Buch­be­spre­chung – Was ist los in den USA?

Le­se­emp­feh­lun­gen von Bodo Hom­bach

29. Ok­to­ber 2021

Drei Au­to­ren be­gra­ben eine alte Hoff­nung……

Im Jahr 1935 er­schien ein Buch aus der Feder von Sin­clair Lewis. Der erste ame­ri­ka­ni­sche No­bel­preis­trä­ger für Li­te­ra­tur hatte das frühe Na­zi-Deutsch­land be­reist und sich mit küh­lem Ent­set­zen ge­fragt, ob ein sol­cher Ab­sturz eines zi­vi­li­sier­ten Lan­des in die Bar­ba­rei auch bei ihm da­heim mög­lich sei („It can‘t hap­pen here“). „Lei­der ja“, war das Fazit sei­nes Ro­mans. Wer ihn heute liest, be­wun­dert die scho­nungs­lo­se Dia­gno­se eines schon da­mals von in­ne­ren Span­nun­gen zer­ris­se­nen Lan­des. Die frap­pie­ren­de Ähn­lich­keit mit „Trumps own coun­try“ bewog den Auf­bau- Ver­lag 2017 zu einer Neu­auf­la­ge.

Was ist los in Ame­ri­ka? – Diese Frage steht ganz oben auf der Agen­da, wenn sich der so­ge­nann­te Wes­ten mit dem pro­phe­zei­ten Ende der de­mo­kra­ti­schen Ver­fasst­heit sei­nes An­füh­rers nicht ab­fin­den will. Drei sehr le­sens­wer­te Neu­er­schei­nun­gen ver­su­chen ge­ra­de, die hoch­kom­ple­xe Si­tua­ti­on zwi­schen Buch­de­ckel zu pres­sen.

Alle drei sind wirk­li­che Ver­ste­hens­hil­fen und ver­mei­den die re­flex­ar­ti­ge Ab­leh­nung durch gei­fern­de Par­tei­lich­keit und Über­re­dung statt Über­zeu­gung. Die Au­to­ren ver­mei­den, was sie im ver­wun­de­ten Ame­ri­ka als Ur­sa­che ge­sell­schaft­li­cher Zer­ris­sen­heit aus­ma­chen. Die Über­stres­sung, Über­for­de­rung, Igno­ranz und Ge­ring­schät­zung des nicht Gleich­ge­sinn­ten. Sie las­sen uns Spiel­raum für die Ent­wick­lung des ei­ge­nen Stand­punkts.

Mary L. Trump: Das ame­ri­ka­ni­sche Trau­ma. Die ge­spal­te­ne Na­ti­on – und wie sie Hei­lung fin­den kann. Heyne Ver­lag. 254 S.

Fast eine Mil­li­on ver­kauf­te Ex­em­pla­re am Tag des Er­schei­nens. Das Buch schlug in Ame­ri­ka ein wie eine Bombe aus un­ge­schön­ter Ana­ly­se und boh­ren­der Selbst­kri­tik mit­ten hin­ein in ein Gift­ge­misch aus Hy­bris, Lüge, Hass und Leug­nung his­to­ri­scher Tat­sa­chen. Mary L. Trump gegen Onkel Do­nald, den das an­stän­di­ge Ame­ri­ka ge­ra­de mit dün­ner Mehr­heit vom Hof des Wei­ßen Hau­ses ge­jagt hatte. – Auf Wi­der­ruf, wie Do­nald glaubt und man tat­säch­lich fürch­ten muss.

Die Au­to­rin ris­kiert viel, aber sie kennt sich wis­sen­schaft­lich aus in Psy­cho­lo­gie, Trau­ma­the­ra­pie und Psy­cho­pa­tho­lo­gie. Sie legt ihr Land auf die Couch, denn of­fen­kun­dig lei­det es an einer post­trau­ma­ti­schen Be­las­tungs­stö­rung. Alle Sym­pto­me spre­chen dafür: Wut und Hass, aber auch Hoff­nungs­lo­sig­keit und Apa­thie, ge­paart mit ir­ra­tio­na­len Kurz­schluss­hand­lun­gen und ma­ni­scher Selbst­über­schät­zung. Die Co­vid-Pan­de­mie wurde zum Ka­ta­ly­sa­tor, ver­stärkt durch den „Ver­rat der Re­gie­rung, die ab­so­lut nicht be­reit war, uns durch diese bei­spiel­los grau­en­vol­le Zeit hin­durch­zu­hel­fen. Die dem Schre­cken viel­mehr er­laub­te, sich aus­zu­brei­ten und zu ver­schlim­mern.“

Mary L. ver­birgt ihr Er­schre­cken nicht : Vier­und­sieb­zig Mil­lio­nen Ame­ri­ka­ner wünsch­ten Trump einen zwei­ten Wahl­sieg, „trotz oder wegen der vier Jahre In­kom­pe­tenz, Grau­sam­keit, Kri­mi­na­li­tät, Heim­tü­cke, ver­fas­sungs­wid­ri­gen Ver­hal­tens und Ver­rats. Zu viele waren emp­fäng­lich für seine Fä­hig­keit, in ihrem Namen ge­kränkt zu er­schei­nen.“ – Zu viele hat­ten al­ler­dings auch Grün­de, dem eta­blier­ten Sys­tem gram zu sein. Die­ses Sys­tem – so die Au­to­rin – „ba­siert auf einer rück­stän­di­gen po­li­ti­schen Struk­tur“, wo ein un­de­mo­kra­ti­sches Wahl­män­ner­sys­tem immer wie­der Wahl­ver­lie­rer ins Amt hievt, wo die eine Hälf­te der Se­na­to­ren ein­und­vier­zig Mil­lio­nen Bür­ger we­ni­ger ver­tritt als die an­de­re. So könne eine ag­gres­si­ve Min­der­heit die Mehr­heit über­tö­nen bis hin zur „Nah­tod-Er­fah­rung“ am 6. Ja­nu­ar, als der Prä­si­dent einen ge­setz­lo­sen Mob zum Sturm auf das Ka­pi­tol an­feu­er­te, die Herz­kam­mer der ame­ri­ka­ni­schen De­mo­kra­tie. Von erns­ten Sor­gen höchs­ter Mi­li­tärs vor dem Fin­ger die­ses Prä­si­den­ten am Atom­knopf haben wir erst spä­ter ge­hört.

Mary L. Trump nimmt kei­nes der 120 Blät­ter ihres Bu­ches vor den Mund. Ihr Hei­mat­land er­scheint ihr als „Hoch­ri­si­ko­ge­biet“ mit schwe­ren „Vor­er­kran­kun­gen“. Ist das noch die „Füh­rungs­macht des Wes­tens“, „the land of the free“, seit 250 Jah­ren mit einer Ver­fas­sung, die sich selbst­be­stimm­te Bür­ger er­trotzt haben, und an der seit­dem die Träu­me aller Un­ter­drück­ten und die Alb­träu­me ihrer Un­ter­drü­cker Maß neh­men?

Diese Ver­ei­nig­ten Staa­ten sind nichts we­ni­ger als „ver­ei­nigt“. Es herrscht kal­ter Bür­ger­krieg. De­mo­kra­ten gegen Re­pu­bli­ka­ner. Weiße gegen Schwar­ze. Rei­che gegen Arme. Stadt gegen Land.

All dies sind Sym­pto­me tie­fer Ver­stö­run­gen, Ur­sün­den wie die Ver­nich­tung der In­dia­ner und die Ver­skla­vung ge­walt­sam ein­ge­schlepp­ter Afri­ka­ner. Deren ras­sis­ti­sche Ab­wer­tung durch die weiße Ober­schicht ver­drängt.

Der ame­ri­ka­ni­sche Traum war immer auch Trau­ma. Wie in der per­sön­li­chen Ge­schich­te des In­di­vi­du­ums gibt es auch in der­je­ni­gen des na­tio­na­len Kol­lek­tivs un­heil­ba­re Wun­den. Sie las­ten auf den See­len, streu­en Er­re­ger in den Kreis­lauf und de­sta­bi­li­sie­ren das Sys­tem. Nur Auf­de­cken und scho­nungs­lo­ses Be­nen­nen kann die Dä­mo­nen der Ver­gan­gen­heit ban­nen oder ra­tio­na­li­sie­ren.

Pa­cker, Ge­or­ge: Die letz­te beste Hoff­nung – Zum Zu­stand der Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Ham­burg 2021. 254 S.

Auch Ge­or­ge Pa­cker steht noch unter Schock. „Ob diese ge­wal­ti­ge Al­les-für-al­le-De­mo­kra­tie über­lebt oder vom An­ge­sicht der Erde ge­tilgt wird, ist eine in­ter­es­san­te Frage“, also keine ab­sur­de Un­mög­lich­keit. Für ihn hat das Ge­sicht Ame­ri­kas „tiefe senk­rech­te Fur­chen, ein „Grau der Er­schöp­fung rund um die Augen, mit „spär­li­chem Rest­haar, das drin­gend pro­fes­sio­nel­le Hilfe be­nö­tigt.“ So me­ta­pho­risch bleibt es nicht. Pa­cker kann auch nüch­tern: „Ich will sehen, wie die ganze Ge­schich­te hier aus­geht – wenn nicht für mich, so doch für meine Kin­der.“

Er re­du­ziert sein Land nicht auf den Ab­grund zwi­schen De­mo­kra­ten und Re­pu­bli­ka­nern. Vier Iden­ti­tä­ten hät­ten gro­ßen Ein­fluss auf die Po­li­tik: Free Ame­ri­ca ver­steht Frei­heit als Steu­er­frei­heit und staat­li­che Re­geln als wi­der­wär­ti­gen Ein­griff in ihre in­ne­ren An­ge­le­gen­hei­ten. Zu Real Ame­ri­ca zäh­len die von Grup­pe 1 aus der Mit­tel­klas­se ver­dräng­ten Ver­lie­rer: Re­pu­bli­ka­ner, länd­lich, weiß und pseu­do-christ­lich ver­strahlt. Die ge­bil­de­te, di­gi­tal ge­üb­te Elite ver­sam­melt sich in Smart Ame­ri­ca. Sie kul­ti­viert einen kos­mo­po­li­ti­schen Nar­ziss­mus und hält nichts von na­tio­na­ler So­li­da­ri­tät. – Bleibt noch Just Ame­ri­ca, jung und eben­falls ge­bil­det, kämpft für so­zia­le Ge­rech­tig­keit.

Der Autor ver­gibt keine plat­ten Zen­su­ren. Er glaubt an Maß­nah­men, die den Ab­wärts­trend ver­lang­sa­men oder stop­pen kön­nen: Eine aus­glei­chen­de Steu­er­re­form, eine be­fä­hi­gen­de De­bat­ten­kul­tur, die das La­ger­den­ken über­win­det. Warum nicht auch ein Zi­vil­dienst, bei dem ent­frem­de­te Grup­pen zu­sam­men­ar­bei­ten. Warum nicht gar eine Wahl­pflicht, um die fak­ti­sche Aus­gren­zung vie­ler Wäh­ler zu be­en­den. – Ein sym­pa­thi­scher Wunsch­zet­tel auf dem Fens­ter­brett. Viel­leicht fin­det ihn das Christ­kind und sorgt für Be­sche­rung. Altes Ur­ver­trau­en in de­mo­kra­ti­sche Sta­bi­li­tät bleibt er­schüt­tert.

Bur­gard, Jan Phil­ipp: Mensch, Ame­ri­ka! – Un­ter­wegs in einem Land im emo­tio­na­len Aus­nah­me­zu­stand. Mün­chen 2021. 298 S.

Der Jour­na­list Bur­gard macht keine Bü­cher, son­dern Re­por­ta­gen. Er geht mit Ka­me­ra und Mi­kro­fon an die Front­ab­schnit­te der Ge­sell­schaft. Er hat Lust auf Leute, Er­eig­nis­se, Orte, Si­tua­tio­nen. Re­por­ta­ge braucht den Re­por­ter. Wer etwas be“grei­fen“ will, muss sich damit be“fas­sen“. Nichts er­setzt die per­sön­li­che Nähe. Ge­fah­ren sind ein­ge­preist.

In zehn Son­die­run­gen sucht er das Land, das er schätzt, be­wun­dert, aber auch fürch­tet. Es geht um Ras­sis­mus und Po­li­zei­ge­walt, um Waf­fen­nar­ren und Amok­läu­fer, die Macht der Lob­by­is­ten, die bren­nen­den Wäl­der Ka­li­for­ni­ens und die di­gi­ta­len Bast­ler des Si­li­con Val­ley.

Vor Bur­gards lau­fen­der Ka­me­ra pral­len un­er­träg­li­che Kon­tras­te auf­ein­an­der. Men­schen ver­su­chen, ihre Iden­ti­tät gegen die fern­ge­steu­er­te Mas­sen­ge­sell­schaft zu be­haup­ten. Stän­dig drän­gen sich die Schat­ten der Ver­gan­gen­heit in den All­tag. Der blo­ckier­te Riese steht vor sei­nen de­sas­trös en­den­den Krie­gen. Er ver­folgt nicht seine Kriegs­ver­bre­cher, son­dern deren Ent­hül­ler. Da wun­dert nicht die Of­fen­heit man­cher Ge­sprächs­part­ner, die sich fast au­gen­zwin­kernd zu kri­mi­nel­len Hand­lun­gen be­ken­nen. Es scheint als sei der Miss­er­folg das ein­zi­ge Ver­bre­chen, des­sen man sich schä­men müss­te.

Bur­gard ge­lingt die Ba­lan­ce zwi­schen ge­nau­er Be­ob­ach­tung, küh­ler Ana­ly­se und doch auch per­sön­li­cher Be­trof­fen­heit. Ir­gend­wie mag er all diese Leute. Er will ver­ste­hen, wie sie wur­den, wer sie sind. Ein Leit­mo­tiv er­scheint ihm als all­ge­gen­wär­tig: Angst. Diese stärks­te der mensch­li­chen Emo­tio­nen ver­bin­det Ver­lie­rer und Ge­win­ner. Sie wird ge­schürt durch fa­na­ti­sche Apo­ka­lyp­ti­ker und po­li­ti­sche Ha­sar­deu­re, denen sich Sen­der und Zei­tun­gen an­die­nen, wenn das den Markt­an­teil stei­gert. Sie wird be­kämpft durch große und junge Be­we­gun­gen, die ihr Ur­ver­trau­en in die äl­tes­te De­mo­kra­tie der Neu­zeit nicht auf­ge­ben wol­len.

Die Angst er­scheint in tau­sen­der­lei Ge­stal­ten, und sie ist Kom­pli­zin der Macht. Wer auf die­ser Kla­via­tur zu spie­len weiß – Trump war Vir­tuo­se – kann er­schre­cken­de Re­ak­tio­nen ab­ru­fen und sich selbst dann als Ret­ter und Er­lö­ser an­bie­ten. –  Was Bur­gard noch nicht wuss­te: Nach dem Sturm auf das Ka­pi­tol soll Stabs­chef Mark Mil­ley seine Kom­man­deu­re an­ge­wie­sen haben, ein Spie­len am Roten Knopf durch den nicht mehr zu­rech­nungs­fä­hi­gen Prä­si­den­ten um jeden Preis zu ver­hin­dern…

Alle drei Au­to­ren ver­zich­ten auf an­ti-ame­ri­ka­ni­sche Häme. Sie lei­den unter den Pro­ble­men ihres Lan­des und wür­den sich „lie­bend gern“ irren. Das ver­leiht ihren Be­fun­den ein hohes spe­zi­fi­sches Ge­wicht. Und es macht die Leser zu Mit­au­to­ren. Es kann und darf ihnen nicht gleich­gül­tig sein, wenn die ge­fähr­lich über­dehn­te At­lan­tik-Brü­cke reißt. Und es scha­det die­ser Brü­cke auch nicht, wenn Eu­ro­pa dem ge­schwäch­ten gro­ßen Bru­der mit krea­ti­vem Selbst­be­wusst­sein und tat­kräf­tig zur Seite tritt, und in Zu­kunft nicht nur ge­le­gent­lich auch auf ei­ge­nen Wegen.

Wir ler­nen von allen drei­en, dass Ame­ri­ka so groß ist, dass es alles gibt und dass der Trum­pis­mus nicht alles spie­gelt, aus­drückt und be­herrscht. Wir ler­nen aber auch, dass die Trump-Epo­che noch nicht das Thema für His­to­ri­ker ist. Es wäre falsch, es nur unter dem As­pekt der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung zu sehen. Es bleibt das Me­ne­te­kel an der Wand.– Bur­gards Buch endet mit einem Satz von fei­ner Am­bi­va­lenz: „Lebe wohl, Ame­ri­ka!“