erfüllt strenggenommen schon den Tatbestand der kulturellen Aneignung. Ein Berliner Schauspieler mimte ja auch bei uns den nicht gerade aggressionsgehemmten Schimanski. Ein Schenk wertet den Eindruck von Köln auf. Ballauf und er wirken wie ein altes Ehepaar. Er bringt den Witz und der andere hat den Blick, „Muss das jetzt wieder sein?“. Dietmar Bärs Humor und die Symbiose von Bodenständigkeit und Tiefe strahlen Glaubwürdigkeit aus. Einer, der eine solche Theaterkarriere hingelegt hat, ist gegen provinzielles Aufrechnen gefeit. Aber wir im Ruhrgebiet dürfen stolz auf ihn sein.
In meinem Kalender steht das heutige Ereignismit drei Ausrufezeichen. Das erste
Ausrufezeichen steht für „Wir starten ein für die Brost-Stiftung neues Format.
„Reviergeschichten – Fragen eines lesenden Schauspielers“. Der leidenschaftlich lesende Dietmar Bär trifft Autoren und Autorinnen. Das sind Exemplare jener merkwürdigen Spezies von „Wortklaubern“ und „Textverarbeitern“, die am Anfang auf einen leeren Bildschirm starren oder auf ein weißes Blatt Papier. Am Ende wird daraus ein Hochseilakt des Geistes und der Sinne. Es ist eine Expedition ins Innerste. Es entsteht eine Mit- und Gegenwelt lebendiger Figuren, die – wenn’s hochkommt – unser Leben ändert. Das besiedelt eine Brache unseres Alltags. Es kann zur Droge werden. Das zweite Ausrufezeichen steht für „Der lesende Schauspieler begegnet Menschen, deren Werke eng mit der Region verbunden sind.
Heute ist das Lisa Roy mit ihrem Roman-Debüt „Keine gute Geschichte“. Dort begegnen wir einer Frau, die nach einem Zusammenbruch an den Ort ihrer Kindheit, den Essener Norden, zurückkehrt und sich mit einer schmerzhaften Familiengeschichte konfrontiert sieht. Die Region der Ruhr ist weit mehr als ein Konglomerat aus geografischen, sozialen, klimatischen Eigenschaften. Sie ist auch das offene und geheime Buch von Träumen, Hoffnungen und Qualen. Sie zeigt die Runzeln ihrer Landschaft. Narben einer wilden Geschichte sieht man noch. Auch die „Fingerabdrücke“ ihres Geistes entdecken sich ab- und an. Jede Generation, die hier lebte, arbeitete, Feste feierte, hinterließ etwas von ihrer Gegenwart. Das Beste davon bleibt. Es bleibt gegenwärtig für alle Zeit. Es formuliert keine endgültige Antwort, sondern besser eine richtige Frage. Sinnsuche ist zeitloses Phänomen. In manchen Landschaften verdichtet sich das auf eine Weise, die mit allen Sinnen spürbar ist. Gegensätze wie Geist und Materie, Körper und Seele scheinen dann aufgehoben. Das Unendliche ist an „Ort und Stelle“. Wegen des dritten Ausrufezeichens sind wir hier. Es geht ums Lesen Tagebuch von Elias Canetti fand ich einen inspirierenden Gedanken. Der beschreibt genau, warum und zu welchem Zweck wir diese wunderliche Kulturtechnik betreiben.
„Wenn einer lange nicht gelesen hat, erweitern sich die Löcher im Sieb seines Geistes, und alles fällt durch, und alles bis auf das Gröbste ist, als wäre es nicht da. Es ist das Gelesene bei ihm, das zum Auffangen des Erlebten dient, und ohne Gelesenes hat er nichts erlebt. Literatur behauptet sich gegen die Welt der Propaganda, der Sprechchöre und Parolen. Sie behauptet sich auch gegen das Schweigen all derer, denen der Taumelflug unserer Gegenwart die Sprache verschlägt. Das ist lebenserhaltende Maßnahme gegen den Absturz menschlicher Zivilisation in die Barbarei. Es ist Vertrauensbildung für humane Lösungswege.
Manchmal stelle ich mir vor, nachts, wenn die Bibliotheken mit sich allein sind, beginnt dort ein wildes Leben. Bücher turnen über die Regale, besuchen einander, flüstern sich Geheimnisse zu. Sie zeigen sich gegenseitig „Stellen“, die vielleicht noch niemand entdeckt hat. Dann geht es rund. Das Ganze steigert sich zu einem orgiastischen Fest des Geistes und der Fantasie. Am Morgen öffnet der Bibliothekar die Tür, und husch, steht alles wieder an seinem Platz, als ob nichts gewesen wäre. Bald kommen die Leser. Mancher fühlt sich plötzlich von einem Buch beobachtet und weiß nicht wie und warum. Vielleicht ist es der Beginn einer langen Freundschaft. Lesen im Zeitalter der pandemischen Bilderflut. Keine nervigen Unterbrechungen durch Marktschreier und Influencer. Ist das altbacken und gestrig? Ich glaube nicht.
Das neue Format, das Ihnen heute präsentiert wird, wird es abprüfen. Vielleicht sind wir die Modernen von Übermorgen. Ich danke unseren Protagonisten. Ich danke allen Mitarbeitern, die das gewollt und vorbereitet haben. Schön, dass wir zusammen sind, noch schöner, wenn wir zusammenbleiben. Danke. Ich übergebe das Wort und bin ganz Ohr.