„Sozialer Klebstoff? Die Rolle des Fußballs in Deutschland“ BAPP, 16. Mai 2019

Begrüßung durch Prof. Bodo Hombach

16. Mai 2019

Verehrter Herr Ruhr- und Militär-Bischof Dr. Overbeck,
verehrter Herr Hoeneß,
verehrter Herr Tönnies,

ich danke im Namen aller hier, dass Sie den Weg in die Ur-Hauptstadt der Bundesrepublik auf sich genommen haben. Herzlich willkommen bei uns!

Herr Chefredakteur Bröcker wird wenig Zeit brauchen, so exponierte und prominente Gäste vorzustellen. Ihm danke ich für seinen Mut. Er moderiert ein Thema, von dem jeder jederzeit mehr versteht … zumindest mehr als ich.

Verehrte Damen und Herren!

Wir haben großartige Gäste. Langjährige Vereinschefs, Unternehmer und, wie Herr Hoeneß, auch Erfolgs-Fußballer. Wir haben ein Thema von hoher Relevanz. Wenn ich Medien glaube, drängt sich ein Verdacht auf: „Bayern München sucht Probleme. Schalke hat Probleme.“ Das wird man hinterfragen. Herr Bischof ist ja von Hause aus in Milde und Vergebung geübt. Da müssen wir alle viel von ihm lernen.

Es laufen 22 Leute in eine Arena ein. „Sie rennen hin. Sie rennen her / und machen sich das Leben schwer.“ Das Runde soll ins Eckige. Da steht einer, der will das verhindern. Initiativen der einen wollen die andere verhindern. In 90 Minuten kommt es durchaus zu Rempeleien. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist gefährdet. Gegen das Übelste wirkt Angst vor dem schwarzen Mann. Alles in aller Öffentlichkeit. Zuschauer gehören zum Spiel …. sie sind wichtiger Bestandteil. Sie machen die Musik und die Stimmung.
Wenn auf Schalke das Licht ausgeht und knapp 60.000 singen das Steigerlied. Da ist man Mensch, da kann man sein. Sie könnten es einfacher haben. Gemütlich zuhause sitzen, was lesen, Musik hören oder sonst Entspannung suchen. Aber nein. Sie wollen Aufregung. Also kriegen sie sie.

Ich besuchte einen Freund im Krankenhaus. An diesem Nachmittag war Endspiel einer Weltmeisterschaft. Klar, dass man einen Fernseher aufgestellt hatte, sogar in der Kardiologie. Da saßen sie alle in Bademänteln oder lagen im Rollbett. Einige am Tropf. Ich sah blasse Gesichter und Verbände. Ich hörte wilde Ausrufe, sah heftige Bewegungen. Das Spiel riss sie in seinen Bann. Auf dem Platz: 44 drahtige Beine und athletische Jungs. Aber Jeder hier auf Station wusste, was die falsch machten. Man protestierte gegen den Schiedsrichter. Es gab heftigen Wortwechsel. Schwestern und Ärzte kamen regelmäßig und sahen besorgt nach dem Rechten. Für anderthalb Stunden vergaßen alle ihre Hinfälligkeit, ihre Rhythmusstörungen, ihre Bypässe und Stents.

Ein Spiel. Nichts als ein Spiel. Und doch. Da spielt etwas Besonderes mit. Jeder von uns hat damit seine Geschichten. Manche liegen weit zurück. Für viele gab es in der Kindheit wenig Schöneres als auf dem Bolzplatz zu toben. Nationen beben, wenn ein glücklicher Schuss das Turnier entscheidet.

Sozialwissenschaftler belehren uns: Quasi sämtliche Großgruppen der Gesellschaft – Parteien, Traditionsvereine, selbst Kirchen – leiden an heftiger Auszehrung. Der Siegeszug des Fußballs hält an. Er erobert sogar bisherige Brachen wie die USA, China, Indien, Afrika und die arabische Welt. Die Identifikation mit dem Fußballclub ist ein Stück Heimat. Es ist ein Schauplatz des Lebens. Voller Geschichten und Erinnerungen. Mitgefühlte Triumphe und Niederlagen. Glühende Begeisterung und tiefe Depression. Schuld und Sühne. Gemeinschaft und Wettkampf. Anderswo wird man selbst herumgeschubst oder steht im Stau.

Viele fühlen sich als „Terminal“ anonymer Mächte des Internets, der Politik. Das Stadion bietet Spannung und Entspannung. Vom sogenannten „kleinen Mann (oder Frau)“ in der bebenden „Fan-Wand“ bis zum Superboss auf der VIP-Tribüne. Es ereignen sich Momente gefühlter Freiheit, Leidenschaft und Leichtigkeit. Das hat durchaus religiöse Nähe.

Ich kann Bischof Overbeck nicht ins Handwerk pfuschen. Die kleine Theologie des Fußballtretens sollte ich mir verkneifen. Aber man ahnt eine Verbindung zwischen Fußball und Spiritualität. Deshalb bitte ich vorab meine Textübung zu verzeihen.

„Glaube, Liebe, Hoffnung“ – Da hat der Heilige Paulus sicher an Schalke gedacht. Bibelstellen belegen den Verdacht, dass Vereinspräsidenten von Johannes schöpfen. “Wenn ihr bleibt in meiner Rede, so seid ihr meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Auch die Sponsoren finden wir bei Johannes: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht. Denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ Zu den Spielerverträgen heißt es bei Paulus: „Ihr seid teuer erkauft. Werdet nicht der Menschen Knechte.“ Für Trainer schrieb er: „Wie ein Vater seine Kinder liebt, so liebt der Herr alle, die ihn verehren. Dein Wort ist meines Fußes Leuchte, Dein guter Geist führet mich auf ebener Bahn.“ Zum Mannschaftsgeist: „Einer trage des Anderen Last. Dienet einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat.“ Zum Anspielpartner empfiehlt Jeremia: „Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchet, so will ich mich von euch finden lassen.“ Zum Gegner: „Liebet Eure Feinde, segnet, die euch fluchen. Tut wohl denen, die euch hassen. “Selbst das Finanzamt fehlt nicht: „Ich bin bei euch bis ans Ende der Welt.“

Fritz Pleitgen erinnerte in einer Kanzelrede an den Jugendkaplan der Dreifaltigkeitskirche vom Borsigplatz. Der war entsetzt über das „rohe und wilde Treiben“ seiner Schützlinge, die mit heidnischem Geschrei eine Schweinsblase durch die Gegend trieben. Die cleveren Dortmunder Jungs ließen sich nicht einschüchtern. 1909 gründeten sie einen Verein.
Ein Jahr zuvor war Wilhelm Busch gestorben. Der hätte sich auf den Dortmunder Max- und Moritz-Streich vielleicht einen eigenen Reim gemacht. – Fritz Pleitgen sprang in die Bresche, nämlich so:

Dem Kaplan, zu dessen Pflichten
es gehörte, diese Jugend
auf den Pfad der frommen Tugend
hinzuführ‘n und auszurichten,
brav, gehorsam, fromm und bieder,
ihm war solches Tun zuwider.
Also ließ er auf die Knaben,
deren Seelen schwarz wie Raben,
und die Köpfe voller Flausen
seine Predigt niedersausen,
voller Lockungen und Flüche
und geballter Bibelsprüche.
Gegen jenes Bälletreten
helfe Büßen nur und Beten.
Dachte, nun sei es vorbei
mit der Übeltäterei.
Doch die Knaben sagten: „Nein!
Kommt, wir gründen den Verein,
wo wir bolzen, schreien, rennen
und uns täglich treffen können!
Und wär solches nicht geschehn,
würde ich hier jetzt nicht
stehn.“

Es gibt die großen Feste des Fußball-Kirchenjahres. Massen pilgern zu den „heiligen Stätten“ der großen Stadien. Zehntausende versammeln sich in Freiluft-Kathedralen. Es entfaltet sich gewaltige Liturgie, mit Sprechchören und Gemeindegesang, mit kollektivem Aufstehen und sich wieder Niederlassen. Nirgendwo wird inbrünstiger gehofft, gelitten, gebetet. Man sammelt Reliquien, Autogramme und verschwitzte Trikots. Die stellt man daheim in eine Vitrine. Es gibt sogar Wunderheilungen:

Ein Spieler, ist eben noch im Strafraum dramatisch zusammengebrochen. Aber der Schiedsrichter hat‘s nicht gesehen. Im nächsten Moment springt er auf und kämpft weiter als wäre nichts geschehen.

Das hat etwas Magisches. Zuweilen sogar Gespenstisches. 80.000 strömen ins Stadion. Berittene Polizei bildet ein Spalier. Vielleicht wurden vorher Züge demoliert. Potentielle Gewalt liegt in der Luft. Der ritualisierte Konflikt kann umschlagen in das, was er ursprünglich sublimieren sollte: Willkommene Gelegenheit für anarchische Gelüste, sich auszutoben und in der Masse unterzutauchen.

Verhaltensforscher können viel dazu sagen. Dieser Massensport kann verbindendes Element sein. Eine Identität stiftende Kraft, die ein Gemeinschaftsgefühl mit Akteuren vieler Nationen erlaubt. Ein friedlicher Wettkampf mit Fairness gegenüber Schwächeren. Austausch der Trikots nach der „Schlacht“. Diese Veranstaltung kann aber auch an Auswüchse als Symptom einer zerfallenden Gesellschaft erinnern. Man denkt an „Brot und Spiele“ der römischen Spätantike.

Ist das noch Stadion und Sport oder Arena mit Gladiatoren? Dürfen die Kämpfer noch verlieren? Medien und Zuschauer Daumenheber oder -senker. Ein Lattentreffer beim Elfmeterschießen, und in dieser Sekunde verliert der Verein viele Millionen Euro!
Überhaupt das Geld! Explodierende Kommerzialisierung. Wo landet die schönste Nebensache der Welt bei globaler Schacherei?

Die Kultur des Sports mit der ganzen Buntheit ihrer verschiedenen Traditionen und Temperamente ist eine gewachsene. Sie hat regionale Wurzeln. Sie lebt von und durch ihre treuen Anhänger, den Fans. Die sind nicht nur die bewegende und bewegte Kulisse. Vereinsbosse und Politik haben ein gemeinsames Thema. Sie müssen das wachsende Bedürfnis nach Übersichtlichkeit, Mitgestaltung und individueller Bedeutung mit der Dynamik von Globalisierung und Ökonomisierung in Einklang bringen.

Fragen, Beobachtungen und vielleicht die eine oder andere Perspektive. Ganz sicher ein Thema für unsere Akademie. Es steht – zumindest analog – für ein Kernproblem der Gegenwart: Die Solidargemeinschaft bröckelt. Das Gefühl, irrelevant zu sein, verbreitet sich. „Auf uns hört ja keiner“, hört man so oft wie nie zuvor. Da braucht es Therapie.

Der Fußball hat die Welt erobert. Er ist zunehmend globales big-business und Prestigeobjekt für Regierungen. Wird er zwischen den Ansprüchen zerrieben oder kann er sich heilsam behaupten, gestützt auf die elementare Kraft seiner überaus menschlichen Wurzeln? Es gibt da den Trompeten-Willy, der auf Schalke fast jedes Spiel anbläst. Wenn seine Mannschaft verliert, hatte er Schuldgefühle. Dann – so glaubte er – hatte er nicht gut genug geblasen.

Wir freuen uns auf unsere großartigen Gäste mit Neugier und Friedfertigkeit.

Adi Preißler, langjähriger Kapitän beim BVB, hat gelehrt: „Entscheidend is auf‘m Platz!“
Unsere kenntnisreichen Gäste sind Garantie. Diesen Platz verlassen wir klüger als wir angetreten sind