Vortrag „Der unruhige Balkan Süd-Ost-Europa vor schwierigen Zeiten“, mit Fr. Prof. Dr. Janine Calic und Dr. Srgjan Kerim

Gastreferenten:

Fr. Prof. Dr. Janine Calic
Dr. Srgjan Kerim

Begrüßung/Einführung:
Professor Bodo Hombach

17. Juni 2020

Meine Damen und Herren,

„Unruhiger Balkan“. Ich begrüße Sie zum letzten Termin unseres kleinen Seminars über ein großes Thema. Unsere Gäste sind hochkarätige Experten. Beide waren wichtigste Stützen, Berater und Gestalter für den Stabilitätspakt Süd-Ost-Europa.

Ich beginnen mit Herrn Dr. Srgjan Kerim, weil er den Anfang macht. Seine Funktionen waren so vielfältig ; ich werde verdichten. Staatssekretär in Jugoslawien, Hochschullehrer, Botschafter, Außenminister von Mazedonien, Verlagschef und auch Vorsitzender der UN-Vollversammlung.

Unser zweiter wichtiger Gast ist heute Frau Professor Marie-Janine Calic. Sie haben den von ihr inspirierten Film über den Zerfall Jugoslawiens gesehen und dazu schon viele Fragen gestellt. Süd-Ost-Europa ist seit vielen Jahren ihr Forschungsgebiet. Sie weiß mehr darüber als wir fragen können. Detail oder Überblick. Sie ist die personifizierte Kompetenz. Ich freue mich sehr, dass auch sie sich uns zur Verfügung stellt. Herzlich willkommen!

Ich nehme mir vorab die Zeit für einen speziellen Aspekt. Nur ein Schlaglicht. Aber es beleuchtet ein vitales Problem der Region.

Das wichtigste Potenzial dort – wie überall – ist die junge Generation. Wenn der Balkan „unruhig“ ist, dann zeigt sich das besonders in dieser Schicht. Natürlich gibt es überall Generationskonflikte. Gefährlich wird es bei strukturellen Ursachen, die nicht offen benannt und bearbeitet werden.

Die Staaten Südosteuropas haben ein solches Problem. Machtmissbrauch und Korruption erzeugen Misstrauen in die staatlichen Institutionen. Gelenkte Presse und „wählerische“ Justiz verringern die demokratische Legitimation der Exekutive. Im wachen Teil der Bevölkerung wachsen Unruhe und Widerstand. Bleibt dieser langfristig ergebnislos, wächst die Sehnsucht nach einem „gelobten Land“ hinter dem Horizont. Der Blick in den Fernseher und aufs Smartphone zeigt, dass es anderswo anders zugeht. Illusionen inklusive. Vor allem die Jungen und die gut Ausgebildeten wandern aus. In diesem Fall gern nach Westen.

Der Heimatstaat ist zu schwach, die junge Generation im Land zu halten. Und ist man erst einmal Mitglied der EU, sind die Grenzen offen und ist Freizügigkeit garantiert. Die reichen Nachbarn hungern nach Fachkräften, locken mit attraktiven Angeboten, bieten gute Startbedingungen und lukrative Gehälter. Also packen viele die Koffer.

Das hat katastrophale Folgen für die Daheimgebliebenen. Fachkräfte fehlen. Die Wirtschaftsdaten schrumpfen. Die Löhne bleiben gering. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Gesundheitssysteme scheitern. Besonders prekär bei der alternden Gesellschaft. Die Schäden des Jugoslawienkrieges sind auch noch längst nicht behoben. Insgesamt bleibt die Lebensqualität defizitär.

Die Alten kennen das schon, haben sich daran gewöhnt oder resigniert. Wer aber noch eine lange Lebensspanne vor sich hat, findet sich nicht damit ab. Man will Aufstiegschancen, eine Familie gründen, soziale Sicherheit, Teilhabe an Freizeit und Kultur. Wenn nicht hier, dann eben woanders.

Der Belgrader Bevölkerungsforscher Vladimir Greig beziffert diesen „Brain-Drain“ allein für Serbien mit 300.000 jungen Leuten in den letzten 10 Jahren, darunter 40.000 qualifizierte Hochschulabsolventen. Deren Ausbildung kostete das Land rund 12 Milliarden Euro. Rumänien verlor seit der Wende von 1989 drei Millionen Bürger, Kroatien seit dem EU-Beitritt 2013 jährlich etwa 25.000 Einwohner, oft ganze Familien.

Vor allem der Verlust an Ärzten und Pflegepersonal ist dramatisch. Laut Bundesärztekammer praktizieren rund 50.000 Mediziner aus Süd-Ost-Europa in Deutschland. Tendenz steigend. In Serbien verdient ein Spezialist bis zu 900 Euro im Monat, in Deutschland und Österreich liegen bereits die Anfangsgehälter für Ärzte bei ca. 2.200 Euro netto.

Nun möchte man hoffen, die gebildeten Emigranten würden eines Tages zurückkehren, um ihr Wissen und ihre Erfahrung in die Heimat zu tragen. Die Hoffnung trügt. Man gewöhnt sich schnell an den neuen Lebensstil in der Wahlheimat.

Die „Nestflüchter“ fehlen in ihren Ursprungsländern. Und das verringert deren Entwicklungschancen. Als „Werkbank“ und Billiglohnländer haben sie schlechte Karten. Sie fühlen sich ausgebeutet und wollen nicht für immer die Rolle der armen Verwandten spielen. Schon gar nicht, wenn man sie dafür auch noch als die Schmuddelkinder der Großfamilie verachtet. – Wen wundert’s, wenn die EU-Skeptiker Zuwachs bekommen.

Das sollte den Westen alarmieren. Auch hier stößt eine blinde Globalisierung zunehmend auf Fragezeichen. Global denken und handeln heißt eben nicht nur das größere Jagdgebiet für die alten Partikularinteressen. Ein System ist auf Dauer nicht zukunftsfähig, wenn es die Vorteile der Starken mit den Nachteilen der Armen bezahlt.

Ein großes Quantum Melancholie. –
Frau Professor Dr. Calic, Herr Dr.Kerim, haben Sie vielleicht ein Quantum Trost?