Vortrag „Der unruhige Balkan Süd-Ost-Europa vor schwierigen Zeiten“

Versuch einer Quintessenz
Prof. Bodo Hombach

15. Juli 2020

Der Balkan oder Südosteuropa erscheint uns auf der europäischen Landkarte als Randbereich. Politisch und geostrategisch ist er ein Brennpunkt erster Ordnung. Die dortigen Probleme sind immer auch unsere Probleme. Sie sollten uns umtreiben. Das erfordert Anstrengung und Geduld. Sie erscheinen uns lästig, irrational, wie aus der Welt gefallen. Wer sie aber verdrängt, dem bringen sie sich in Erinnerung, unversehens und oft gewalttätig.

In der Geschichte gibt es – wie im privaten Leben – kollektive Traumata. Ereignisse wie das Massaker von Sebrenica sind nicht integrierbar vom allgemeinen Bewusstsein eines zivilisierten Staates. Sie tauchen ab ins Unterbewusste. Von dort streuen sie ständig Keime in den Kreislauf oder melden sich plötzlich als eruptive Störungen zurück.

Wer hier die Kontrolle zurückgewinnen will, darf nicht auf die erschreckenden Wirkungen starren. Er muss nach den Ursachen forschen. Geeignete Narrative können diffuse Spannungen rationalisieren, Blockaden aufweichen und vielleicht auflösen. Es geht um die „Kunst des Vergessens“. Das ist nicht Erinnerung als Waffe, auch nicht der verordnete Schlussstrich. Richtiges Vergessen ignoriert nicht die Vergangenheit. Es verweist auf die Zukunft. Es will diese nicht verbauen, sondern aus Erfahrungen fördern. Es erinnert konstruktiv nach vorne.

Der Balkan war immer Durchmarschgebiet und Nahtstelle der Großmächte. Das hinterließ Spuren. Es behinderte eine ruhige Entwicklung „in eigener Sache“. Es machte die Region zu einem Konglomerat aus schroffen Gegensätzen, künstlichen Grenzen und ethnischen Konflikten. Eine Zwangsvereinigung wie Titos Jugoslawien konnte das nur übertünchen.

Die Friedensvision von 1989 wurde deshalb auch nicht als großer Sprung in die Zukunft einer demokratischen Zivilgesellschaft begriffen, sondern zunächst als geschichtsrevisionistische Chance. Formaldemokratische Regierungen waren zu schwach und auch wenig bereit, die Konflikte zu entschärfen.

Seitdem auch die europäische Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands wieder zerfällt, droht auch der Balkanregion der Rückfall in den Status des geostrategischen Objekts. Russland und China haben da sehr robuste Ideen.

Die EU ist mit hausgemachten Problemen zu sehr beschäftigt, um ihre Alternative einer freiheitlichen Staatenfamilie attraktiv und entschlossen vorzutragen. Und auch im Westen begreifen viele nicht, dass sich eine Gemeinschaft mit jedem neuen Mitglied verändern muss, kann und darf.

Die wichtigsten Aufgaben bleiben: Stabilität und Sicherheit in der Region. Aufbau einer nachbarschaftlichen Solidarität, Vertiefung des Demokratiebewusstseins und der Rechtsstaatlichkeit als einzig tragfähige Legitimation staatlichen Handelns. Sie haben allerdings nur dann eine Chance, wenn sie nicht als theoretische Verheißung pseudopolitischer
Sonntagsreden daherkommen, sondern sich in der ganz konkreten Verbesserung der Lebensumstände materialisieren.

Zukunft liegt in den Händen der jungen Generation, aber nur dann, wenn ihr die Alteneine Perspektive geben. Das heißt Aufstiegschancen und die Bereitschaft, sich immer wieder in Frage stellen zu lassen.

„Das Beste und Wertvollste, was ein Mensch bauen kann, ist eine Brücke.“ – Ivo Andric, Nobelpreisträger für Literatur.

Ein Fernsehjournalist erzählte mir einmal von einem Projekt. Er wollte mit der Kamera in einem Auffanglager für Balkanflüchtlinge eine halbe Stunde lang nichts anderes zeigen als ein spielendes Kind. Aus dem Off hört man Stimmen der Erwachsenen, erregte,laute, manchmal schrille Töne. Sie werfen sich gegenseitig Urteile und Vorurteile an den Kopf. Sie machen uralte Rechnungen auf. Sie verweisen auf historische Daten, Mordnächte, verlorene Schlachten, die sie nach Jahrhunderten immer noch gewinnen
wollen. – Das Kind schaut mit großen Augen erschrocken in die Kamera. Es begreift kein Wort, aber es spürt: All diese Stimmen bedrohen sein Leben. – Ich weiß nicht, ob dieser Film realisiert wurde. Ich hätte ihn gern gesehen.