„Medien in der Selbstfindung“ mit Sarah Kähler, Ulrich Reitz und Michael Strempel – Uni Bonn, 11. Januar 2023

Fakt oder Fake? Aufklärung oder Propaganda? Medien in der Selbstfindung. Wie erhalten wir ein realistisches Bild unserer Welt?

Gastreferenten:
Sarah Kähler
Ulrich Reitz
Michael Strempel

Einführung:
Prof. Bodo Hombach

11. Januar 2023

Meine Damen und Herren,

„Aufklärung oder Propaganda?“ Die Pandemie lieferte Ihnen und mir täglich neue Anschauungsbeispiele. Auf allen Kanälen tummelten sich Erzählungen, Debatten, Dokumentationen. Es gab wissenschaftliche Expertisen, politische Prognosen, Kommentare und pseudo-argumentative Sumpfblüten, die sich als Welterklärung gebärdeten.

Während das Virus stur und unbeeindruckt seine Arbeit tat, nahm die Gesellschaft das Ereignis zum Anlass, sich je nach Interesse des Einzelnen oder der Gruppe im sozial-psychologischen „Selfie“ zu betrachten. Die trennscharfe Unterscheidung von geprüfter Information und Gebilden der Fantasie war nötiger, aber auch schwieriger denn je. Wissenschaftliche Institute, staatliche Institutionen und die humanen Umgangsformen der Gesellschaft erlebten einen Stresstest ohnegleichen. An den Rändern radikalisierten sich Gruppen, die von verbaler zu brachialer Gewalt übergingen. – Und die Suppe kocht auf vielen Feuern. Ich nenne nur: Energiekrise, Ukraine-Krieg, Klimawandel, Inflation.

Der Titel unseres Seminars ist problematisch. Er weckt die Illusion einer freien Wahl zwischen zwei akzeptablen Möglichkeiten. Und das führt in die Irre. Es vernebelt eine gefährliche Asymmetrie: Wahrheit gib es nur eine. Lügen gibt es unendlich viele. Die Wahrheit ist oft unbequem und komplex. Die Lüge ist immer bequem und simpel. Aufklärung ist ein mühsames
Geschäft. Propaganda braucht nur eines: Absicht und Erfolg. Schon Konfuzius wusste: „Ein Dummer macht zwanzig Weise stumm.“

Trotz allem. Wir leben im freiesten Staat unserer Geschichte, aber in einem regelbasierten Gemeinwesen. Hier kann jeder machen, was nicht verboten ist. Er kann aber nicht machen, was er will, denn vieles tangiert die Rechte anderer. Wenn die nicht mehr gelten, herrscht Anarchie. Dort macht dann der Stärkste, was er will, und mit der Freiheit ist es vorbei.

Auch unser Themenfeld ist gesetzlich eingerahmt. Man sollte ein paar elementare Fakten kennen.

Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Eine Zensur findet nicht statt.“

Seit der Föderalismusreform vom 1. September 2006 ist das Presserecht Ländersache. Die hier beschlossenen Landespressegesetze sind weitgehend einheitlich. Bezüglich der Neuen Medien mit ihrer enormen Ausweitung und Differenzierung ist die Reichweite des verfassungsrechtlichen Pressebegriffs umstritten. Da auch das Berufsbild des Journalisten nicht geschützt ist, kann sich Jedermann als solcher bezeichnen und betätigen.

Für Journalisten gilt die Sorgfaltspflicht. Vor der Veröffentlichung müssen Nachrichten und Quellen geprüft sein. Vermutungen müssen als solche erkennbar sein. Die Berichterstattung darf nicht mit werblichen Inhalten vermischt werden. Bei Falschmeldungen gilt die Pflicht zur
Gegendarstellung. Wenn Journalisten und Verlage in die Rechte Dritter eingreifen, können sie juristisch belangt werden.

Im Einzelfall kann das zu schwierigen Abwägungen führen. Ist Julian Assange ein Held oder Landesverräter? Ist die Aufdeckung von Kriegs- und Staatsverbrechen eine Straftat, nur weil sie den Geheim-Stempel haben? Um Freiheit und Vielfalt zu schützen, betont die Rechtsprechung oft den Kunstvorbehalt, duldet satirische Formen, sanktioniert nur milde, wenn der gleiche Inhalt schon andernorts ohne Beanstandung veröffentlicht wurde oder aus einer seriösen Quelle stammt. Das öffentliche Interesse ist ein weiteres Kriterium. Von Amtsinhabern erwartet man eine besondere Auskunftspflicht. Formale Beleidigungen sind natürlich auch hier verboten.

Journalisten steht ein Zeugnisverweigerungsrecht zu, das ihre Informanten und Quellen schützt. Sie sind auch nicht verpflichtet, gesammelte Unterlagen herzugeben. Hoch umstritten ist z. B. die Forderung der Ermittlungsbehörden an Telefonanbieter, Telefondaten eines Journalisten herauszugeben.

In der Bundesrepublik gilt ein „Pressekodex“ in freiwilliger Selbstkontrolle. Journalisten verpflichten sich etwa, ihre Unabhängigkeit nicht durch Vergünstigungen zu gefährden und die Privatsphäre und Ehre einer Person gegen das Recht der Öffentlichkeit auf Information abzuwägen.

Die Einhaltung solcher Prinzipien kontrolliert der Presserat. Bei Verstößen hat jeder Betroffene ein Beschwerderecht. Verstöße können durch Hinweis, Missbilligung oder öffentliche Rüge geahndet werden.

Da sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk aus Gebühren finanziert, ist er in besonderer Weise gesetzlich verpflichtet, durch ein breit gestreutes Programmangebot die Meinungsvielfalt zu garantieren. Auch Minderheiten und Randgruppen müssen hier zu Wort kommen, solange sie damit nicht die freiheitlich-demokratische Grundordnung attackieren. Kontrollorgan ist ein Rundfunkrat. Darin sind Großgruppen der Gesellschaft vertreten und sollen den Querschnitt der Bevölkerung abbilden.

Mit der rasanten Ausweitung der sogenannten „sozialen“ Netzwerke stellen sich ganz neue Fragen und Probleme. Sie sind bisher kaum in allen Aspekten erkannt, geschweige denn im Ansatz geregelt.

Jeder hat inzwischen die Möglichkeit, Inhalte aller Art auf Plattformen wie YouTube, Instagram, Twitter oder Facebook hoch- und herunterzuladen, zu teilen oder mit anderen zu verlinken. Es bedarf einer umfassenden rechtlichen Aufklärung und Regelung, wenn es z.B. um das Impressum, Datenschutz, Haftung, Nutzungsbedingungen oder Influencer geht.

Cyber-Kriminalität richtet inzwischen enormen Schaden an, nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch. Relativ kleine Gruppen erzeugen in der anarchischen Struktur der Netze massenhafte Wirkungen. Straftaten wie Volksverhetzung, Kinderpornografie, Mobbing oder Hassbotschaften gegen Individuen und Minderheiten zerrütten die gemeinsame Basis der Gesellschaft. Moderne Kriege finden im Internet statt oder werden hier vorbereitet.

So viel ist klar: Die Digitalisierung praktisch aller Bereiche der Weltgesellschaft muss einhergehen mit der technischen, organisatorischen und rechtlichen Sicherung hochsensibler Systeme. Auch in Fragen der öffentlichen Kommunikation, die sich auf den großen Plattformen abspielt, müssen Regeln gelten. Sie sind kein rechtsfreier Raum.

Ein erster Schritt in diese Richtung ist das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). Es ist seit dem 1. Oktober 2017 in Kraft und zielt darauf, Hasskriminalität, strafbare Falschnachrichten und andere kriminelle Inhalte auf den Plattformen sozialer Netzwerke wirksamer zu bekämpfen. – Mittelfristig versucht eine europäische Initiative, das Monopol der amerikanischen Data-Riesen zu durchbrechen und hiesige Rechtsstandards zur Geltung zu bringen. – Der Bedarf an Aufklärung ist grenzenlos. Propaganda bedarf eines rechtlichen Rahmens. Die offene Gesellschaft artikuliert sich nicht nur im kurzen Moment der Wahlkabine. Medien und Parteien agieren neben den Verfassungsorganen. Damit diese funktionieren sind jede unverzichtbar in der langen Phase zwischen den Wahlen. Hier nämlich gestalten sie den organisierten Austausch über gesellschaftliche Ziele mittels politischer Argumente. Fakt oder Fake ist keine echte Alternative. Wer sich an den überprüfbaren Fakten orientiert, entscheidet sich für die friedliche Austragung der Konflikte. Er ist bereit, mit seinen Vorurteilen an den Tatsachen zu scheitern. Fake und Propaganda sind eine Form der Gewalt. Sie will nicht überzeugen, sondern fordert Unterwerfung.

Ganz sicher ein gutes Stichwort für unsere großartigen Gäste aus der medialen Wirklichkeit:

  • Frau Sarah Kähler studierte an der TU Dortmund Journalistik und Anglistik. Heute arbeitet sie im Nachrichtenressort der Funke Mediengruppe für viele Zeitungen. Sie ist in der neuen Online-Welt zuhause.
  • Herr Ulrich Reitz studierte Politikwissenschaft und Germanistik an dieser Universität. Es folgten Stationen bei der Welt als Redakteur in den Ressorts Nachrichten, Parlament, Innenpolitik. 1992 wechselte er zum Magazin Focus. 1997 wurde er Chefredakteur der Rheinischen Post in Düsseldorf, dann der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) in Essen. Seit einem Jahr ist er Chefkorrespondent bei Focus Online.
  • Herr Michael Strempel studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Germanistik hier in Bonn und in Wales. Beruflich startete er beim Bonner Generalanzeiger, ging bald jedoch zum WDR als Moderator, Autor und Chef vom Dienst für verschiedene Sendungen. Es folgten ARD-Studio Bonn, Phoenix Berlin, Korrespondent in Brüssel und Paris. Seit 2012 ist er wieder im WDR, war zuständig für den Weltspiegel, leitet jetzt das Berliner Büro des ARD-Morgenmagazins und führt die politischen Interviews der Sendung.

Ich hoffe, diese Persönlichkeiten erzählen Ihnen auch etwas mehr über ihren Werdegang und gegenwärtige Praxis.

Herzlich willkommen und Dank für die Bereitschaft, sich in die beruflichen Karten gucken zu lassen. Fakt oder Fake. Was macht das Thema mit Ihnen? Ist der juristische und freiwillig selbst-kontrollierte Rahmen des Pressewesens Stütze oder Gängelung? Sind die gewachsenen und mühsam erkämpften Spielregeln Fossil oder dynamisches Instrument? Sind berufsethische Standards noch geeignet, auf den rasanten Wandel der medialen Möglichkeiten zu reagieren? Ladenhüter oder wichtiger denn je?

Ich bin gespannt auf Ihre Ausführungen und die Diskussion.