„Medien in der Selbstfindung“ mit Tom Buhrow und Dr. Tobias Korenke – Uni Bonn, 28. Juni 2023

 Medien in der Selbstfindung. Wie erhalten wir ein realistisches Bild unserer Welt?

Schwerpunkt: Öffentlich-rechtlicher Rundfunk

Gastreferenten:
Tom Buhrow

Dr. Tobias Korenke

Einführung:
Prof. Bodo Hombach

28. Juni 2023

Meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie zum letzten Teil dieses kleinen Seminars über „Medien in der Selbstfindung“. Der Titel unterstellt, dass hier jemand seine Selbstgewissheit verloren hat. Wir wollen wissen, warum, aber auch wozu. Mit einer Krise müsste man sich nicht befassen, wenn es sich nicht lohnen würde, sie zu bewältigen.

Schwerpunkt unserer Betrachtung ist der Öffentlich-rechtliche Rundfunk. Wie schon dargestellt, entstand er aus der Schockerfahrung von Diktatur und Weltkrieg. Der Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland sollte nie wieder Propaganda-Werkzeug der Regierung und auch wirtschaftlich unabhängig sein.

Die ursprüngliche Monopolstellung des Fernsehens wurde 1984 durch die Zulassung kommerzieller Sender abgelöst. Gleichwohl hatte und behielt er durch Gebührenfinanzierung und mehrere Urteile des Bundesverfassungsgerichts eine komfortable Bestandsgarantie. Kommerzielle Sender wurden nur unter der Bedingung zugelassen, dass ARD und ZDF weiterhin funktionstüchtig existieren.

Der Programmauftrag ist also garantiert, aber auch an gesetzliche Grundlagen gebunden. Im WDR-Gesetz – wir hatten ja Gelegenheit, ihn zu besuchen – heißt es z. B.: „Der WDR veranstaltet und verbreitet seine Angebote als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung und als Sache der Allgemeinheit. (…) Der WDR hat in seinen Angeboten einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben. Die Angebote haben der Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Der WDR hat Beiträge zur Kultur und Kunst anzubieten. Das Programm soll das friedliche und gleichberechtigte Miteinander der Menschen unterschiedlicher Kulturen und Sprachen im Land fördern und diese Vielfalt in konstruktiver Form abbilden.“ Natürlich ist der Öffentlich-rechtliche Rundfunk keine Insel. Er ist vielleicht sogar in besonderem Maße der stürmischen Entwicklung der Medienlandschaft ausgesetzt. Selbstverständlich muss er sich auch der öffentlichen Kritik stellen. Die kann parteilich oder ideologisch motiviert sein, aber auch Verfehlungen von Management, Mitarbeitern oder Programm ankreide. Und immer wieder wird es Versuche geben, seine generelle Legitimation in Frage zu stellen.

Dabei ist die so genannte „Zwangsgebühr“ gegenwärtig ein vielfach vorgetragenes Argument. Das jährliche Budget von ARD und ZDF umfasst 8 Mrd. Euro. Die kommerziellen Fernsehsender finanzieren sich aus Werbeeinnahmen. An diesem Kuchen bedient sich der gebührenfinanzierte Rundfunk auch. Der Kuchen wird in der Wirtschaftskrise kleiner. Die Erträge finden sich in den Marktpreisen wieder, werden also auch von der Allgemeinheit entrichtet.

Im Dualen System hat sich inzwischen eine relativ friedliche Ko-Existenz entwickelt. Die ist durch die Refinanzierungsprobleme der Privaten Gerade gefährdet. Auch sind Konvergenzen zu beobachten. So reagieren die Öffentlich-rechtlichen etwa auf die Streaming-Dienste der Privaten, indem sie ihre linearen Programme durch Mediatheken ergänzen. Das Prinzip „On demand“ hat sich etabliert.

In der erkennbaren Zukunft der Medienangebote und -nutzung gibt es mehr Variablen als Konstanten. Sämtliche Betriebe und Mitarbeiter müssen auf die rasante Entwicklung der Digitalen Revolution reagieren. Die Allgegenwart des Internets erzeugt eine nie dagewesene globale Verfügbarkeit von Informationen. Gleichzeitig wächst eine kaum noch getarnte Desinformationsindustrie heran. Journalisten haben nicht mehr nur die klassische Aufgabe, Bekanntes und Unbekanntes zu trennen. Sie müssen künftig immer häufiger Fakten von Fakes unterscheiden. Und das ist kein Spiel. Das Oxford Internet Institute zählte 2020 weltweit 81 Länder, in denen gezielte Kampagnen, finanziert durch mächtige Auftraggeber, die Öffentlichkeit manipulierten.

Im Zeitalter der entgrenzten Kommunikation können gezielte Fehlinformationen eine Gesellschaft wirksamer steuern als Wahrheiten. Letztere sind aufwändig, schwierig zu ermitteln und komplex. Die so genannten „alternativen Fakten“, sind leicht zu produzieren und einfach zu verstehen, vor allem, wenn sie als wahr gewollt sind und sich massenhaft verbreiten. So können signifikante Mehrheiten entstehen. Das ist brandgefährlich für die Demokratie, denn es untergräbt die freie Meinungsbildung und den Wettbewerb der Ideen.

Der seriöse Journalismus wird hier zur „kritischen Infrastruktur“. Er muss der Irreführung entgegentreten, gleichzeitig aber auch die blinden Flecken der Politik durchleuchten und die realen oder gefühlten Sorgen der Menschen ernstnehmen.

Die Ausbreitung von Künstlicher Intelligenz (KI) bietet ganz neue Chancen, aber in missbräuchlichen Händen auch noch unabsehbare Gefahren.

Anders als in allen früheren Epochen definiert sich die Grenze des Möglichen nicht mehr an technischen oder organisatorischen Hindernissen, sondern an der Aufnahmefähigkeit der Konsumenten. Der kleinste Blogger hat heute eine potentielle Reichweite, von der auch große Medienhäuser früher nur träumen konnten.

Dabei ist die Technik immer nur Voraussetzung. Sowohl Anbieter als auch Nutzer entscheiden über den Content, den sie produzieren oder konsumieren. Aber – und das ist ja die Leitfrage dieses Seminars – liefern uns die Medien heute und in Zukunft ein realistisches Bild unserer Welt? Aus vielen „gegebenen Anlässen“ sei hier ein kleiner Katalog von Anfragen erlaubt:

  • Wer hat die Lufthoheit über die Inhalte? Wie weit spielen mächtige politische oder kommerzielle Interessen mit?
  • Sind Verlage und Journalisten wirklich unabhängig?
  • Werden Ereignisse sorgfältig recherchiert? Angemessen gewichtet? Ausgewogen kommentiert?
  • Wann schlägt Information in Propaganda um?
  • Sind die Persönlichkeitsrechte geschützt? Kommt es zu Vorverurteilungen, Skandalisierung, Kampagnen-Journalismus?
  • Wollen Journalisten mit Sendungen, Talk-Shows, Interviews Politik machen, anstatt diskursiv darüber zu berichten?
  • Sind professionelle Standards gewährleistet? Werden sie gepflegt, ermutigt, fortentwickelt?
  • Wo wird aus dem fairen Wettbewerb der Medien ein Verdrängungskampf mit unlauteren Mitteln?
  • Werden Sachverhalte verzerrt, zugespitzt, künstlich dramatisiert oder auch bewusst ausgeblendet?
  • Leben wir im permanenten Krisenmodus, oder schreibt man uns in einen solchen hinein?
  • Kommen auch Randgruppen zu Wort?

Einige Fragen muss sich auch das Publikum gefallen lassen:

  • Sind wir Zuschauer und Leser bereit, ein objektives Bild zu akzeptieren, das unsere Vorurteile und subjektiven Interessen durchkreuzt?
  • Klatschen wir nicht auch Beifall, wenn es möglichst krawallig und schrill zugeht?
  • Lassen wir Fünfe grade sein, um im Mainstream mitzuschwimmen?
  • Verfangen wir uns in einer Meinungsblase, wo wir nur noch uns selbst begegnen?
  • Gehen wir Demagogen, Verschwörungsphantasten und Gruppen auf den Leim, die den Staat als solchen delegitimieren und durch ein autokratisches System ersetzen wollen?
  • Sind wir vorsichtig genug mit der Preisgabe persönlicher Daten oder lassen wir uns ständig „erkennungsdienstlich behandeln“, so dass Manipulateure leichtes Spiel mit uns haben?
  • Treten wir Hass und Hetze entgegen, die den Zusammenhalt der Gesellschaft zerrütten?
  • Erliegen wir dem Suchtfaktor der attraktiven „Spielzeuge“ oder üben wir uns in freiwilliger Selbstkontrolle?

Ob die Medien ein realistisches Bild unserer Welt vermitteln, bleibt also eine Formel mit vielen Unbekannten. Wer Fernseher und Computer nicht nur als Juke-Box oder Terminal fremder Interessen, sondern (auch) als Erkenntnisinstrument nutzen will, muss eigene Medienkompetenz und Kriterien entwickeln, um selbstbestimmtes Mitglied der offenen Gesellschaft zu sein. – Das erspart es ihm, sein einziges Leben als ferngesteuerter „Masseneremit“ (Günter Anders) vor einem Bildschirm zu verbringen.

Ich schließe mit den Worten eines WDR-Mitarbeiters (Ulrich Harbecke), die er einmal seinem eigenen Sender ins Stammbuch schrieb:

„Die moderne und humane Kommunikationsgesellschaft braucht Medien, die es verstehen, sich selbstbestimmten Bürgern unentbehrlich zu machen, die ihre Mittlerrolle ernstnehmen, Gelenkstelle sind zwischen allen Räumen des öffentlichen Lebens, Drehscheibe für Ideen, Schnittpunkt für Kraftlinien, Agora, Forum, aber auch Nische und Nest, Rumpelkammer für Exkurse ins Phantastische, frech, zivil, Sendbote zwischen Ein- und Ausgeschlossenen, Dolmetscher zwischen Oben und Unten, Gestern und Morgen, Rand und Mitte, Schnittstelle zwischen Vor- und Nachdenkern. Instrument der Auseinandersetzung und des Zusammengehens, aktuell, flexibel, empfindsam und hart, mit kühler Leidenschaft und leidenschaftlicher Kühle, Katheter für sozialen Problemstau, Kompostecke für Kulturabfall, Schredderanlage für Abgelegtes, Abgenutztes, Abgestandenes, Seismograf für feinste Beben auf der nach oben offenen „Richter-Skala“ des Geistes…“

Meine Damen und Herren,
ein großartiger, kompetenter und verantwortlicher Gast ist bereit, uns aus der Praxis seiner Berufserfahrung weiterzuhelfen. Ich begrüße sehr herzlich Herrn Tom Buhrow, Intendant des Westdeutschen Rundfunks und damit den exponierten Frontmann des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Vielleicht sagt er uns, wie mainstreamig ARD und ZDF nicht werden dürfen, um nicht plötzlich entbehrlich zu sein. – Herzlich willkommen!

Der zweite wunderbare Gast Herr Dr. Tobias Korenke ist u.a. Fachmann für Kommunikation und Public Affairs. Er hat Lehraufträge an mehreren Universitäten und wirkt für die Funke-Mediengruppe.– Wir sind auch gespannt auf seinen Beitrag.

Herzlich willkommen!

Ich übergebe beiden das Wort – und mein Ohr.