„Zeitenwende“
Diskussionsveranstaltung
anlässlich der Verabschiedung von Prof. Bodo Hombach
„Zeitenwende? Wo wir in fünf Jahren stehen“
Einführung:
Prof. Bodo Hombach
Podiumsdiskussion mit Hendrik Wüst MdL
24. Oktober 2022
Verehrte Damen und Herren,
auch in Ihrem Namen begrüße ich herzlich Herrn Ministerpräsident Hendrik Wüst, Eure Magnifizenz, Herrn Prof. Dr. Hoch, und Spektabilität, Herrn Prof. Dr. Kronenberg, Herrn Minister Schweitzer und die Persönlichkeiten aus Landes-, Bundes- und Europaparlament.
Ich begrüße die verehrten Mitglieder unseres Kuratoriums, dessen Vorsitzenden Herrn Pofalla und die heutigen großartigen Diskutanten. Ich begrüße die Geburtshelfer (wie Herrn Dr. Berger, Herrn Prof. Dr. Fohrmann) und die verlässlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BAPP.
Mein Skript sichert mir zeitliche Disziplin. Ich müsste noch etliche herzlich begrüßen. Das und den respektvollen Dank hole ich nach.
Ich eröffne die 133. Veranstaltung in diesem Format. Diesmal, lieber Herr Laschet und lieber Herr Professor Gabriel, auch als Beginn Ihres Projektes.
Verehrte Gäste, entscheiden Sie bitte selbst, mit welchem Geschlecht Sie sich gemeint fühlen.
Ich bin im Thema: „Zeitenwende“. Begriffe verlieren Sinn. „Selbstredend“ it’s over. Sich Selbstgute nutzen Vokabeln zur Erkennung und Zuordnung. Verlorene Gewissheit hinterlässt Vakuum. Das giert nach Füllung. „It’s over“, meinte Schäuble, als er über Trump sprach. Er irrte. „It’s over“, triumphierte ein grüner Influencer über den Verzicht auf Teile unserer Stromproduktion. Er behält Recht.
Schockierende Vorfälle volatiler Ereignisgeschichte lösen Verlangen nach neuer Stabilität aus. Zeitenwende ist anderes und viel mehr. Die manifestiert sich in langfristigen Rückungen der Strukturgeschichte und im Tiefenaustausch der Paradigmen. Nicht das Spiel, sondern die Regeln des Spiels verändern sich.
Radikal neue Weichenstellungen und tiefgreifender Wandel werden weniger gemacht, als sie sich machen. – Irgendwie und irgendwo – meist exogen. Wandel wartet nicht auf Parteitagsbeschlüsse. Aus der Nachkriegszeit werden wir gerade in die Vorkriegszeit gedrängt, aber auch gesendet und geschrieben.
Man hofft, dass das rasante Tempo uns nicht aus der Kurve wirft. Gesinnungs-, Moral- und Gefühlssymbolik übertünchen argumentationsarme Politik nur, solange es keine handfesten Probleme gibt. Durch- und Überblick ist schwierig.
Gabor Steingart schrieb kürzlich: „Viele warten auf Erlösung durch Erklärung. Das Erkennungszeichen der Ratlosen ist der fragende Blick.“ Oder, um es mit Camus zu sagen: „Das Absurde hat nur insofern einen Sinn, dass wir uns nicht mit ihm abfinden.“
Joseph von Eichendorff schrieb ein Tagebuch. Ich muss Ihnen daraus was vorlesen:
„An einem schönen warmen Herbstmorgen
kam ich auf der Eisenbahn
vom andern Ende Deutschlands
mit einer Vehemenz daher gefahren,
als käme es bei Lebensstrafe darauf an,
dem Reisen, das doch mein alleiniger Zweck war,
auf das allerschleunigste ein Ende zu machen.
Diese Dampffahrten rütteln die Welt,
die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht,
unermüdlich durcheinander wie ein Kaleidoskop.
Vorüberjagende Landschaften,
ehe man noch irgendeine erfassen kann.
Ein fliegender Salon,
der immer andere Sozietäten bildet,
bevor man noch:
die alten recht überwunden.“
Damals fuhr man mit einer Höchstgeschwindigkeit von 50 Stundenkilometern! Den fliegenden Salon ständig neuer Sozietäten durchwandern wir auch. Das Tempo rüttelt auch unsere Welt unermüdlich durcheinander. Allerdings, in einem Punkt irrt Eichendorff: Das Reisen wird nicht mehr „allerschleunigst“ beendet. Die Deutsche Bahn spendiert uns durchaus viel mehr Reisezeit, als wir gebucht haben …
Wir halten den „feuchten Finger“ nicht in die Luft, um unser Mäntelchen in den Wind zu hängen. Es gilt, wissenschaftlich zu erkunden und politisch zu handeln. Der Wind soll uns voranbringen. Und sei es durch das Kreuzen gegen ihn.
Seit Beginn der Neuzeit geht es um Aufklärung. Ein Neugeborenes weiß davon so wenig wie ein Neandertalerbaby. Wir erforschen und vermitteln Gesetze der Natur. Wir setzen auf das wiederholbare Experiment. Wir suchen kollisionsarme Regeln des Zusammenlebens. Wir besitzen – vielleicht als größte aller Errungenschaften – einen Begriff von der unveräußerlichen Würde des Menschen.
Dieser Kultur verdanken wir die offene Gesellschaft, die vernünftige Kontrolle der Macht und einen ungeheuren Aufschwung in Wissenschaft, Technik und Wohlstand. Apokalyptiker bejammern Probleme – lösen keines! Vorausdenkenden ist es gerade gelungen, einen Asteroiden von seiner Bahn abzulenken.
Im Dunkeln leuchten die Sterne. Friedrich Hölderlin – auch er lebte in einer wirren Zeit – schrieb ein trotziges Trostwort: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Das funktioniert aber nur in Kombination mit Kästners „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“
Ich nenne vier Punkte der To Do Liste. Die müssen selbstverständlich ergänzt werden.
- Wir erleben eine Deregulierung der Wahrheit. Das „Wording“ wird wichtiger als von Zweifel angetriebenes Erkennen. Die tägliche Sprechshow ist Arena, nicht Agora. Rollenträger sollen nicht erwägen, neu beleuchten oder gar Kompromisse finden. Das erinnert an Löwenjäger. Einer zieht vor der Jagd Turnschuhe an. „Willst du etwa schneller laufen als der Löwe?“, spottet sein Kamerad.– „Nein“, sagt der, „aber schneller als du.“
- Das Handy ist Paradigmenwechsel. Der Abstand zwischen Ereignis und Bericht ist praktisch null. Emotionale Erregung ist schneller als die Klärung des Sachverhalts. Wenn die mal kommen sollte, sind schon alle Plätze besetzt. Fake ist nicht peinliches Vorkommnis, sondern Methode. Künstliche Intelligenz steckt noch in den Kinderschuhen. Künstliche Dummheit haben wir schon.
- Mit immer weniger Aufwand kann man immer größeren Schaden stiften. Das gehört zu den neuen Asymmetrien. Die Komplexität der Systeme der kritischen Infrastruktur muss beherrschbar werden. Mit gezielter Störungs- und Zerstörungsabsicht durch diverse Mächte werden demnächst Kriege geführt und entschieden.
- Das aktuelle Menetekel an der Wand: Nach zwei knapp gescheiterten Versuchen der Selbstvernichtung ist Krieg nicht ins Gruselkabinett der Geschichte verbannt. Globalen Nutzen zu bedienen, überwindet nicht zwangsläufig globale Gefahren.
Nach dem verheerenden 30jährigen Krieg wurde in Münster „von Klugen“ eine neue politische Tugend geboren. Man begann, mit denen zu verhandeln und Interessen auszugleichen, die man überhaupt nicht mag. Das nannte man Diplomatie. Die regierungsamtliche „Zeitenwende“ reagiert posthum. Sie finanziert und begründet vor allem „Nachrüstung“
Albrecht Dürer lebte in gefährlichen Zeiten, aber er kam mit vier Apokalyptischen Reitern aus. Wir haben es mit einer apokalyptischen Reiterei zu tun.
Aber es gibt ja noch die BAPP. Es gibt Menschen mit weiser Gelassenheit. Als uns beim Spaziergang ein heftiger Regenschauer überfiel, sagte mir einer: „Das Meiste geht daneben.“
Unser politischer Diskurs ist ein dynamischer Prozess. Konzeptionsarmut basiert auf nicht tolerierbarer Denkfaulheit. Ein Teil der gestaltenden Genossenschaft, in der ich mitwirken durfte, retardierte zur Neidgenossenschaft. Das Kämpfen dagegen werde ich nicht vermissen. Vielleicht wird es mich vermissen.
Mein persönliches Fazit ähnelt dem von Tucholsky: „Ich glaube dem, der die Wahrheit sucht. Ich glaube keinem, der behauptet, er habe sie gefunden.“
Stabwechsel im Vorsitz der BAPP. Ich übergebe sehr gern. Ich bin stolz auf die Nachfolgelösung. Der Erfolg wird bewahrt und Besseres erreicht.
Ich messe den Erfolg dieses Hauses und seiner großartigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nur an dem, was wir erreicht haben, sondern auch an dem, was wir wollen und versucht haben.
Vom Löwenjäger war schon die Rede. Er kam mal unverrichteter Dinge zurück. „Na – Nicht erfolgreich?“, fragte einer schadenfroh. Die Antwort: „Doch schon … – bei Löwen, bei Löwen da ist keiner schon viel!“
Ich danke Ihnen.