„Ein Buch gibt Auskunft“ – Rezension für das Handelsblatt
04. Dezember 2020
27.10.2020 Rezension für das Handelsblatt – von Prof. Bodo Hombach
Ein Buch gibt Aukunft
Marie-Janine Calic: Tito. Der ewige Partisan. Verlag C.H.Beck. München 2020. 442 S.
Ich lese ein unerwartetes, aber umso wichtigeres Buch. Historie, die Zukunft prägt.
Das Cover zeigt einen Mann in den mittleren Jahren. Soldatischer Filzanzug, darüber einen Militärmantel mit Hoheitszeichen auf dem Kragen, darunter der Streifen eines weißen, zivilen Hemdes. Kantiger Kopf. Der prüfende Blick taxiert ein unsichtbares Gegenüber aus den Augenwinkeln. „Tito“ steht groß und rot darüber.
Tito? – Wer war denn Tito? – Irgendwas mit Jugoslawien. – Aber wer oder was war Jugoslawien? – Ein 30-Jähriger von heute käme ins Stammeln. Ein Mann, ein Land, Spielsteine auf dem Brett des vorigen Jahrhunderts. Ein Buch gibt Auskunft, vorausgesetzt, der 30-Jährige weiß überhaupt noch, wie so ein „gadget“ funktioniert. Seine Welt hat mit derjenigen in diesem Buch nichts mehr zu tun. Der Mann hinter dem Cover, die hochdramatischen Ereignisse seines Lebens, die Umstände einer in zwei Weltkriegen zerfallenen Zeit. – „Gone with the Wind“.
Marie-Janine Calic sieht das anders. Sie hat einen Lehrstuhl für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Münchener Universität. Sie erforscht den „weichen Unterleib Europas“, wie Churchill die Region nannte, und für die Bismarck keinen preußischen Grenadier opfern wollte. Sie weiß, dass es sich nie gelohnt hat, zu wenig über den Balkan zu wissen. Im Gegenteil. Chronische Fehleinschätzungen der Großmächte ließen Spannungen zu Krisen und Krisen zu Katastrophen anwachsen. Am Ende präsentierte die Geschichte ihre blutige Rechnung.
Man sollte wissen, wie der Balkan „tickt“ und was dort möglicherweise immer noch oder wieder „tickt. Der jüngste Balkankrieg hat gezeigt, wie dünn die Tünche der europäischen Einigung ist, wenn sie die hier möglichen Chancen und Gefahren ignoriert. Ein ganz besonderes Interesse sollte Deutschland haben, denn das Terror-Regime von Wehrmacht und SS mit massenhafter Geiselerschießung und Judenvernichtung zwischen 1942 und 1945 macht uns mitverantwortlich für die Vergangenheit und die Zukunft der Region. Und wissen wir noch, dass ausgerechnet Tito schon 1955 von Chruschtschow verlangte, einer Wiedervereinigung Deutschlands zuzustimmen. Vergeblich, wie man weiß. Auch Adenauer sah außerhalb der Westverträge für die Bundesrepublik kein Heil. Erst die Ostverträge der Ära Willy Brandt ermöglichten einen Wandel durch Annäherung. Und hier leistete Tito erheblichen Flankenschutz.
Calic zeichnet den Lebensweg des Josip Broz Tito aus der Namenlosigkeit des Bauernsohns zum hymnisch verehrten Staatsgründer und Brückenbauer. Der Leser folgt einem Stationendrama. Die tektonischen Verschiebungen der Geschichte spiegeln sich in der Biografie eines Temperaments. Der Protagonist schlüpft in immer neue Rollen vom revolutionären Bolschewisten über den charismatischen Partisanenführer zum stalinistischen Autokraten. Und bald ist er der Abtrünnige, der Weltbürger als Gallionsfigur der Blockfreien bis hin zum „Richter und Schlichter“ und Visionär einer weltweiten Entspannung.
Die Autorin hütet sich vor hagiografischer Devotion, lässt aber Respekt erkennen. „In einer ideologisch und politisch total zerklüfteten Periode der europäischen Geschichte an exponierter Stelle schlechthin überlebt zu haben, ist eine Leistung, die wir Nachgeborenen nur schwer begreifen.“ Dem roten Zaren in Moskau, für den der eiskalte Massenmord zum alltäglichen Stoffwechsel gehörte, die Stirn zu bieten, gibt geradezu mythisches Gewicht. Eine von schroffen Gegensätzen zerrissene Region wie den Balkan in den gemeinsamen Dampfkessel zu zwingen und gleichzeitig zukunftsfähige Entwicklungschancen im weltpolitischen Maßstab zu erkennen, das verdient mehr als eine Fußnote im Geschichtsroman des 20. Jahrhunderts.
„Inmitten eines furchtbaren Krieges aller gegen alle setzte er auf Brüderlichkeit und Einheit, um die Völker wieder miteinander zu versöhnen. Es gelang ihm, Hass und Hetze einzuhegen, teils durch Überzeugung, teils durch Repression. 35 Jahre lang blieb Tito der unverzichtbare Moderator eines mehr oder weniger gedeihlichen Zusammenlebens der jugoslawischen Völker. Wie und warum ihm dies gelang, ist eine der großen Fragen, die diese Biografie zu beantworten sucht.“
Ob ihr das gelingt, muss der Leser entscheiden. In jedem Fall wird er merken, dass er ein großartiges Buch in den Händen hat. Die Autorin bleibt Herrin ihrer Recherchen. Scheinbar mühelos gelingt es ihr, die faktische Fülle der Ereignisgeschichte so zu bändigen, dass die tieferen Kraftlinien der Prozess- und Strukturgeschichte sichtbar werden. Ein bloßer „Apparatschik“ hätte sie wohl auch nicht interessiert. Josip Broz Tito war zwar der „ewige Partisan“, wie ihn der Untertitel apostrophiert, aber auch eine gebrochene Figur, die jedes Denkmal Lügen straft. Der „kommunistische König“ erinnerte sich, als junger Aufrührer vor Gericht gestanden zu haben: „Die Taktik des Gerichts war, die politischen Angeklagten durch Einschüchterung mundtot zu machen. – Ich hätte an ihrer Stelle das gleiche getan“, bekannte er später.
Der echte Revolutionär ist mehr als ein „Fallbeispiel“ seiner Ideologie. Irgendwann entdeckt er seine „mains sales“ (Sartre), das Blut an seinen Händen. Und er hat fast immer tragische Züge. Eigentlich muss er scheitern, wenn nicht vor seinem Tod, dann danach. Titos Jugoslawien überlebte seinen Schöpfer kaum ein Jahrzehnt. Calic: „Nirgends in der kommunistischen Welt war die Fallhöhe so groß wie dort, wo mit dem politischen Regime gleich der ganze Staat und mit ihm alle Regeln zivilisierten Zusammenlebens untergingen.“
Und doch: In den Ländern des scheinbar so ehemaligen Jugoslawien ist das Interesse an Tito groß mit steigender Tendenz. Europa hätte allen Grund, darüber nachzudenken.