„Medien in der Selbstfindung“ mit Hans-Jürgen Jakobs und Prof. Dr. Claus Richter – Uni Bonn, 18. Januar 2023
Fakt oder Fake? Aufklärung oder Propaganda? Medien in der Selbstfindung. Wie erhalten wir ein realistisches Bild unserer Welt?
Gastreferenten:
Hans-Jürgen Jakobs
Prof. Dr. Claus Richter
Einführung:
Prof. Bodo Hombach
18. Januar 2023
Meine Damen und Herren,
ich begrüße Sie zum vierten und letzten Teil unseres kleinen Seminars. Fakt oder Fake? Aufklärung oder Propaganda? In bisher drei Schritten haben wir uns dem Thema genähert. Zunächst ging es an der sichtbaren Oberfläche um Präsenz und Erscheinungsformen. Wir konnten die Relevanz eines Phänomens erkennen, das die Gesellschaft der Moderne in starkem und wachsendem Maß beeinflusst. Es muss interessieren, ob wir ein hinreichend objektives Bild von unserer Welt bekommen. Nur dann sind wir ausgestattet, über Transparenz und Teilhabe eine konstruktive Rolle bei der Gestaltung des Gemeinwesens zu spielen. Uns war klar, dass dabei die Medien eine entscheidende Mitwirkung haben.
Im zweiten Schritt haben wir entdeckt, dass Fakt und Fake die gesamte Geschichte mitbestimmt haben. Spätestens mit Beginn der Neuzeit konnte sich ein wirtschaftlich erstarkendes und lesekundiges Bürgertum als Antipode der Obrigkeit entdecken. Seit Erfindung des Buchdrucks entwickelten sich Alternativen politischen Handelns und ein Streben nach Freiheit und unabhängiger Information, das den gesellschaftlichen Fortschritt anschob und kontrovers begleitete. Als Frucht der Aufklärung entstand der moderne Verfassungsstaat und ermöglichte die ungeheure Entfaltung von Wissenschaft, Technik und innerstaatlicher Organisation.
Der dritte Schritt machte klar, dass die Errungenschaft einer freien und unabhängigen Presse kein gesicherter Besitz ist, sondern immer wieder gegen Versuche der Domestizierung durch Machtinteressen zu verteidigen ist, seien sie politischer, wirtschaftlicher oder ideologischer Natur. Mit dem Paradigmenwechsel durch elektronische Massenmedien entstand ein quasi grenzenloser Zugang zu Informationen und einer ebenso unbegrenzten Möglichkeit globaler Kommunikation. Die neue Technik bot aber auch ungeahnte Chancen der systematischen Desinformation und Bespitzelung. Die offenkundige Lüge war plötzlich nicht mehr peinlicher Fauxpas, sondern akzeptiertes Mittel, um Wahlen zu gewinnen und autokratische Systeme durchzusetzen. – Am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland haben wir – sehr kursorisch – die rechtlichen Rahmenbedingungen von Presse und Medien benannt, die versuchen einer anarchischen Entwicklung Paroli zu bieten. – Dabei gilt es, Freiheit und Verantwortung in ein dynamisches Gleichgewicht zu bringen, so dass nicht beides verlorengeht.
Heute legen wir den Akzent auf die Frage: Was ist das überhaupt, worüber wir reden? Wie definieren sich die verschiedenen Rollen und Positionen? Lässt sich das Phänomen von Fakt oder Fake theoretisch fassen, so dass Kriterien eines sinnvoll zielgerichteten Handelns möglich werden?
1962 veröffentlichte Jürgen Habermas seine Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“. Sie gilt noch immer als maßgebender und bahnbrechender Beitrag und nützliche Erkenntnisse.
Öffentlichkeit – so der Kerngedanke Habermas – ist nicht automatisch vorhanden. Sie entsteht erst in dem Augenblick, wo ein Mensch als Mitglied der Gesellschaft seinen Privatbereich verlässt. Nur dann kann er die Zustände der Außenwelt erkunden und sich öffentlich dazu äußern. Er wird zum kritischen oder affirmativen Gegenüber anderer Individuen und Gruppen. Seine private Meinung wird zur öffentlichen Meinung. Eine effektive Auseinandersetzung ist anders nicht möglich.
Dieses Prinzip ist grundlegend für ein funktionstüchtiges Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Mit dieser Struktur von Öffentlichkeit unterscheidet sich der demokratische vom autokratischen Staat. Im letzteren kommuniziert die Obrigkeit per Verlautbarung von oben nach unten. Die Untertanen sind nur Empfänger der Botschaft. Widerspruch ist nicht vorgesehen und wird mit Machtmitteln sanktioniert. Entscheidungen entsprechen vor allem dem Interesse des Machthabers, auch wenn sie sich zufällig mit denjenigen der Bürgerinnen und Bürger decken.
Im Idealbild von Demokratie werden die „res publica“, die öffentlichen Dinge, frei kommuniziert und verhandelt. Jeder hat das Recht und die Freiheit, Interessen zu artikulieren, sachdienliche Fakten zu erkunden und sich mit anderen zu verbünden. Entscheidungen sind das Ergebnis eines kontroversen Dialogs. Sie können Kompromisse schließen, also nebeneinander existieren oder werden mehrheitlich akzeptiert und dadurch legitimiert.
Auch „Propaganda“ zielt auf Öffentlichkeit. Sie unterscheidet sich jedoch diametral in ihren Absichten. Aufklärende Presse erweitert den Raum der Öffentlichkeit. Propaganda will ihn für einen bestimmten Zweck verengen. Der Journalist arbeitet deduktiv. Das heißt: Er recherchiert die Fakten, am liebsten diejenigen, die ihm bewusst verheimlicht werden. Er überprüft sie auf ihre Richtigkeit und Relevanz. Dann erst übergibt er sie den Lesern. Und auch dann nicht als gemeißelte Wahrheit, sondern als den aktuellen Stand der Ermittlungen. Der Zweifel, auch der Selbstzweifel ist sein ständiger Begleiter. – Für die Presse ist der Bürger „Subjekt“. Sie verschafft ihm die Möglichkeit, notwendige Fakten zu erfahren, seine Rechte zu erkennen, sie wahrzunehmen und sich gegen Einschränkungen zu wehren.
Der Propagandist arbeitet induktiv. Das heißt: Er hat ein klares Interesse, eine Projektion, die er seinem Adressaten induzieren will. Dieser ist für ihn „Objekt“, eine Art „Werkstück“, das er formen und zu einem bestimmten Handeln bewegen will. Von der Werbung für ein Wundermittel gegen Reizdarm bis zum Kampf für eine Partei oder eine Weltanschauung steht ihm ein vielfältiges Arsenal von Methoden und Mitteln zur Verfügung. Fast immer arbeitet er im Sinne eines Auftraggebers. Wenn es ihm gelingt, den Umsatz zu steigern oder den Brexit als Befreiungsschlag zu konnotieren, hat er seinen Zweck erfüllt.
Nun ahnen Sie längst: Die hier angebotene Typologie ist in der Realität nicht so trennscharf, wie man sie auf dem Papier beschreiben kann.
- Die Objektivität des Journalisten ist Fiktion. Er ist ein lebendiger Mensch mit seiner individuellen Prägung, seinem Charakter, seinem Temperament, seinem Wertesystem und seinen Interessen. Schon Kant hat nachgewiesen, dass wir die Dinge nicht „an sich“ erkennen können. Dazu müssten wir aus uns selbst heraustreten können, was nicht möglich ist.
- Der Journalist legt manchmal selbst das Feuer, über das er dann berichtet. Unausweichlich ist seine Arbeit nicht nur Abbild der Wirklichkeit, sondern zugleich Faktor, der diese Wirklichkeit beeinflusst. Hier drohen Teufelskreise.
- Natürlich ist er auch Funktionsträger der Zeitung oder des Senders, für die er arbeitet. Als solcher unterliegt er Interessen wie mächtige Inserenten, Abonnenten, Einschaltquote. Man muss nicht die eigenen Berichte manipulieren. Man kann auch unbequeme Themen ignorieren.
- Er steht im Wettbewerb um Marktanteile, das heißt um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft. Durch massenhafte Beanspruchung wird diese zum kostbaren Gut. Ein charakterschwacher Journalist wird vielleicht das Dramatische dem Wichtigen vorziehen, die Person dem Thema, den schnellen Erfolg der mühseligen Recherche.
- Und wie in allen Berufen gibt es nur wenige Genies, viel Mittelmaß, tapfere Vertreter der reinen Lehre und käufliche Schmierfinken.
Ein Journalist, der nur noch intentional agiert, wechselt ins Lager des Propagandisten. Statt aufklärender Berichterstattung setzt er Nebelkerzen. Er zerstört das in ihn gesetzte Vertrauen. Auch die Rolle des Propagandisten ist differenziert zu sehen. In vielen Bereichen hat sie eine natürliche Daseinsberechtigung. Jeder Flirt, jede Kanzelpredigt, jede Produktwerbung ist Propaganda. Wer eine neue Idee vertritt, trägt sie nicht nur mit Sachargumenten vor, sondern auch in gefälliger Form. Problematisch wird es, wenn er sich unlauterer Mittel bedient:
- Abwertung der Konkurrenten
- Demagogische Beeinflussung
- Verschweigen riskanter Nebenwirkungen
- Bestechung politischer Entscheidungsträger
- usw.
Der Politiker hat es mit beiden zu tun. Er braucht die seriöse Presse zur eigenen Information über Sachverhalte und Meinungen, relevante Ereignisse, den Verlauf des öffentlichen Diskurses, die Position des politischen Gegners, erkennbare Trends.
Er braucht sie auch als Plattform für die Kommunikation angestrebter Ziele, die Begründung einer Strategie und die Transparenz politischer Entscheidungen.
Und natürlich braucht er sie als Bühne der Selbstdarstellung und der Werbung für seine Partei.
Damit ist er immer auch Propagandist. Ob er sich das eingesteht oder nicht: Seine öffentlichen Auftritte sind immer auch Wahlkampf. Er unterhält ein Netzwerk nützlicher Kontakte. Und wie jeder Darsteller liebt er Zustimmung und Applaus mehr als Ablehnung und Pfiffe.
Die Grenze zwischen seriöser Presse und Propaganda, zwischen Fakt und Fake verschwimmt. Sie verschwindet, wenn autokratische Naturen die Macht übernehmen. Das geschieht nicht mehr durch Putsch, Geheimdienst und Folterkammer. Es geschieht durch schleichende Ermächtigung. Ich nenne das „repräsentative Diktatur“. Die freie Presse ist ihr erklärtester Feind und wird als Erste aus– oder gleichgeschaltet. Die Öffentlichkeit implodiert. Die kritische Kommunikation zwischen Regierung und Regierten schrumpft wieder zur einseitigen Verlautbarung.
Das macht durchaus nicht alle Bürger unglücklich. Die hohe Kunst der Manipulation besteht auch darin, eine offensichtliche Unterdrückung der Freiheit nicht mehr zu brauchen. Individuen lassen sich viel besser steuern, wenn sie sich weiterhin als freie und autonome Gestalter ihres Lebens verstehen.
Die Glücksforschung hat herausgefunden, dass sich Menschen unter drei Bedingungen glücklich fühlen:
- Ihre materiellen Bedürfnisse müssen im Wesentlichen befriedigt werden, allerdings nicht zu sehr, denn ein Übermaß an Konsum kann unglücklich machen. Ein kurzer Mangel oder Engpässe erinnern sie daran, dass es ihnen im Allgemeinen gutgeht und ihr Leben in geordneten Bahnen verläuft.
- Es braucht die Existenz des anderen, der Partei oder Gruppe, der man die Schuld an allem geben kann, was schiefläuft. Das entlastet von der eigenen Verantwortlichkeit.
- Es bedarf eines externen Sehnsuchtsortes, von dem man träumen darf und den man gelegentlich besuchen kann.
Sie merken: Die Bedingung „Freiheit“ und „Selbstbestimmung“ gehört nicht dazu.
Sind wir im „post–faktischen“ Zeitalter? Ist der Kampf um die Wahrheit verloren? Ist die bürgerliche Öffentlichkeit noch das kritische Gegenüber der Macht? Zerbröseln die Tugenden eines professionellen Journalismus im Grundrauschen des Internets, oder werden sie mit jedem Tag wichtiger?
Sozialpsychologen wissen: Eine große Gruppe der Bevölkerung orientiert sich mit ihren Meinungen an der vermuteten Mehrheit. Wenn diese Leute entdecken, dass sie mit ihrer Ansicht in der Minderheit sind, misstrauen sie eher der eigenen Wahrnehmung als einer offenkundigen Falschmeldung des Mainstreams.
Das Trommelfeuer schlechter Nachrichten, die uns per Handy im Minutentakt erreichen und auf die wir keinen Einfluss haben, erzeugt nicht den informierten Bürger, sondern instinktive Abwehr. Wir fühlen uns hilflos und ohnmächtig. Ein breites Einfallstor für Fake News, die sich als unterdrückte Wahrheiten und einzige Lösung gebärden.
Die Konfrontation mit unerträglichen Ereignissen, die unser Weltbild und Lebensgefühl nicht integrieren kann, hat traumatische Folgen. Sie werden ins Unterbewusstsein abgedrängt und bewirken irrationale Reaktionen. Oft aus nichtigem Anlass und mit katastrophalen Folgen.
In einer gespaltenen Gesellschaft gibt es einen großen Bedarf an Feindbildern (Journalisten, Polizisten, Ausländer, Ungläubige, Behörden, das „Establishment“). Sie reduzieren „gefühlt“ die Komplexität der Wirklichkeit durch strategische Kommunikation. Probleme und natürliche Konflikte lassen sich personalisieren. Fake News erzeugen und bedienen Klischees und Vorurteile. Damit verdrängen sie den mühsamen und kompromissbereiten Diskurs.
Das Ziel ist nicht, den allgemeinen Kenntnisstand zu verbessern und Konflikte in lebbare Lösungen zu überführen, sondern Stimmungen zu erzeugen und zu verstärken, Ängste zu kreieren, und dann einen politischen Retter zu präsentieren. Der ist nicht er selbst, sondern die große Metafigur seiner Millionen Anhänger. Er wird zum Guru einer Sekte. Mäßigung und Milde funktionieren nicht mehr. Das Laute, Grelle, Radikale macht die entscheidenden Punkte. Der Gegner ist immer der Feind. Wenn es keine Wahrheiten mehr gibt, sondern nur noch Meinungen, zerfällt die Gesellschaft in völlig verschiedene Welten. Sie haben sich nichts mehr zu sagen. Sie schreien sich nur noch an.
Ich entziehe mir das Wort. Heute haben wir erneut großartige, erfahrene Gäste von hohem Rang und mit erprobter Urteilsfähigkeit:
Hans Jürgen Jakobs (Quelle Wikipedia)
Nach dem Abitur absolvierte Jakobs ein Studium der Volkswirtschaftslehre an der Johannes Gutenberg–Universität Mainz. Nach dem Abschluss volontierte er bei der Mainzer Allgemeinen Zeitung und beim Wiesbadener Tagblatt. Von 1986 bis 1989 war er bei der Verlagsgruppe Handelsblatt in Düsseldorf beschäftigt, zunächst als Redakteur für ZV+ZV und dann als Chefredakteur von Copy. Danach übernahm er für drei Jahre die Leitung des Wirtschaftsressorts der Münchner Abendzeitung. Von 1993 bis 2001 war er Redakteur des Nachrichtenmagazins Spiegel in Hamburg. Von 2001 bis 2006 war Hans–Jürgen Jakobs der Leiter des Medienressorts der Süddeutschen Zeitung in München. Von 2007 bis 2010 war er Chefredakteur von deren Online–Ausgabe. Ab 2011 war er Leiter der Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung. Von dort ging Jakobs zur Wirtschaftszeitung Handelsblatt, wo er zum 1. Januar 2013 die Chefredaktion übernahm. Seit Januar 2016 ist Jakobs Senior Editor der Wirtschaftszeitung in München. Vom Februar 2018 bis zum 20. Oktober 2022 war er Herausgeber des Podcasts “Handelsblatt Morning Briefing”.
Prof. Dr. Claus Richter (Quelle Wikipedia)
studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Germanistik an den Universitäten in Bonn, Heidelberg und Mannheim. Seit 1973 arbeitete Richter als freier Mitarbeiter beim WDR Hörfunk und Fernsehen, insbesondere für die Redaktion des ARD–Politmagazins Monitor. Im Jahr 1974 legte Richter sein Staatsexamen in Bonn ab. 1976 folgte eine Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über Die Revolution von 1848 und der deutsche Liberalismus, gleichfalls in Bonn. 1976 bis 1981 arbeitete Richter als fester Redakteur für Monitor. In den Jahren 1981 bis 1984 war er ARD–Korrespondent und Studioleiter in Warschau, 1984 bis 1987 ARD–Korrespondent und Studioleiter in New York und 1987 bis 1991 ARD–Korrespondent und Studioleiter in Ostberlin. Von 1991 bis 1997 war Richter als ZDF–Korrespondent und Studioleiter für Südostasien in Singapur und in den Jahren 1997/1998 ZDF–Korrespondent und Studioleiter in Moskau. In der Zeit vom 1. Mai 1998 bis 31. Dezember 2000 war Richter ZDF–Chefreporter und drehte neben aktuellen Beiträgen auch Dokumentationen, unter anderem Abenteuer Amazonas, Die neue Seidenstraße und Der Kampf ums kaspische Öl. Vom 1. Januar 2001 bis 31. Januar 2014 war er Redaktionsleiter des ZDF–Politmagazins Frontal21. Seit 2002 ist er freier Dozent an der ems Electronic Media School in Babelsberg und seit März 2014 Lehrstuhlinhaber des Bereichs Fernsehjournalismus an der Hochschule für Fernsehen und Film München.
Herzlich willkommen und Dank für die Bereitschaft, sich in die beruflichen Karten gucken zu lassen.
Ich bin gespannt auf Ihre Ausführungen und die Diskussion