Rezension. „Der Freiheit eine Rettungsgasse!“- Prof. Dr. Manfred Lahnstein

Von Prof. Bodo Hombach

19. März 2020

Mit diesem Ruf stürzt sich Manfred Lahnsteins jüngst erschienenes Buch mit Wonne, aber – wie ich hoffe – auch mit einer Portion Ingrimm ins Gefecht. Der Titel moduliert ein Gedicht aus dem Jahre 1841 des „Jungdeutschen“ Georg Herwegh: „Der Freiheit eine Gasse!“ – Damals war wenig zu retten. Man musste noch alles erkämpfen, gegen Bajonette und Erschießungskommandos. Deutschland schickte sich an (zweiter Versuch nach dem Bauernkrieg) etwas Demokratie zu wagen. „Gottseidank verboten!“, dachte der biedermeierliche Michel und ließ sich das gefährliche Spielzeug „Parlament“ durch Bismarck schnell wieder aus der Hand nehmen. Auch dem dritten Versuch (Weimar) mangelte es an Demokraten. Wir wissen, wie er endete. Nun ist wieder Gefahr, und es sieht nicht so aus, dass „auch das Rettende wächst“ (Hölderlin). „Rettungsgasse“ heute heißt ja: Da ist ein schwerer Unfall, und Retter kommen nicht durch. Störer, Drängler, Voyeure behindern ihre Arbeit.

Lahnstein war MdB, Bundesfinanzminister, Kommissionär der EU, nach seinem Rückzug aus Kabinett und Parlament Präsident der ZEIT-Stiftung. Mit 81 Jahren ist er Grandseigneur einer SPD, die er mit 40 Jahren nicht vorausgekannt hätte. Sein Buch (160 Seiten, Nomos Verlag) versammelt und redigiert Vorträge, die ihm immer noch oder wieder fällig erscheinen. Frei nach B. Brecht: „Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich, / und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.“

Annäherungen an die eigene Zeitgeschichte tun gut daran, die Haltung des Ich-Erzählers zu wählen. Die Wahrnehmung der Ereignisse ist Wahr-Nehmung. Man nimmt, greift zu, bearbeitet. „Wie man’s nimmt“, entscheidet sich die subjektive Bewertung. Das hat zugeneigten Reiz. Entweder uns überraschen die Wahrheiten oder die Wehmut des Verfassers. Es könnte auch die des Lesers sein. Meine ist es.

Meine fidele Resignation beschämt seine Empathie jedenfalls.

Lahnstein würdigt eine Sozialdemokratie, die es so in der SPD nicht mehr gibt. Unter ihren Füßen hat sich die Tektonik der Parteienlandschaft verschoben. Immer wieder galt es, Koordinaten neu zu bestimmen. Schon Godesberg war der Abschied vom Klassenkampf. Das ermöglichte einen Modernisierungsschub, den auch die SchubUmkehr des linken Flügels nicht verhindern konnte. Drei historische Schritte waren überfällig und zu tun; sie gehören bis heute in die Haben-Spalte von Republik und Partei: Überwindung des Kalten Krieges (Ostverträge). Aggiornamento der Gesellschaft (Justizreform) und Versöhnung der sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik mit dem Kleinen Einmaleins (Agenda 2010). Heute sind zwei weitere Schritte fällig: Therapie der Klimakatastrophe und Verteidigung der Demokratie.

Auf diese kommt es ihm besonders an. Freiheitsliebe und Freiheitsdrang waren die Konstanten seines Lebens. Deshalb erspürt er Unheil. Die verfassungsmäßig garantierte Freiheit, aber auch die freie Entfaltung der Persönlichkeit sei „Aufforderung an jeden von uns“. Das sei nunmehr preisgegeben. Zahlreiche Eingriffe haben sich eingeschlichen und werden kaum noch bemerkt. Auf diesem Humus wachsen populistisch-autoritäre Neigungen und Regime. Die müssen nicht mehr putschen. Sie lassen
sich auf einer Woge von Desinformation und Demagogie bequem an die Staatsspitze tragen.

Lahnsteins Buch ist ein beherztes Lebenszeichen im Nachhinein. Man wandert durch politische Bilder einer Lebensausstellung. Es geht nicht um Stationen, sondern um zentrale Begriffe: kulturelle Identität und Verfassungspatriotismus, Demokratie und Wohlfahrtsstaat. Europa, Kunstfreiheit und Risikogesellschaft. Nie zu vergessen: Die
SPD als Partei der Freiheit. Aber das „Denken in Programmen“ muss beiseitetreten, um die „Notwendigkeiten der praktischen Politik“ durchzulassen. Was nützt es dem Wanderer, wenn die Karten richtig sind, aber das Gelände falsch.

Wen wundert’s: Lahnsteins Buch hat eine melancholische Komponente. Es ist Vermächtnis eines Homo Politicus, der sich der tragenden Werte seines Lebens vergewissert, während sie uns durch die Finger rinnen. Die 160 Seiten sind Gewissenserforschung und Weckruf. Sie gelesen zu haben, verpflichtet zu erhöhter Wachsamkeit