Beitrag für Festschrift zum 80. Geburtstag von Wolfgang Clement – Fester Blick zum Horizont

20. Mai 2020

Fester Blick zum Horizont

von Prof. Bodo Hombach

Wir leben in Zeiten allgemeiner Verunsicherung. Das ist Konsens. Das Ungewisse ist die neue Konstante. Propaganda und Gegenpropaganda … Meinung wird Überzeugung und ignoriert Realitäten … Fake News und Filterblasen … Intentionaler Journalismus statt Faktentreue. Zu viele denken bevorzugt im Sprechchor und kommunizieren mittels Megafon.

Thomas von Aquin schrieb – man halte sich fest: „Ich darf meinem Meinungsgegner erst dann widersprechen, wenn ich das beste seiner Argumente überzeugender vortragen kann als er selbst.“

So weit werden wir es nicht bringen, aber überprüfbares Wissen steigt im Kurs. Corona macht’s möglich. Die nicht Dummen oder dumm Gemachten hören wieder denen zu, die wissen, worüber sie reden. Das postfaktische Zeitalter wurde zu früh ausgerufen. Auch der Betrüger will nicht betrogen werden. Aber Vorsicht! Wissenschaft ist immer in Bewegung, vorläufig und unsicher. Sie lebt vom kategorischen Zweifel? Hat uns nicht Karl Popper gelehrt, dass wir uns der Wahrheit nur von Irrtum zu Irrtum nähern?

Manchmal ist Paradigmenwechsel. Ganze Sichtweisen werden plötzlich verworfen und mit ihnen die vermeintlichen Fakten. Neues Wissen lässt alte Zeit verwelken. Neues Wollen ist aber außerwissenschaftlich motiviert. Der Forscher beschreibt die Welt, wie sie ist oder zu sein scheint. Er weiß nicht besser als irgendwer, wie sie sein soll.

Rationales Denken ist kein Besitz, sondern eine Methode: selbstkritisch, argumentativ, friedlich, kreativ. Dazu gehört der Mut, dem Mainstream zu misstrauen, die Geduld, Originalquellen zu suchen, der Scharfblick, sprachliche Nebelbomben und Interessen zu durchschauen und die Weisheit, das Bedeutsame vom Nebensächlichen zu unterscheiden. – Meinungen sind immer ein Kostüm. Darunter steckt ein Mensch.

Also her mit der fröhlichen Wissenschaft des entspannten Selbstzweifels, der lustvollen Debatte, der anregenden Vielfalt. Schon aus Eitelkeit. Ein Mensch ist schöner, wenn er lacht, als wenn er uns seine Dogmen erklärt. Die „ewigen“ Wahrheiten lassen uns dumm aussehen.

Im Grunde ist das wie Fahrradfahren. Es beginnt mit dem totalen
Risiko. Man nimmt Anlauf, springt ab vom sicheren Untergrund, vertraut
sich zwei schmalen Rädern an und einer geheimnisvollen Physik.

Plötzlich lebt man in einem neuen, spannungsreichen Zustand. Es ist
Pendeln um die Mitte und eine Art langgezogener Sturz in Richtung
Ziel. Dazu muss man das Erreichte zurücklassen und kräftig in die
Pedale treten. Nicht auf das eigene Vorderrad starren, sondern einen
fernen Punkt in der Ferne anvisieren! Wer ängstlich auf Sicherheit
setzt und gar stehenbleibt, kommt ins Straucheln. Auch die exakte
Linie ist gefährlich. Es ist wie in der Liebe: Der Umweg ist die kürzeste
Verbindung, ein Schlingerkurs zwischen Zweifel und Gewissheit
inmitten eines großen, weltumspannenden Vertrauens. Fundamentalisten
und Dogmatiker müssen diese Art der Fortbewegung hassen.

Wer nicht aufpasst, gerät schon mal in deren Rille und hat Mühe,
wieder herauszufinden. Auch liegen zuweilen spitze Gegenstände im
Weg, und plötzlich ist „die Luft raus“. Aber das ist zumeist kein Beinbruch.
Der geübte Radler hat sein Flickdöschen dabei. Er hält den
Schlauch unter Wasser und findet schnell die undichte Stelle. Er
klebt sein Gummipflaster drauf (vorheriges Aufrauen der Umgebung
nicht vergessen!), und die Spannkraft kehrt zurück.

Am Wegrand stehen natürlich auch die Aufpasser, die dogmatischen
Wadenbeißer und moralischen Buchhalter, immer bereit, Anstoß zu
nehmen. Er winkt ihnen lachend zu und fährt davon. Er braucht nicht
die Stützräder, die sie ihm verordnen wollen und lässt sich den
Fahrtwind um die Ohren sausen.

Er ist und bleibt der zielsichere Wanderer zwischen den Welten. Sein
„Standpunkt“ ist der „Horizont“. Hier sucht er nach interessanten Erkenntnissen, hier verbündet er sich mit Ideen und Kräften, die in die
Zukunft führen. Hier schließt er Gräben oder baut Brücken, hier
leuchtet er düstere Winkel aus und fördert den grenzüberschreitenden
Verkehr des Geistes. Er weiß ja und vergisst es nie: Die letzte
und einzige Wahrheit war immer der Irrtum ihrer Erfinder.

Überhaupt: Das Ganze hält den Geist frisch. Es bringt den Kreislauf
in Schwung, nicht nur den der Füße. Es trainiert das Gleichgewichtsorgan
und die Feinmotorik. Man kann auf diese Weise ohne weiteres
80 werden…

Da fällt mir – Ihnen ganz sicher auch – Wolfgang Clement ein.