„Vierte Gewalt oder Lügenpresse?“ – Gastvortrag, 03.12.2018
„Vierte Gewalt oder Lügenpresse?“
Gastvortrag von Prof. Bodo Hombach im Seminar „Die Analyse außenpolitischer
Krisen-Entscheidungen“ an der Universität Potsdam
3. Dezember 2018
Sehr verehrte Damen und Herren,
ich nehme an, Sie erinnern sich noch an ihn: Helmut Kohl ärgerte sich: „Egal was ich mache, die Presse höhnt und ätzt. Medien ignorieren meine Erfolge.“ Er sandte ein Stoßgebet zum Himmel. Dann eine Stimme: „Wandel über das Wasser des Rheins!“ Er ist begeistert. Zwei Reporter sehen am nächsten Morgen das Wunder. „Na sowas, der Kanzler läuft über Wasser“, ruft der eine. „Ich hab’s geahnt“, sagt der andere. „Der kann nicht mal schwimmen.“
Mir geht es nicht um einen Politiker, der die „geistig-moralische Wende“ ausrief und beim „Bimbes“ skandalierbar war. Dass die Presse seine versuchte Selbstamnestierung verhindern half, war kein Fehlgriff.
Aber Kritik an Kritikern – also auch der Presse – ist erlaubt und wichtig. Die gab es immer. Es fehlte nie an Belegen. Es gab in Holz geschnittene „Hass-Mails“ während der Reformation, Kampfartikel zur Französischen Revolution und gleichgeschaltete oder tendenziös berichtende Blätter bis in die Gegenwart. Es gab und gibt Gründe und Versuche, der „Journaille“ Vertrauen zu entziehen.
Meine Studenten staunten beim Besuch der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel über Parallelen uralter Propaganda mit aktueller. Der Kampf um die Köpfe ist wesentlich ein Kampf zwischen Propaganda, PR und korrekter Berichterstattung. In Berlin gibt es gegenwärtig mehr Menschen, deren Beruf es ist, Medien zu beeinflussen, als Journalisten.
Jeder hat sich schon geärgert über: Reportagen, die nicht der ganzen Wirklichkeit, und Kommentare, die nicht der eigenen Meinung entsprachen. Haben lautstarke Sprechchöre „Lügenpresse“ gute Gründe? Rufen das Leute, die Zeitung lesen und sich ein begründetes Urteil bilden? Oder geht es nicht um Diagnose, sondern um Programm – nicht um Interpretation, sondern Appell? Populistische Bewegungen wissen: Sie können sich mit Ressentiments und Geschichtsklitterung bei einer kritischen Presse nicht lange halten.
Allerdings: Etliche fühlen sich von Politik und Medien nicht „verstanden und mitgenommen“.
Die relevanteste deutsche Boulevardzeitung will Leser abholen wo sie sind – nicht wo man sie haben möchte. Sie schreibt meinungsstark für Pluralität, gegen Radikalismus, Rassismus und Antisemitismus und steht für Europa. Der Medien-Boulevard in England und anderen europäischen Ländern agiert gefährlich anders. In meiner Jugendzeit war BILD für alle von der politischen Mitte nach links Feindbild.
Nach heutiger Analyse wirkt die Linie von BILD, ein proletarisches Blatt und kein elitäres zu sein, eher integrativ. Ihre Lesergruppe wäre ohne BILD leichtere Beute für vulgäre Populisten. Im Kanon mit gut geführten Qualitätsmedien und öffentlich rechtlichem TV und Radio ist die deutsche Medienlandschaft – im Vergleich – durchaus gut aufgestellt. Wie lange noch? Das Netz fängt weniger auf als ein.
„Auf uns hört ja keiner!“ wurde zum geflügelten Wort. Gewiss kann man solch‘ „Geflügel“ auch hinterfragen. Wolfgang Schäuble regt sich auf, wenn er das hört. „Noch nie“, so sagte er im Deutschlandfunk, „hatte der Bürger so viele Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen, wie heute. In Leserbriefen, in Sendungen des Bürgerfunks, im Internet, in einer Sturzflut von Erhebungen, Befragungen und Versammlungen.“
Andererseits verbreitet sich der Eindruck: Was den Leuten unter den Nägeln brennt, lässt ihre gewählten Vertreter kalt. Es werden Probleme herbeigeredet – und geschrieben -, die die Leute nicht haben. Die, die sie haben, fallen unter den Tisch. Das gehört zur Politikkritik, so lange ich mich erinnern kann. Als Argument der Medienkritik ist es relativ neu.
Wir sind auf Medien angewiesen. Die müssen uns ein realistisches Bild unserer Welt vermitteln. Wir machen nur wenige Primärerfahrungen. Die vermittelten Sekundärerfahrungen prägen unsere Wahrnehmung. Mir fällt kein besseres Wort ein: Medien sind da alternativlos. Das gibt ihnen enormen Einfluss.
Wir müssen darauf bestehen, „nach bestem Wissen und Gewissen“ korrekt informiert zu werden. Wir entscheiden uns für Medien unseres Vertrauens. Missbrauch schmerzt und empört. Der gut informierte Bürger war mal Zeitungsleser. Er liebte sein Leib- und Magenblatt.
Zu meiner Zeit als Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe war ich öfter morgens im Call Center. Man kann sich kaum vorstellen, wie aufgebracht jemand ist, der früh zum Briefkasten geht und „seine Zeitung“ nicht findet. Das war dramatisch. Das zeigte emotionale Bindung. Ich habe angewiesen, keine Routine-Fragen abzuspulen. Nach dem aufgeregten Ruf: „meine Zeitung ist nicht gekommen“ sollte man zuerst sagen: „Um Gottes Willen“. Das war der Emotionslage adäquat.
Die Zeitung hat den Charme täglicher Frische und Vergänglichkeit. In der Zeitung von heute sind Nachrichten von gestern. Morgen ist sie von vorgestern. Aber sie war lange der akzeptierte Blick in die Welt. Man kannte die Leitartikler.
Die Verlage waren ein starker Apparat mit Korrespondenten, Reportern, Fotojournalisten, Juristen, gestützt auf Archive, vernetzt mit Experten. Eindrucksvolle Produktionsmittel sorgten dafür, dass das begehrte Produkt in den frühen Morgenstunden zur Verfügung stand. Scheinbar unermüdlich. Vieles war nur aktueller Funkenflug. Manches blieb im Gedächtnis. Einiges prägte Geschichte.
Natürlich wusste man: Jedes Blatt hatte seine Haltung, eine Art Brille, durch die es die Ereignisse betrachtete. Aber die hatte man auch. Die einzig wahre Wahrheit gibt es nicht. Aber der Anspruch, der Wahrheit so nah wie möglich zu kommen, wurde hoch gehalten.
So fanden sich lebenslange Partnerschaften. „Es stand in der Zeitung“, war Gütesiegel. Die Presse war nicht nur Spiegel der Welt da draußen. Sie war auch Instrument der Interpretation. Sie mischte sich ein in gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Sie schielte unter Teppiche der Mächtigen. Sie war Faktor des politischen, sozialen, kulturellen Geschehens. Das machte sie nicht nur zum streitenden, sondern auch zum strittigen Gegenstand. Das war schon lange so.
Die beweglichen Lettern des Herrn Gensfleisch von Gutenberg zeigten erstmalig 1517 was in ihnen steckte. Sie haben die Thesen eines unbekannten Augustinermönchs aus Wittenberg innerhalb von 14 Tagen im ganzen Reich verbreitetet. Sie beendeten das Mittelalter.
Flugblatt, Zeitung und Zeitschrift waren Motoren und Begleiter aller emanzipatorischen Bewegungen. Mit ihnen setzte sich das neureiche Bürgertum gegen den Adel durch. Sie artikulierten den modernen Nationalstaat. Sie diskutierten die Industrielle Revolution und die Soziale Frage. Sie standen nach Diktatur und Weltkrieg wieder bereit. Sie waren das zivile Forum einer sich öffnenden Gesellschaft. Ihre zentrale Rolle, ja ihr Daseinsgrund, war und ist die Kontrolle der Macht.
Deshalb gehört die Freiheit der Presse zu den unkündbaren Artikeln einer jeden freiheitlichen Verfassung. Deshalb ist sie allen Autokraten ein Dorn im Auge. Der erste Schritt nach jeder Machtübernahme ist die Gleichschaltung der Medien und die Unterbindung von Kritik. Es sitzen zahlreiche Journalisten in aller Welt hinter Gittern. An jedem Tag wird mindestens ein Journalist ermordet.
Medienfeindliche Hetze als staatliches Programm ist nicht auf repressive Regime beschränkt. Immer mehr demokratisch gewählte Staats- und Regierungschefs bis zum eigentümlichen Chef der westlichen Führungsmacht diffamieren kritische Journalisten. Sie werden diffamiert, weil sie ihren Job machen. Sie übernehmen nicht die Verlautbarungen der Regierung, sondern machen sich ein eigenes Bild.
Jürgen Habermas wies in einer grundlegenden Arbeit darauf hin: Öffentlichkeit ist kein vorhandener Raum, den man füllen oder entleeren kann. Sie ist ein Raum, der erst dadurch entsteht, dass jemand sein Haus verlässt, um sich auf Straßen und Plätzen mit anderen zu verständigen. Bürgerrechte werden nicht von oben nach unten gewährt. Sie werden von unten nach oben erkämpft.
Ob das Netz zum öffentlichen Raum demokratischer Teilhabe – im Habermaschen Sinne – werden wird, ist die große Frage Ihrer Generation.
Soziale, politische und geschichtliche Erfahrungen sind keine Gene. Sie werden nicht vererbt. Sie müssen immer wieder neu begründet und erworben werden. Dabei helfen Traditionen, Verfassungen, Gesetze und Verträge. Sie garantieren jedoch keine bleibende Erinnerung an die Katastrophen, aus denen sie gelernt und formuliert wurden.
Der neu geborene Säugling von heute ist genau so dumm wie der neugeborene Neandertaler. Er muss von Null an alles lernen, was ihn einigermaßen unfallfrei durchs kollektive Dasein führen soll. Das in einer Welt wachsender Komplexität. Unabhängige Medien haben dabei zu helfen.
Freie Presse ist – jetzt kommt mein Lieblingssatz – keine Veranstaltung für die freie Gesellschaft, sondern eine Veranstaltung der freien Gesellschaft. Sie ist gegenwärtig, ist nicht nur bedroht durch Institutionen der Macht, durch einflussreiche Pressure Groups oder durch Drahtzieher und Durchstecher des Lobbyismus. Sie ist auch gefährdet durch innere Entwicklungen.
Ich will drei ansprechen:
1. Selbstaufgabe
Hanns Joachim Friedrichs, langjährig Moderator der ARD, definierte guten Journalismus: „Immer dabei sein, nie dazugehören.“ Damit ist fast alles gesagt.
Wir erwarten vom guten Journalisten, dass er den Bereich von Teilhabe und Mitwirkung in der Gesellschaft erweitert. Wir erwarten von ihm professionelle Fähigkeiten und Fertigkeiten. Er soll uns ein möglichst objektives Bild der Wirklichkeit liefern. Ist er nicht nur Beobachter, sondern Teil der Ereignisse, als Akteur oder gar Urheber, kann er nicht objektiv berichten. Kirk Douglas spielte einmal den „Reporter des Satans“. Der wollte endlich einmal der Erste am Tatort sein. Also legte er selbst das Feuer, über das er dann berichtete. Eine Metapher, aber es gibt durchaus bedenkliche Tendenzen.
Ein Journalist, der sich als politischer Akteur (oder Gesinnungstäter) versteht, ist nicht mehr bei der Sache. Der Satz von Hajo Friedrichs: „Ein guter Journalist macht sich mit keiner Sache gemein – auch nicht mit einer guten“, gilt manchen als antiquiert. Als sei der Arbeitsvertrag ein politisch legitimierendes Mandat. Qualitätsjournalismus bleibt um Aufklärung bemüht. Für ihn steckt die Wahrheit in den Tatsachen. Er fragt nach der Relevanz der Ereignisse.
Raubritter der Branche tummeln sich vorwiegend in Emotionen. Sie bedienen den Unterhaltungsbedarf ihrer Leser und Zuschauer. Für sie ergibt sich die Relevanz der Nachricht aus der Größe der Schlagzeile oder der Klickzahl. Die Übergänge sind fließend. Auch die wichtige Nachricht hat Unterhaltungswert. Ihre Dramatik bewirkt Spannung und Erregung.
Wir sehen Schurken und Heilige, Täter und Opfer, Triumphe und Niederlagen. Klinisch objektiver Journalismus ist reine Theorie. Vielleicht ist der Reporter oder Redakteur klug genug, kein Parteibuch zu zeigen. Vielleicht ist er schlau und charakterfest genug, sich den Einflüssen und Einflüsterungen der Interessensgruppen zu entziehen. Er ist jedoch immer Subjekt mit individuellem Charakter und Temperament. Auch der Leser oder Zuschauer ist Subjekt. Er ist alt oder jung, Mann oder Frau, reich oder arm. Es hat seinen Bildungsabschluss, sein Parteibuch, seinen Horizont. Er ist konzentriert oder abgelenkt. Er selektiert und filtert. Er wird ungehaltener, wenn seine vorgefasste Meinung nicht bestätigt wird.
In alltäglichen Talkshows werden Rollen besetzt. Wie bei Gladiatoren sind diese in den Sprech-Shows einzuhalten. Die größte demokratische Tugend: Konsenssuche, steht nicht im Drehbuch. Man stelle sich vor, ein Sprech-Show-Gast sagt: „So habe ich das noch nicht gesehen. Das überzeugt mich.“ Es wäre totaler Regelverstoß. Der würde nicht mehr eingeladen.
In ökonomisierten Gesellschaften sind auch Nachrichten Ware. Wenn sie nur noch Ware sind, hat das Folgen: Schnelligkeit geht vor Sorgfalt, Sensationslust vor Authentizität, Personalisierung vor Strukturanalyse. Emotionalität vor Vernunft, Jagdlust vor abgewogener Argumentation, Massenwirkung vor individuellen Schutzrechten.
Unsere Gesellschaft ist auch: Intrigenstadl und Jahrmarkt mit Geisterbahn, Tingel-Tangel, Schaukel und Panoptikum. Skandale durchziehen die Geschichte. Sie sind ständiges Sicherheitsrisiko einer Gesellschaft, in der alles geregelt scheint. In autokratischen Systemen werden sie unterdrückt. In der freien Gesellschaft werden sie auf offenem Markt ausgetragen. Das gibt ihnen einen Anschein von größerer Häufigkeit.
Nach meiner Lebenserfahrung werden Macht und Mächtige nicht so sehr von Gesetz und Verordnung diszipliniert. Die Sorge, dass etwas öffentlich werden könnte, was sie unbedingt verheimlichen wollen, diszipliniert sie, sogar prophylaktisch. Das setzt glaubwürdige, enthüllungsfähige Medien voraus. Als Machtkontrolle sind freie Medien – trotz Kollateralschäden – konstitutiv für die Demokratie. Aber wir beobachten auch Selbstzerrüttung.
- Skandale beanspruchen häufiger einen unangemessenen Raum in der öffentlichen Wahrnehmung.
- Die Berichterstattung wird zum Selbstzweck für die Steigerung von Auflage und Einschaltquote.
- Es interessieren Anklage und Vorverurteilung (sogar Aufnahme von Ermittlungen) und nicht mehr der mögliche Freispruch.
- Man ist kaum noch fähig und bereit, eigenes Fehlverhalten kritisch zu reflektieren.
(Die Reue nach dem Wulf-Hype war flüchtig.)
Die Presse ist nicht die akzeptierte und wirkmächtige Vierte Macht im Staat, wenn sie berufsethische Standards aufgibt. Skandalpresse wird zum Presseskandal, wenn sie die Wirklichkeit verzerrt und die eigentlichen Probleme nicht mehr zur Kenntnis nimmt.
2. Internet
Die digitale Revolution ermöglicht nie dagewesene Diversifizierung der Geräte, Verfahren und Erscheinungsformen. Wir sehen weltweite mediale Ubiquität und Flexibilität. Eigentlich ein wunderbares Werkzeug, eine sensationelle Erfindung. Die beschert eine unbegrenzte Fülle an Informationen. Herrschaftswissen war gestern. Neue Ideen finden schnelle Verbreitung. Verstreute Individuen können sich schnell zum Schwarm organisieren. Wir scheinen in einer Welt unbeschränkter Kommunikation zu leben.
Aber: Naive Gläubigkeit weicht einer skeptischen Nachdenklichkeit:
- Die wohltuende Knautschzone des Nachdenkens und Abwägens entfällt.
Der Sinn für Relevanz leidet.
- Die neue Öffentlichkeit erzeugt zugleich neue Anonymität, in der sich menschenverachtende und kriminelle Absichten ungestraft verbergen.
- Immer mehr Menschen leben in einer Echokammer – ohne Blase. Da begegnen sie nur Gleichem, Passendem und sich selbst.
Die klassischen Medien sehen sich mit den neuen konfrontiert. Die machen ihnen Territorium streitig. Denen ist ihre ehrwürdige Geschichte völlig schnuppe.
Die Neuen sind mächtig:
- Das Smartphone ist grenzenlos mobil.
- Es ist Weltempfänger und Weltsender zugleich.
- Es berichtet zeitgleich von Ereignissen aus aller Welt.
- Es erlaubt spontanes Feedback.
- Es punktet mit Wort, Bild und Video.
- Es ist einfach und billig zu bedienen.
Wen wundert’s: Zeitungen verzeichnen schwindende Abonnenten und Werbekunden. Eine ganze Generation wächst ohne klassische „Holzmedien“ auf. Man anerkennt deren journa-listische Qualität nicht mehr. Aufmerksamkeitsspannen werden kürzer. Dummheiten und Weisheiten verbreiten sich mit gleicher Geschwindigkeit. Es gibt aber immer mehr Dummheiten als Weisheiten.
Die Teilhabe der erwünschten „liquid“ Demokraten im Netz beschränkt sich oft auf Beschimpfungen. Eine Studie von BBC World hat gerade herausgefunden: Nur wenige Menschen sind fähig, ihre geprägte Weltsicht in Frage zu stellen. Sie gieren nach Bestätigung. Wer ideologisch festgelegt ist, verbreitet bedenkenlos ungeprüfte oder falsche Nachrichten. Dumpfe-Schwarm-Gefolgschaft bildet sich zum Shitstorm. Möglichkeiten dafür sind explosionsartig gewachsen. Was früher die öffentliche Toiletten-Wand war, übernimmt heute auch die Tastatur. Offensichtliche Fakes gewinnen an Überzeugungskraft, wenn sie von vielen aufgenommen und verbreitet werden.
Unter Dauerdruck von Tempo und Kommerz entsteht eine Aufregungsgesellschaft – oder Empörungsdemokratie. Rückzugsgebiete, wie traditionelle Milieus, werden schwächer. Politische und kommerzielle Glücksversprechen sind nicht einzuhalten. Das zerrüttet soziales Urvertrauen und erzeugt systemische Gereiztheit. Prof. Dr. Pörksen sagt: „Nervöse Gesellschaft“. Dafür sucht man den Schuldigen.
Ein weiterer Aspekt muss uns beschäftigen. Vielleicht stellen sich die bisher beschriebenen Sorgen als Luxusprobleme heraus:
3. Political Framing
In Ahnungslosigkeit überlassen wir großen Internet-Konzernen zwei der kostbarsten Besitztümer: Lebenszeit und persönliche Daten. Wir halten uns für souveräne Nutzer eines reichhaltigen Angebots. Wir fühlen uns beschenkt durch Paybackkarten, digitale Vernetzung aller Geräte und neuerdings durch „Alexa“. Ein kleiner Lautsprecher, der uns Wünsche von den Lippen abliest. Er verheimlicht, dass er wesentlich ein Mikrofon ist. Es garantiert die Anwesenheit der Lauscher in Wohn- und Schlafzimmern.
Objekt ferngesteuerter Endkontrolle. Jeder „Klick“ wird registriert. Unbegrenzte Speicher sammeln Vorlieben, Interessen, politische Orientierung, Geheimnisse, Wünsche, Ängste. Ein raffinierter Algorithmus macht daraus ein sich ständig schärfendes Profil. Um diesen Zeitgenossen kümmert sich dann liebevoll die Wirtschaft. Durch den Zugriff auf Big-Data erfüllt sich der Traum aller PR und Propaganda Experten. Potenziell Anzusprechende immer genauer zu kennen, um sie gezielt anzusprechen und ihre Entscheidungen zu konditionieren.
Wir leben nicht in einem Überwachungsstaat. Wir leben in einer Überwachungswelt. Wir werden mehr ausgedeutet als ausgebeutet.
Aber: Das Silicon Valley ist kein finsteres Nest böser Buben. Dort überwiegen fröhliche Tüftler, Sammler und Jäger. Ethische Standards spielen keine Rolle. Das technisch Machbare geschieht. Punkt. Was in der Wirtschaft funktioniert, kann in der Politik nicht scheitern. Auch Wähler sind Kunden. Sie sollen nicht an der Theke, sondern in der Wahlkabine das Gewünschte tun. Der Brexit und die Wahlkampagne Trump wurden so gesteuert. In Amerika wirkt es. Unentschiedene Wähler der Swing-Staaten werden auf ihrem heimischen Bildschirm mit genau kalkulierten, personalisierten Botschaften (auch Fake News) angesprochen.
Moderne Diktaturen entstehen nicht mehr durch Putsch. Sie nutzen Freiheiten des demokratischen Systems, um sie abzuschaffen. Sie nennen sich „illiberale“ Demokratie. Ich nenne das „repräsentative Diktatur“. Aber Hoffnung stirbt zuletzt. So lange wir über die Dinge reden können, ist das Beste bewahrt.
Heribert Prantl hat kürzlich übertrieben: „Die Zeitung ist wichtiger als die Deutsche Bank“. Ich sage: Professioneller Journalismus ist wichtiger denn je.
Das Medium, das uns am Weltgeschehen beteiligt: muss informieren, es soll bilden und es darf unterhalten. Man sollte in ihm auch finden, was man gar nicht gesucht hat. Im großen Grundrauschen der Signale soll es Orientierungshilfe bieten.
Jede Innovation durchläuft zunächst enthusiastische und anarchische Phasen. Das Regelwerk folgt später. Bis dahin müssen wir das System der demokratischen und offenen Zivilgesellschaft über Wasser halten.
Die schöne neue Welt ist die alte Welt mit neuen Mitteln. Wer darin agiert, ist auch nicht der neue Mensch, sondern der alte Zweibeiner. Bisher sind alle Bemühungen, den „neuen Menschen“ zu schaffen, sehr böse ausgegangen. Die Debatte darf sich nicht in ökonomische Interessen und ideologische Denkmuster verbeißen. Sie sollte nichts und niemanden dämonisieren.
Irgendwo fand ich die Zehn Gebote des Qualitätsjournalismus.
- Verbrauche nicht mehr Glück als Du selbst erzeugst!
- Mache niemals Menschen zum Objekt materieller Interessen
- Glaube jedem, der die Wahrheit sucht. Glaube keinem, der sie gefunden hat. (Tucholsky)
- Schütze die Menschen- und Freiheitsrechte, wo immer sie bedroht sind.
- Der, auf den alle einschlagen, er habe bei Dir Frieden. (Lessing)
- Jedes Ding hat zwei Seiten, meistens noch eine dritte.
- Das Gegenteil der Wahrheit ist auch nicht ganz falsch.
- Wenn Dir Vergleiche trefflich erscheinen, / sie hinken vielleicht auf beiden Beinen.
- Die menschliche Klugheit ist eine Falle. Die Wahrheit geht nicht hinein.
- Liebe! – und dann tu, was Du willst! (Augustinus)
Friedrich Torberg war Mitarbeiter des „Prager Tagblatt“. Eines Tages erschien die Abordnung einer Partei in der Redaktion. Die hat sich beim Verleger über einen kritischen Artikel beschwert. Der hörte geduldig zu und antwortete: „Ach wissen Sie, meine Herren, ich verstehe Ihr Anliegen, bitte aber um Nachsicht. An manchen Tagen geht es hier in der Redaktion drunter und drüber. Da kann es wirklich passieren, dass einer dieser Journalisten auch mal – die Wahrheit schreibt.“
Ich freue mich auf die Diskussion mit Ihnen.