Buchbesprechung – „God‘s own Country“ taumelt
Buchbesprechung für das Handelsblatt
24. Januar 2021
- Bob Woodward gemeinsam mit Robert Costa: Gefahr. Die amerikanische Demokratie in der Krise (Hanser)
- Stephen Marche: Aufstand in Amerika. Der nächste Bürgerkrieg – ein Szenario (Droemer)
„Ja, seine Politik macht mich krank. Er verursacht ein Gefühl der persönlichen Entwürdigung. Er beleidigt meinen Verstand. Er beleidigt jeden Tag unser aller Verstand, und zwar mit der immer gleichen Dreistigkeit. Er wurde schon 100 Mal beim Lügen erwischt, er wird nach jeder Lüge entlarvt, und er lügt trotzdem weiter. Er tritt mir damit zu nahe. Als würde er einen wirklich bedrängen und für schwachsinnig halten. Und man kann dem nichts entgegensetzen.“
Als ich diese Sätze der wortmächtigen Herta Müller las, dachte ich, nie hat jemand Befindlichkeiten angesichts des Agierens von Donald Trump besser ausgedrückt. Sie sprach aber über Wladimir Putin.
Was bleibt vom Leuchtturm und Sehnsuchtsort der freien Welt, wenn ein solcher Irrtum möglich ist?
Danach nahm ich mir fürs Handelsblatt erneut die bedeutende Neuerscheinung über den Zustand der „westlichen Führungsmacht“ vor. Sie betrachten das gleiche Objekt und können doch unterschiedlicher nicht sein:
Bob Woodward / Robert Costa: Gefahr. Die amerikanische Demokratie in der Krise. München 2020. 543 S.
Stephen Marche: Aufstand in Amerika. Der nächste Bürgerkrieg – ein Szenario. München 2022. 304 S.
Woodward ist Träger des Pulitzer-Preises und seit seiner Aufdeckung der Watergate-Affäre Starreporter der Washington Post. Er ist heute Assistant Managing Director der Zeitung. Er und sein Team versuchen die minutiöse Diagnose der akuten Krise. Auf der Basis von mehr als 200 Interviews mit den Protagonisten und vielen Komparsen der politischen Lager rekonstruiert er das Drama „Machtwechsel oder Ein Bruderzwist im Hause USA“, wo Posse und Tragödie heftig konkurrieren. – Ganz anders der kanadische Romancier und Essayist Stephen Marche. Er prognostiziert in fünf möglichen Szenarios den bevorstehenden Zweiten Bürgerkrieg in der Geschichte des Landes. Woodward – in bester Sachbuchmanier – lässt uns wissen, was wir bisher nur „albträumen“ konnten. Marche – in bester Science-Fiction-Manier – macht uns „albträumen“, was wir schon wissen.
In den USA füllen sich die Bücherregale. Der Kampf ums Weiße Haus verlockt und zwingt zur Analyse. Was eigentlich normales Alltagsgeschäft in einer funktionierenden Demokratie wäre, nämlich die friedliche Umbesetzung der Ämter, war in diesem Fall Blick in den Abgrund. Friedlich ging es nicht zu. Im Gegenteil. Nur unter konvulsivischen Zuckungen und Aufbietung schwerer Verfassungsgeschütze (auch eines „Fähnleins der Aufrechten“ im republikanischen Lager) gelang es, einen Machtjunkie aus dem Oval Office zu tragen. Vorläufig, denn längst präsentiert sich Trump seiner Gemeinde wieder als der Retter des Landes. Die Wahl sei ihm gestohlen worden. Sein Golfball flog richtig, nur das Loch lag falsch. – Und Präsident Joe Biden hat sich noch nicht durch Erfolge legitimiert. Wer jetzt auf Trump oder den Trumpismus wettet, macht das bei niedrigster Quote.
Eine inneramerikanische Angelegenheit? Mitnichten. Als Prolog seines Buches referiert Woodward ein Telefonat zwischen General George Milley, Chef des Generalstabs, und General Li Zuocheng, seinem chinesischen Pendant. Dieser machte sich angesichts der verstörenden Bilder vom Sturm auf das Kapitol konkrete Sorgen, die Atommacht könnte außer Kontrolle geraten. Milley musste ihm versprechen, der Präsident würde im schlimmsten Fall von der Befehlskette abgeklemmt.
So beginnen Polit-Thriller, denen es auf ein Pfund mehr oder weniger nicht ankommt, aber Woodward bleibt seinem legendären Ruf nichts schuldig. Er arbeitet mit äußerster Sorgfalt. Er macht seine Leser zu Ohren- und Augenzeugen von Dialogen, Debatten und Szenen, die – nach Erinnerung der Beteiligten – so tatsächlich stattgefunden haben. Sie wussten, dass alles, was sie ihm erzählten, zur Veröffentlichung bestimmt war und gegen sie verwendet werden konnte. Sie taten es in Sorge um das Land. Spätestens seit dem Nazi-Aufmarsch von Charlottesville war klar: „Der Präsident der Vereinigten Staaten hatte Menschen, die sich Hassparolen entgegenstellten, moralisch auf die gleiche Stufe gestellt wie jene, die Hass verbreiteten.“ Nazis und White Supremacists konnten sich nun seiner klammheimlichen Zustimmung sicher sein. Der oberste Verfassungsschützer des Landes erwies sich als Totalausfall. Als der vom amtierenden Präsidenten vorgeglühte Mob das Kapitol stürmte, schaute er im Weißen Haus am Fernseher drei Stunden lang zu. Tochter Ivanca musste ihn flehentlich drängen, wenigstens mit einem Tweed Öl auf die Wogen zu gießen. Einmal mehr wurde der amerikanische Traum zum Trauma Amerikas.
Die suggestive Macht Trumps ist ungebrochen. Engste Berater geben seinem Comeback gute Chancen. Er müsse nur sich selbst in den Griff bekommen, seine Wutanfälle domestizieren, Realitäten und Regeln respektieren, kurz: Er müsse nur erwachsen werden. Dann würden nicht nur die „Abgehängten“, sondern auch College-Absolventen und bürgerliche Patrioten in der Wahlkabine ihre Ekelschwelle überwinden und ihm ihre Stimme geben.
Woodwards 500-Seiten-Protokoll verdient das Prädikat „besonders wertvoll“. Die Leser erfahren unzählige Einzelheiten über die Krankheit, aber wenig über den Patienten. Die drängende Frage bleibt unbehandelt: Wieso waren und sind Millionen Amerikaner überzeugt, Donald Trump sei die Lösung ihrer Probleme? Wieso sind sie noch immer bereit, jeder Lüge zu glauben, wenn sie nur nicht die Lebensrealität spiegelt?
– Wer die tieferen Zusammenhänge durchschauen will, greift nun zu Stephen Marche und seinem Buch.
Der Autor von „Aufstand in Amerika“ sieht klare Zeichen an der Wand: „Die wirtschaftliche und ökologische Instabilität wächst mit jedem Jahr. Die Früchte des Landes kommen nur denen zugute, die ganz an der Spitze stehen. Auf die Regierung, deren Legitimität nie von allen anerkannt wird, kann man sich nicht verlassen. (…) Das politische Ränkespiel zu beherrschen, hat Vorrang vor allen anderen Regierungsbelangen.“
1776 war die amerikanische Verfassung die modernste der damaligen Welt. Heute erscheint sie vielen als Muster mit wenig Wert. Elementare Regierungsaufgaben müssen sich gegen lähmende Wutattacken behaupten. Das Rechtswesen verliert galoppierend an Legitimität. Die Währung „Vertrauen“ in die politischen Institutionen ist im freien Fall. (Nicht jeder deutsche Leser wird hier fremdeln.)
Diesem System den Untergang zu prophezeien, braucht kaum noch Fantasie. Was immer man sich ausdenken könnte, ist längst irgendwo geschehen. Das Gründungsmotto der „Vereinigten“ Staaten war: „Aus vielen eines“. Wenn aber das „Eine“ versagt, zerfällt es in die „Vielen“. Schwarze und Weiße, Nord und Süd, starke Küsten- und schwache Flyover-Staaten, Juden, Christen, Muslime, Hindus, Mormonen, Scientologen, Einwanderer aus allen Ländern der Erde. – „Meltingpot“ war es nie, aber „neighbourhoods“ waren möglich. Marche: „Wenn man wollte, könnte man Amerika auf 327 Millionen Arten zerbrechen.“
Für den Autor ist der Aufmarsch zum Bürgerkrieg schon vollzogen. Es fehlen nur noch die auslösenden Ereignisse. „Schon heute werben Sheriffs freimütig für den Widerstand gegen die Bundesbehörden. Schon heute trainieren und bewaffnen sich Milizen in Vorbereitung auf den Untergang der Republik. Schon heute verbreiten sich die Lehren einer radikalen, unerreichbaren, messianischen Freiheit im Internet, im Talkradio, im Kabelfernsehen und in den Malls. Schon heute dürsten radikale Patrioten, ihre politischen Fantasien mit Gewalt durchzusetzen.“ – Kein Präsident kann heute noch Symbol der Einheit des Landes sein. Er ist immer nur Symbol der Spaltung. Ronald Reagan nannte – aus seiner Sicht – die neun beängstigendsten Wörter der amerikanischen Sprache: „Ich bin von der Regierung und möchte Ihnen helfen.“
Auf dieser Bühne lässt Stephen Marche fünf Stücke spielen. So wie man Klima- oder Pandemie-Modelle durchrechnet, entwirft er Szenarien, die verschiedenartig beginnen und dann – nach rasanter Kaskade von Stoß und Gegenstoß – in der gleichen Katastrophe enden. Der Auslöser ist zufällig und austauschbar. Ob ein lokaler Konflikt mit regierungsfeindlichen Patrioten, das Attentat eines messianischen Mörders auf die Präsidentin (sic), der Untergang New Yorks in einer Naturkatastrophe oder ein Gewaltexzess mit schmutziger Bombe. Immer markiert eine blutige Sezession das Ende der Republik. Denn so oder so: Die nötigen Waffen sind längst gekauft.
Dazu gehört auch die gezielte Informationsverschmutzung in den Medien. Der Konflikt werde nicht die heroische Würde einer klassischen Revolution haben, sondern – so Marche – eher der Logik einer Reality-TV-Show entsprechen. „Die extremsten Meinungen, die grellsten Verschwörungstheorien, die Aussicht auf die spektakulärsten Gewalttaten erhalten am meisten Aufmerksamkeit.“
Ist das Alarmismus oder Lust am Untergang? Spielt hier ein Autor auf der Klaviatur seiner kranken Fantasie? Die Verlockung ist groß, das Buch so zu lesen und es nach einem Seufzer („Du meine Güte!“) zum Altpapier zu legen. Aber sie verliert Seite um Seite ihre Argumente. Der verstörende Reiz dieser Hochrechnungen ist nicht ihre Exotik, sondern ihre Kongruenz mit der Realität.
Da wirkt es dann fast wie ein ritueller Flaggenappell, wenn der Autor sein Buch mit der Hoffnung auf das „gute“ Amerika beschließt: „250 Jahre lang waren da doch eben auch rechtliche und politische Institutionen, die höchst konkurrierende Interessen und Perspektiven verhandelten und so die größte Demokratie und Wirtschaftsmacht der Welt entwickelten.“ Spätestens jetzt wird deutlich, das Buch will nicht interpretieren sondern appellieren. Es will nicht, dass es so kommt, wie Marche den Teufel an die Wand gemalt hat.
Wer die USA regelmäßig bereist und vielfältige Kontakte pflegt, weiß: In diesem Land gibt es alles und jedes und das genaue Gegenteil zur gleichen Zeit.
Als Zutat wirkt in Marches Roman auch der Anhang über die möglichen Folgen eines mit sich selbst beschäftigten Amerikas für die Rolle Deutschlands. Diese werde in dem Maße wichtiger, wie der große Bruder schwächelt. Ob man aber hierzulande bereit ist, Diplomatie als die zivilisatorische Fähigkeit zu bewahren auch mit denen geordnet umzugehen, deren Weltanschauung man nicht teilt. Ob wir den Traum einer selbstbestimmten und zugleich regelbasierten Zivilisation wachhalten oder – wie bisher meist – den Zerfallstendenzen in „God’s own country“ nacheifern, ist noch sehr die Frage. – Schau’n wir mal!