Vortrag „Der unruhige Balkan Süd-Ost-Europa vor schwierigen Zeiten“, mit Dr. Thomas Brey

Gastreferent: Dr. Thomas Brey

Einführung:
Prof. Bodo Hombach

06. Mai 2020

Meine Damen und Herren,
verehrter Herr Dr. Brey,


bei unserem ersten Treffen ging es um eine Region im Umbruch. Das bedeutet Spannungen, Schwierigkeiten, Konflikte. Alte Gewissheiten gelten nicht mehr. Neues ist voller Chancen, aber auch Risiken. Frei nach Kant geht es auch bei Völkern und Staaten um die vier Grundfragen: Wo komme ich her? Wohin gehe ich? Wer bin ich überhaupt? Und: Was soll ich tun?

Eine erste Annäherung haben wir versucht. Südosteuropa hat eine besondere Rolle als Gelenk zwischen Ost und West. Es war Einfallstor der Eroberungen und Spielfeld für die Machtinteressen der Großmächte. Es passierte zu viel Geschichte auf zu wenig Geografie. Die Ereignisse hinterließen Spuren, Narben. Sie forderten Deutungen und waren offen für intentionale Erzählungen. Interessengruppen, Parteien, ethnische Identitäten gaben ihren „Spin“.

Seit dem Ende des Sowjetsystems und Titos Jugoslawien versuchen die drei Blöcke Europa, Russland und China sich geostrategisch neu zu positionieren. Wird der Balkan Brücke oder Graben? Hat er nur eine Rolle als Statist und mit fremdem Text, oder spielt er sein eigenes Stück? Die Souffleure stehen auch bereit.

Völlig klar: Die Bühne ist das Selbstgespräch der Gesellschaft. Das Skript liefern Presse und Medien.

Ich will unserem Gastreferenten keine Zeit stehlen. Deshalb nur ein paar Bemerkungen und Beobachtungen.
Die meisten Konflikte sind Ansichtssachen. Die Fakten mögen so oder anders sein. Wie sie wahrgenommen und bewertet werden, hängt von der subjektiven Perspektive ab. Wer sich hier nicht auf bloße Befindlichkeiten verlassen will, sucht ein realistisches Bild der Welt. Dazu braucht es verlässliche Quellen und vertrauenswürdige Vermittler. Es braucht freie und unabhängige Medien.

Human Rights Watch diagnostizierte auf dem gesamten westlichen Balkan Defizite. Pressefreiheit ist noch vielfach eher Wunsch und Wille als reale Basis für kritische Journalisten. Sie arbeiten zum Teil in einem feindseligen Klima. Es gibt Fälle von Diskriminierung und Einschüchterung bis hin zu Todesdrohungen und realen Attentaten.

Bei allen Wahlen ist der Kampf gegen Korruption ein großes Thema. Amtsinhaber missverstehen sich als Amtsbesitzer. Das schmälert ihre Legitimation in der Bevölkerung. Die war in der langen Geschichte autokratischer Systeme ohnehin nicht sehr stark. Recht und Gesetz sind durchsetzungsschwach. Da braucht es die Macht der Enthüllung. Die Angst, es könnte etwas herauskommen, ist ein starker Impuls.

Oligarchen und auch gewählte Regierungen versuchen, die Medien in ihre Hand zu bekommen. Kritische Journalisten werden illegal überwacht, teilweise unter fragwürdigen Umständen verhaftet. Beliebter Vorwurf: Spionage für ausländische Mächte.

Es geht nicht nur um Macht und Geld. Rückwärtsgewandte Gruppen präsentieren uralte Rechnungen, schüren ethnische Spannungen. Jeder empfindet sich als Opfer, niemand als Täter.

Von außen kommen zusätzliche Störmanöver. Russische Propagandamedien werden von Zeitungen und Internetportalen unkommentiert übernommen. Sie gießen Öl ins Feuer, schüren Misstrauen und Unzufriedenheit gegenüber der demokratischen Gesellschaftsordnung und der Europäischen Union. Wladimir Putin betrachtet den Zusammenbruch der Sowjetunion als die größte Katastrophe der russischen Geschichte.

Europa laviert seinerseits unscharf und zerstritten. Freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit gehören zu den Kopenhagener Kriterien für den EU-Beitritt. Die Kommission bringt in ihren jährlichen Berichten zur Menschenrechtsbilanz der Westbalkanstaaten regelmäßig ihre Besorgnis zum Ausdruck, liefert aber kaum detaillierte Empfehlungen.
Anders das Europäische Parlament. Es gibt dem Thema „Pressefreiheit“ bei den Beitrittsverhandlungen oberste Priorität.

Das ist aber nicht gängige Praxis. Die erklärte Hoffnung, den ewigen „Unruheherd Südosteuropa“ zu befrieden, kollidiert mit der Angst, sich mit neuen Passagieren neue Probleme an Bord zu holen.

Das war schon einmal anders. Nach einer Phase der Angleichung der politischen, wirtschaftlichen und rechtsnormativen Verhältnisse sollten die früheren jugoslawischen Republiken Mitglieder werden. Es gab eine Neigung, die Bedingungen großzügig auszulegen. Man hoffte, die Aufnahme in den Club würde die noch nicht ganz erreichten Lernziele fördern.

Inzwischen überwiegt Skepsis. Kein Wunder nach Brexit, Eurokrise und dem Debakel der Flüchtlingspolitik. Ich bin gespannt, was uns Corona hinterlassen wird. Eine neue Wertschätzung solidarischer Zusammenarbeit oder die Vertiefung alter Gegensätze?

Schwache Regierungen in einzelnen Mitgliedstaaten setzen auf „gelenkte Demokratie“ und versprechen sich Vorteile von nationalistischer Abschottung. Europa ist dann nur die Kuh, die man melken kann, ohne sie auch zu füttern. Wer kritische Fragen stellt, gilt als Nestbeschmutzer oder Fünfte Kolonne.

Eine gleichgeschaltete Presse im Bunde mit Fakes und Bots in den Netzwerken sorgt für Beifall an der Wahlurne. Es verrät jedoch die Hoffnung der jungen Generation auf ein Leben in demokratischen und rechtsstaatlichen Verhältnissen mit offenen Grenzen zur Welt.

Lieber Herr Dr. Brey, teilen Sie diese Einschätzung oder müssen Sie widersprechen? Machen Sie uns klüger als wir jetzt sind!

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