„Medien in der Selbstfindung“ mit Ulrike Demmer, Prof. Dr. Klaus Kocks und Jörg Schmitt – Uni Bonn, 14. Dezember 2022
Fakt oder Fake? Aufklärung oder Propaganda? Medien in der Selbstfindung. Wie erhalten wir ein realistisches Bild unserer Welt?
Gastreferenten:
Ulrike Demmer
Prof. Dr. Klaus Kocks
Jörg Schmitt
Einführung:
Prof. Bodo Hombach
14. Dezember 2022
Meine Damen und Herren,
ich begrüße Sie zu unserem kleinen Seminar über ein riesiges Thema. Das sagt schon aus, dass wir es bei weitem nicht erschöpfen werden. Und es erzwingt die Konzentration auf das – vielleicht und hoffentlich – Wesentliche. Manches davon ist vorläufige Erkenntnis oder Annahme. Vieles ist eher These als Bilanz.
Die Methode dieses Seminars ist sehr einfach, fast schon unterkomplex:
Am Beginn steht ein kurzer Einstieg in den jeweiligen Teilaspekt des Themas. Er dient der Theoriebildung auf der Basis von Beobachtungen und Erkenntnissen.
Dann folgt der Praxis–Schock. Experten aus dem Medienbereich, in dem sie beruflich agieren oder forschen, verraten, was das Thema mit ihnen alltäglich macht und wie sie sich dazu verhalten.
Dann ist Zeit für gegenseitige Fragen und Statements: Ihre Chance also, das Thema mit eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen anzureichern und zu vertiefen.
Schriftliche Handreichungen ergänzen Ihre Notizen.
Am vergangenen Sonntag brachte das ZDF eine Dokumentation mit dem Titel: „Glaub nicht alles, was du liest!“ – Es ging um einen ganzen Katalog von Falschmeldungen der letzten Jahrzehnte. Sie dienten nicht nur dazu, die Leute hinters Licht zu führen, sondern politische Fakten zu schaffen. Zum Teil mit Erfolg und schwerwiegenden Folgen.
- Die angebliche Entführung eines russischen Mädchens in Deutschland löste eine diplomatische Krise aus.
- Der Brexit wäre ohne ein Trommelfeuer von Lügen über die EU nicht möglich gewesen.
- Massive Falschmeldungen im Internet brachten Donald Trump ins Weiße Haus. – Mit der Lüge vom Wahlbetrug versuchte er, sich dort zu halten.
- Fingierte „Dokumente“ ermöglichten den Irak–Krieg.
- Der aktuelle Krieg Putins gegen die Ukraine wurde durch Falschmeldungen begründet. Die Gleichschaltung der russischen Presse hatte das Terrain vorbereitet.
Es wird Ihnen nicht schwerfallen, diese Liste zu ergänzen. Eine ehrliche Gewissenserforschung würde vermutlich bei jedem von uns enthüllen, wie leicht wir zwecks Umgehung einer unangenehmen Wahrheit einer angenehmen Lüge auf den Leim gehen.
Eines ist klar: In der Welt der Medien betritt man heute schwankenden Boden. Wir sind in einer epochalen Umbruchsphase.
Das betrifft technische Innovationen und Organisationsstrukturen, die sich überstürzen. Es hat kulturelle, soziale, politische Wechselwirkungen, die keines unserer tradierten Systeme unberührt lassen. Es bedeutet auch die dringend nötige Befähigung der Nutzer, sich der neuen Instrumente möglichst selbstbestimmt zu bedienen. Und diese Aufgabe stellt sich schon im
frühen Kindesalter, wo Handy, Switch und Playstation ganz oben auf dem Wunschzettel stehen. Es handelt sich wohlgemerkt nicht nur um Geräte, die man einfach nur besitzen und bedienen kann. Von Anfang an geht es zugleich um Verhaltens– und Umgangsweisen, die unsere Wahrnehmung der Welt und unsere Rolle in der Gesellschaft entscheidend beeinflussen.
Man muss kein Prophet sein. Der große Rest des Jahrhunderts wird nötig sein, um die anarchische Natur der neuen Medien an Regeln, juristische und ethische Standards zu gewöhnen. Hier gilt es, Chancen zu nutzen und Risiken einzudämmen. Es geht nicht um Kosmetik, sondern um das humane Genom der Zivilisation.
Das klingt pathetisch und abgehoben. Ich will es mit sechs Positionsbestimmungen untermauern:
- Eine komplexe und offene Gesellschaft, die das Problem der Macht demokratisch regelt, benötigt Medien, die den Bürgern (jederlei Geschlechts) ein realitätsnahes Bild der Welt vermitteln. Da diese nur einen geringen Anteil davon primär erfahren können, sind sie auf medial vermittelte Sekundärerfahrung angewiesen. Nur dann sind Transparenz, Teilhabe und Mitwirkung möglich. – Journalismus und Pressewesen können dies nur leisten, wenn sie unabhängig arbeiten und professionelle Standards erfüllen.
- Medien vermitteln nie das vollständige Bild und nicht nur Sachverhalte. Sie wählen aus und spiegeln immer auch Meinungen, Interessen, Ideen, Befindlichkeiten, Hoffnungen und Ängste. Damit ermöglichen und steuern sie den öffentlichen Diskurs, aus dem sich politische Handlungsoptionen entwickeln.
- Medien sind nicht Zweck, sondern Werkzeug. Ob sie nutzen oder schaden, hängt davon ab, wie man sie verwendet. Dazu braucht es Kriterien und durchsetzbare, aber auch geschmeidige Ordnungsformen, über die sich Macht und Verantwortung ins – immer schwankende – Gleichgewicht bringen lassen.
- Dies bleibt ein ständiger Prozess. Wenn er zum Stillstand kommt, ist das Ziel einer aufgeklärten und freien Gesellschaft verfehlt. Starke Kräfte mit ideologischen, ökonomischen und Machtinteressen arbeiten daran, ihre Sicht der Dinge durchzusetzen und den freien Zugang zu Alternativen einzuschränken.
- Mit der Allgegenwart der sozialen Medien ist ein ambivalentes Instrument entstanden, das einerseits den Zugang zu Informationen erweitert, ihn andererseits durch manipulierte Meinungsblasen verengt. Bei fortschreitender Digitalisierung aller Lebensbereiche können destruktive Kräfte mit immer weniger Aufwand immer größeren Schaden stiften.
- Da jedes Ereignis – real oder erfunden – quasi zeitgleich in den sozialen Medien erscheint, besetzt es die Emotionalität der Nutzer vor der sachlichen Information. Diese hat praktisch nur noch geringe Chancen, sich falsifizierend oder korrigierend einzumischen.
„Fakt oder Fake?“ – „Aufklärung oder Propaganda“? Sind wir im „post–faktischen“ Zeitalter? Ist der Kampf um die Wahrheit verloren? Ist die Lüge nicht mehr Faux–pas einzelner „Hütchenspieler“, sondern Mainstream und anerkannte Methode zur Durchsetzung partikularer Interessen?
Weicht die konstruktive Argumentation des öffentlichen Diskurses einem hasserfüllten Grobianismus, der den Meinungsgegner nur noch mit allen Mitteln vernichten will?
Ist Propaganda immer nur der Versuch, uns hinter’s Licht zu führen, oder ist sie nicht auch legitime Methode, Sinnvolles zu propagieren?
Wann schlägt Werbung um in Manipulation?
Ich übergebe an unsere unseren illustren Gästen:
Frau Ulrike Demmer studierte Jura in Bonn und Berlin, lernte Journalismus, arbeitete für das ZDF, den Spiegel und Focus. Dann leitete sie das Hauptstadtbüro des Redaktionsnetzwerks Deutschland. Von 2016 bis 2021 war sie stellvertretende Regierungssprecherin. – Herzlich willkommen!
Professor Dr. Klaus Kocks arbeitete nach seinem Studium an der Ruhr–Universität für die Öffentlichkeit der Ruhrkohle AG. Er verdingte sich bei weiteren Unternehmen von Aral über Ruhrgas bis Volkswagen AG. Seit 2001 ist er Honorarprofessor für Unternehmenskommunikation an der Hochschule Osnabrück. Und nicht zu vergessen, ist er beliebter Talkshow–Gast. – Herzlich willkommen!
Jörg Schmitt begann als Volontär bei einer Zeitungsgruppe in Hessen. Er studierte Journalistik, Wirtschaftspolitik und Recht an der Münchener Universität. Mit dem Diplom in der Tasche arbeitete er bei verschiedenen Publikationen wie Forbes, Stern und Der Spiegel. Enthüllungen über Skandale im Bereich Wirtschaft und Sport machten ihn bekannt und gefürchtet. Heute
arbeitet er als Leitender Redakteur im Investigativressort der Süddeutschen Zeitung.
Wie steht es um die Wahrheit in unserer Gesellschaft? Gibt es noch eine Scheu vor der interessenbasierten Lüge oder allenfalls die Angst, erwischt zu werden? – Ich bin gespannt auf Ihre Sondierung.