„Medien in der Selbstfindung“ mit Andreas Rudas und Dr. Hans-Peter Siebenhaar – Uni Bonn, 26. April 2023

 Medien in der Selbstfindung. Wie erhalten wir ein realistisches Bild unserer Welt?

Schwerpunkt: Öffentlich-rechtlicher Rundfunk

Gastreferenten:
Andreas Rudas

Dr. Hans-Peter Siebenhaar

Einführung:
Prof. Bodo Hombach

26. April 2023

Verehrte Damen und Herren,

ich begrüße Sie zu unserem kleinen Seminar über ein großes Thema. Das sagt schon aus: Wir werden es bei weitem nicht erschöpfen. Es erzwingt die Konzentration auf das – vielleicht und hoffentlich – Wesentliche. Manches davon ist vorläufige Erkenntnis oder Annahme. Vieles ist eher These als Bilanz.

Die meisten von Ihnen hatten Gelegenheit, beim Ausflug nach Köln den Westdeutschen Rundfunk, RTL und n-tv zu besuchen. Bei einer der nächsten Veranstaltungen werden Sie auch den Intendanten des Westdeutschen Rundfunks Herrn Tom Buhrow und als Vertreter eines
privaten Senders Herrn Dr. Michael Müller von ProSiebenSat.1 erleben.

Die Methode dieses Seminars ist sehr einfach, fast schon unterkomplex:

  • Am Beginn steht ein kurzer Einstieg in den jeweiligen Teilaspekt des Themas. Er dient der Theoriebildung auf der Basis von Beobachtungen und Erkenntnissen. Gleichzeitig entstehen Kategorien und Kriterien. Sie helfen bei der Orientierung in einem soziokulturellen Feld von wachsender Unübersichtlichkeit.
  • Dann folgt der Praxis-Schock. Experten aus dem Medienbereich, in dem sie beruflich agieren oder forschen, verraten, was das Thema mit ihnen alltäglich macht und wie sie sich dazu verhalten.
  • Zuletzt ist Zeit für Fragen und Statements: Ihre Chance also, das Thema mit eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen anzureichern und zu vertiefen.
  • Schriftliche Handreichungen ergänzen Ihre Notizen.

Unsere heutigen großartigen und erfahrenen Gäste sind nicht nur Praktiker aus den verschiedenen Medienrealitäten und -ebenen, sondern haben ihre Tätigkeit auch gründlich reflektiert und beschrieben.

Ich begrüße sehr herzlich:
Andreas Rudas, Vorsitzender des Aufsichtsrats bei der Rundfunk- und Telekom Regulierungs GmbH Österreich, früher im Vorstand von RTL.
Und Dr. Hans Peter Siebenhaar, langjähriger Korrespondent des Handelsblattes für Österreich in Wien und Medienkritiker. – Beiden ein herzliches Willkommen!

In allen offenen und demokratischen Gesellschaften spielen Medien eine vitale Rolle. Sie sollen uns ein möglichst umfassendes und zutreffendes Bild der Welt vermitteln, indem sie Tatsachen ermitteln und berichten, Relevantes vom „Beifang“ unterscheiden, eine konstruktive Debattenkultur befeuern und den Mächtigen auf die Finger sehen. Dabei erwarten wir sorgfältige Recherche, geprüfte Erkenntnisse und eine professionelle Umsetzung in Wort und Bild. Sachen und Ansichtssachen müssen unterscheidbar sein. Ein Quantum Unterhaltung ist willkommen, denn Affekte wie Staunen, Neugier, Empörung beleben die Synapsen.

Eines möchte ich betonen: Das Ganze ist kein Spiel. Da wir nicht mehr unter der Dorflinde oder am „Brunnen vor dem Tore“ leben, sind wir auf Medien angewiesen, die unsere eingeschränkten Primärerfahrungen durch vermittelte Sekundärerfahrungen ergänzen. In der globalisierten Welt sind auch fernliegende Ereignisse wichtig und interessant. Kriege und andere Katastrophen sind immer innere Angelegenheit der ganzen Welt. Pandemien, Klimakrise, Wirtschaftsturbulenzen fordern uns unmittelbar heraus. Nur wenn wir uns ein begründetes Urteil bilden können, sind Transparenz und Mitwirkung möglich. Sie machen aus ferngesteuerten Untertanen freie Bürger. – Angesichts heutiger und künftiger Möglichkeiten raffinierter Desinformation und Manipulation ist Misstrauen eine Tugend.

In seiner Habilitationsschrift über „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ stellte Jürgen Habermas 1962 dar, dass Öffentlichkeit überhaupt erst entsteht, wenn Bürger auf die Straßen treten und sich mit ihren Beobachtungen, Wünschen, Hoffnungen und Ängsten gegenüber der Obrigkeit artikulieren. Im demokratischen Staat sind sie ja der eigentliche Souverän. Eine freie Presse ist daher – so Habermas – keine Veranstaltung für die Gesellschaft, sondern eine Veranstaltung der Gesellschaft. Der öffentliche Diskurs, der über die – auf Widerruf – gewählten Institutionen zur politischen Willensbildung wird, artikuliert sich nicht mehr upside-down durch „Verlautbarungen“ oder Propaganda einer allmächtigen Regierung, sondern downside-up im kritischen Gegenüber zur Staatsmacht und einflussreichen Interessengruppen.

Eine besondere Aufgabe und Verantwortung kommt hier dem Öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu. Er entstand in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg auf Anordnung und Betreiben der britischen Besatzungsmacht. Nach dem Muster der BBC (British Broadcasting Corporation) sollte der Rundfunk nie wieder Instrument staatlicher oder kommerzieller Propaganda sein. Die totalitäre Gleichschaltung der Presse unter dem Nazi-Regime und die massenhafte Verbreitung des „Volksempfängers“ hatte wesentlich dazu beigetragen, Deutschland in die tiefste Selbstentwertung seiner Geschichte zu treiben und Europa in reale und seelische Trümmer zu legen.

Künftig sollte der Rundfunk in Deutschland Ausdruck und Werkzeug der kritischen Zivilgesellschaft sein. In Bindung an die im späteren Grundgesetz ausgewiesenen Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten wurde ihm gleichermaßen Staatsferne wie kommerzielle Enthaltsamkeit verordnet. Um ihm Unabhängigkeit und Bestandsschutz zu garantieren, wurde er durch Gebühren finanziert. Eine von den Ländern organisierte Kommission ermittelt deren Höhe. Gremien, in denen die gesellschaftlichen Großgruppen Sitz und Stimme haben, wählen die Intendanten und bringen Programmkonflikte zur Sprache.

Dieses System ist nicht unumstritten. Im Gegenteil. Es gab und gibt Versuche von politischer oder kommerzieller Seite, es zu schwächen und zu beseitigen. Parteien und Regierungen empfinden meinungsorientierte Kritik an ihrer Arbeit immer als störend und unangemessen. Kommerzielle Programmanbieter, die sich über den Werbemarkt finanzieren, sehen in einem so abgesicherten System unfairen Wettbewerb. Bisher wurden jedoch alle Initiativen, die auf seine Abschaffung zielten, vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen.

Trotzdem steht der Öffentlich-rechtliche Rundfunk unter Beobachtung und seit kurzem wieder unter heftigem Beschuss. Skandale auf der Leitungsebene und politische Unwucht im Sendebetrieb lieferten dazu die Munition.

Es ging um Vetternwirtschaft, enthemmte Selbstbedienung einzelner „Granden“ und Programmbeiträge, die den rechtlichen Standards nicht entsprachen. Das ursprüngliche Konzept: 1. Information, 2. Bildung, 3. Unterhaltung verschob sich zugunsten des Massengeschmacks. Nicht nur in den ausgewiesenen Meinungsmagazinen, sondern auch bei der allgemeinen Berichterstattung drängte sich ein intentionaler Übereifer in den Vordergrund. Untugenden wie Skandalierung, Personalisierung und Kampagnenjournalismus zielten eher auf Einschaltquote als Aufklärung. Signifikante Gruppen der Gesellschaft fühlten sich unzureichend angesprochen oder wahrgenommen. Aber auch eigene Mitarbeiter meldeten sich mahnend und warnend zu Wort. Durch Outsourcing verschwanden Kompetenzen an kommerziell orientierte Produktionsfirmen. Das Alleinstellungsmerkmal „Kulturfaktor“ schien zu verblassen.

Mit Digitalisierung und rasanter Ausbreitung der „sozialen“ Massenmedien veränderte sich das gesamte Umfeld. Große Teile des Publikums entfremdeten sich vom „vertikalen“ Programm der öffentlich-rechtlichen Sender zugunsten der Streamingdienste kommerzieller Plattformen. Prominente Gesichter des ÖR wechselten zur privaten Konkurrenz. Parteitage – nicht nur der AfD – fordern das „Gesundschrumpfen“ der zahlreichen Spartensender. Auch die Zusammenlegung von ARD und ZDF gilt vielen nicht mehr als Tabu. In Zeiten von Inflation und allgemein steigender Lebenshaltungskosten steht auch das System der Rundfunkgebühren in erneuter Diskussion.

Die Liste dieser Schmerzpunkte können Sie selbst unschwer verlängern. Jeder und jede von uns hat persönliche Prägungen und Präferenzen. Und natürlich wird sich ein Seminar wie dieses nicht mit punktuellen Entgleisungen und „gefühlten“ Verhältnissen begnügen.

Im Kern steht die Frage: Ist der Öffentlich-rechtliche Rundfunk ein konstitutives Element der Medien-Demokratie (um das man uns übrigens überall in der Welt beneidet), oder hat er sich durch interne Selbstbeschädigung und externe Entwicklungen überlebt? Ist er – wie von der Verfassung gefordert – ein unabhängiges und unbestechliches Erkenntnisinstrument der „wehrhaften Demokratie“, oder wird er zur Jukebox eines allgemeinen „Rummelplatzes“ der Erregungsgesellschaft?

Ich bin gespannt auf neue Aspekte, auf Ihre Beiträge und auf die unserer Experten.