Medien, Propaganda und Politik – Eine Hassliebe – Universität Bonn, 3. April 2019

Medien, Propaganda und Politik
– eine Hassliebe –

Gastreferent:
Julian Reichelt

Einführung:
Prof. Bodo Hombach

3. April 2019

Meine Damen und Herren,

in vier Begegnungen wollen wir Begriffe klären und vielleicht Kriterien gewinnen – auf einem Feld, das sich zunehmend verwirrt. Wir erleben wenige Leuchtkugeln und viele Nebelkerzen. Dabei ist es von existenzieller Bedeutung. Besonders für Sie, die noch eine lange Portion Zukunft vor sich haben.

Wie bei jedem dieser Seminare durchkreuzen oder ergänzen wir theoretische Erörterungen durch exponierte Fachleute. Diesmal haben wir einen besonders exponierten, hochrangigen und interessanten Gast. Obwohl für seine berufliche Position noch jung, hat er eine spannende und bewundernswerte Biografie. Nicht nur, weil er viele Fronten unserer Zeit über- und durchlebte, reichte die für mehrere Menschen. Er trägt Verantwortung nicht nur für die auflagenstärkste Zeitung in Deutschland BILD, sondern auch für den expandierenden und führenden Online-Auftritt des Verlagshauses Springer.

Ein solcher Mann hat wenig Zeit. Sein Kalender ist eng getaktet. Er hat mit unserem Thema tagtäglich zu tun. Das sorgt für praktische Erdung und wird uns davor bewahren, im Denkbaren und Möglichen zu verdunsten.

Als ich ihm vom letzten Seminar erzählte, leuchtet er auf und zeigte die überraschende Bereitschaft, sich mit uns zu treffen. Ich berichtete, dass ich auf engagierte Kritik gestoßen bin, als ich meine Meinung zu BILD hier im letzten Seminar äußerte. Die habe ich bei einer Vorlesung an der Universität Postdam ähnlich verschriftlicht. Zu Ihrer Kenntnis liegt dieser Text an.

Da es schon eine Vielzahl von Einführungstexten gibt, haben Sie im Netz eine reichliche Auswahl. Herr Dr. Becker kann Sie mit weiteren Texten und Ergebnissen von Exkursionen ihrer Vorgänger versorgen.

Nun will ich endlich unseren großartigen Gast – auch in Ihrem Namen – herzlich begrüßen:
Herzlich willkommen Herr Julian Reichelt!

Ganz bewusst beginnen wir unsere Seminarreihe mit ihm. Das hat einen zusätzlichen wichtigen Grund:

Das Erschrecken war groß, und der Aufschrei war laut. SPIEGEL-Reporter Claas Relotius hatte Pseudo-Reportagen geschrieben, manche völlig aus der Luft gegriffen, und die waren der leichtfertig redaktionellen Qualitätskontrolle entgangen. Diese Reportagen passten gefällig gut ins Mainstreambild einer etablierten Blattlinie. Der seriöse Journalismus muss immer stärker um seine Glaubwürdigkeit kämpfen. Jetzt stand er am Pranger. Gerade in Zeiten von Fake News, Bots und Influenzern durfte solches nicht passieren. Oder hatte der Bösewicht nur getan, was alle taten, auch diejenigen, die das Wort von der „Lügenpresse“ skandieren?

Der Protest gab sich theatralisch. Er wirkte bei manchen Presse-Organen selbstgerecht. Sie wären wohl auch auf den Betrug reingefallen. Umso ausdrucksvoller wurde Abscheu zelebriert.

Andererseits zeigte die Branche durch Offenbarung des journalistischen Fehlverhaltens, dass sie berufsethische Maßstäbe wichtig nahm und sich als selbstkorrigierendes System verstand. Der Chef des Springer-Konzerns, Herr Döpfner, vermisste allerdings die in anderen Fällen so oft geforderte „schonungslose Aufklärung und Offenheit“. Für ihn ging die Zunft zu schnell zur Tagesordnung über. Der dramatische Flurschaden für den ganzen Journalistenstand würde unterschätzt, klagte Döpfner, der auch Präsident des Verlegerverbandes ist.

Bei einem hat er nachweisbar Recht: Das Thema ist aus den Gazetten erstaunlich schnell verschwunden.

Ich habe in einem Artikel mal das Wort vom „intentionalen Journalismus“ geprägt. Dieser will eher „Haltung“ demonstrieren und vermitteln als ein realistisches Bild unserer Welt zeichnen.

Das unterscheidet sich nicht wesentlich vom Normalverhalten politischer Propaganda, fühlt sich aber durch gute Absichten legitimiert. Das mag zugespitzt sein. Es liefert aber eine nützliche Provokation für unseren Diskurs. Herr Julian Reichelt wird dazu in seiner erfrischenden, angstfreien Direktheit sein Wort machen.

Der wichtigste Rohstoff einer seriösen Presse ist Vertrauen. In diesem Punkt lebt der Journalismus von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Vertrauen wird nicht gefordert oder gar erzwungen. Es wird gewährt. Man muss darum werben. Man muss es sich erobern. Ohne Vertrauen kommt kein Recherche-Gespräch oder Interview zustande. Die Redaktion muss ihrem Reporter vertrauen, denn sie kann nicht alles an Ort und Stelle mit eigenen Augen überprüfen. Im deutschen Presserecht gibt es auch das so genannte „Agenturprivileg“. Journalisten dürfen die Meldung einer anerkannten Presseagentur ungeprüft übernehmen, wobei sie natürlich die Quelle benennen. Nur so ist Pressearbeit praktisch möglich. Auch Leser und Zuschauer werden nicht juristisch belangt, wenn sie guten Glaubens eine vertrauenswürdige Meldung zitieren, die sich später als unwahr herausstellt.

Ohne Vertrauen geht es nicht. Es ist ein kostbares, aber auch zerbrechliches Gut. Skandalöses Fehlverhalten einzelner Journalisten zerstört dieses Gut. Man sieht es an der Reaktion des Publikums. Es geht eben nicht nur um eine falsche Information oder verzerrte Darstellung. Die könnte man ja pragmatisch-sachlich bearbeiten und korrigieren. Es geht um verstoßene Liebe und missbrauchtes Vertrauen. Deshalb wird grundsätzlich diskutiert. Das Ereignis erzeugt nicht nur Blitz und Donner, sondern fast immer einen Flächenbrand und Sippenhaft. Als die Illustrierte STERN auf die gefälschten Hitler-Tagebücher hereinfiel, kündigten die Leute nicht nur dort ihre Abonnements, sondern auch bei vielen anderen Illustrierten.

Verlage und Sender versuchen das Vertrauen ihrer Adressaten zu schützen und zu pflegen. In ihre redaktionellen Abläufe bauen sie einen internen Fakten-Check als Routine ein. Ein solches Controlling für Inhalte ist löblich und nützlich. Es stößt aber an eine nicht überschreitbare Grenze. Zu jeder Reportage gehört ein Reporter. Er gibt Intimes oder Vertrauliches preis oder hält es zurück. Und er hat seine eigene Perspektive. Unwillkürlich und zugleich notgedrungen wählt er aus, betont diesen Aspekt oder vernachlässigt jenen. Sein Werk gründet sich auf die erreichbaren Fakten, immer aber auch gesehen durch ein Temperament, einen Charakter, ein persönliches Format. Das ist ein unauflösbares Dilemma. Es ist aber auch der lebendige Faktor. Ihn völlig auszuschalten, ist erstens unmöglich und zweitens tödlich für eine qualitativ hochstehende Presse.

Dabei sollte man eines nicht vergessen: Bei der Herstellung eines Beitrags endet die lange Kette objektiven Handelns und subjektiver Entscheidungen nicht an der fertigen Sendung oder dem gelungenen Artikel. Es folgt noch mindestens ein Glied: Das ist der Zuschauer oder Leser. Er hat vielleicht objektivierbare Kenntnisse und Erfahrungen. Er ist aber ebenfalls Subjekt mit selektiver Wahrnehmung, mit Interesse und Perspektive, geprägt durch Erziehung, Bildung, Milieu, Temperament und Charakter. Und immer hat er auch seine politische Brille, die ihn unwillkürlich zum Parteigänger macht.

Merksatz: Kontrolle auf der Basis von Vertrauen ist sinnvoll und gut. Kontrolle auf der Basis von kategorischem Misstrauen ist unrealistisch und kontraproduktiv.

Man spricht von den Medien als der „vierten Gewalt“ im Staat. Das meint nicht eine demokratisch legitimierte Institution, sondern eine Rolle, die sich aus dem Zusammenspiel der Kräfte ergibt. „Man kann sie als Verdichtung der individuellen Rechte auf Meinungs- und Redefreiheit verstehen oder als Verlängerung des Prinzips der repräsentativen Demokratie: Journalisten übernehmen stellvertretend die Aufgabe, Informationen zu beschaffen und zu verbreiten, die für jeden Bürger wie für die Gesellschaft als Ganzes bedeutsam sind.“ (Joachim Frank)

Macht ist immer gefährlich, weil sie den möglichen Missbrauch impliziert. Deshalb muss sie sich an Verantwortung binden und bedarf der Kontrolle. Journalisten, die das vergessen, sind nicht mehr Berichterstatter, sondern Propagandisten. Wer andererseits in fundamentaler Medienkritik die aufklärende Rolle des Journalismus bestreitet und sie als mediale Hybris diffamiert, attackiert die freie und offene Gesellschaft. Diese ist es nämlich, die sich als Souverän des demokratischen Staates eine unabhängige Presse leistet. Sie tut es nicht als „Anhängsel“, Hobby oder zum Spaß. Sie tut es, um sich nicht selbst aufzugeben. Sie muss dazu niemanden fragen und nichts erbitten. Schon gar nicht die gnädige Genehmigung einer Regierung.

Aber Vorsicht! Das Selbstverständliche ist nicht selbstverständlich. Es ist bedroht durch Übergriffe der Staatsgewalt oder mächtiger Interessen. Es ist auch bedroht durch eigenes Fehlverhalten der Presse. Und es ist mehr denn je bedroht durch demagogische Tricks in Tateinheit mit einer unaufgeklärten, auf ständigen Krawall gebürsteten Massengesellschaft. Die Grenzen sind unscharf. Man erkennt sie leider erst durch Überschreitung.

Wenn’s gut läuft, haben wir ein dynamisches Gleichgewicht der Kräfte. Das Pendel bewegt sich zwischen Kontrolle durch den Staat und Kontrolle des Staates. Zwischen freiwilliger Selbstkontrolle der Medien und Verteidigung ihrer Rechte und Freiheiten. Zwischen pauschaler Medienschelte und ebenso pauschaler Diffamierung („Lügenpresse“).

Mit dem Internet und seinen ungeheuren Möglichkeiten, Fake News zu verbreiten und die Geister zu verwirren, stellen sich systemische Fragen, die noch lange nicht geklärt und beantwortet sind.

Lieber Herr Reichelt, Sie sind Chefredakteur der BILD-Zeitung. Sind Sie Teil des Problems oder Teil der Lösung?