„Kopf hoch, Kassandra“ – Buchbesprechung, Handelsblatt, 17. November 2018

Buchbesprechung für das Handelsblatt 17. November 2018

 

Daniel Stelter: Das Märchen vom reichen Land

Martin Schröder: Warum es uns noch nie so gut ging und wir trotzdem von Krisen reden

Steven Pinker: Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt

 

Kopf hoch, Kassandra!

Krise, Knall, Crash. Die Untergangspropheten stehen Schlange. Es ist, als wollten siesicherstellen, „es“ schon vorher gewusst zu haben. Also schreiben sie leidenschaftlich. Mit guten, für ihre jeweilige Lieblingsthese destillierten Gründen. Jede Seite ist ein Menetekel an der Wand der Mächtigen. Die stünden auf tönernen Füßen und verwüsteten seit Jahren unser Land. Das moniert etwa Daniel Stelter, Ökonom, Autor, Blogger: In seinemBuch „Das Märchen vom reichen Land“, beschreibt er auf 256 Seiten, wie die deutschePolitik die Bürger ruiniert.

Er kritisiert, wie hohe Abgaben die Mittelschicht schrumpfen lassen. Wie die „Schwarze Null“ zum Fetisch gerät und dazu verführt, nötige Investitionen zu verschleppen und an der falschen Stelle zu sparen. Der deutsche Kapitalexport ist schlecht angelegt und macht erpressbar. Die alternde Gesellschaft sorgt nicht vor, ist der Autor überzeugt.

Und Stelter hat ja Recht. Nicht nur Deutschland – auch die große Bühne der Weltpolitik liefert genug Anlass zur Sorge. Der Handelskrieg zwischen den USA und China eskaliert. Die alten nationalen Schlagbäume werden wieder aufgestellt. Populistische Parteien drängen auf die Regierungsbänke oder haben es sich dort bequem gemacht. Schwellenländer wackeln, die Türkei erlebt eine schwere Währungskrise. Der Euro könnte die EU, die erheblich unter dem Brexit leiden wird, sprengen. Die Weltverschuldung liegt laut In- ternationalem Währungsfonds (IWF) bei 225 Prozent der Weltwirtschaftsleistung und der Dreißigjährige Krieg am Golf hat gerade erst begonnen.

Zugleich, und das sorgt für kognitive Dissonanz, bieten die Büchertheken eine Vielzahl an Werken, die sich als komplette Antithese zu Stelter und den anderen Kassandras lesen. Zu solchen Autoren, die schon zum Abgesang auf die westlichen Demokratien angestimmt haben. Zugrunde gerichtet von Autokraten und einer entfesselten Globalisie- rung, die Ungleichheit statt Wohlstand produziert – und Demagogen damit den Boden bereitet hat.

Zu den Mutmachern, zu denjenigen, die den Untergangsadvokaten entgegentreten, gehört etwa Martin Schröder mit seinem Buch „Warum es uns noch nie so gut ging und wir trotzdem von Krisen reden“. Auf 228 Seiten beschreibt der Marburger Soziologie-Professor, warum wir in der besten aller Welten leben und in Wahrheit die Pessimisten auf die Couch gehören. Sein Buch ist ein Gegengift gegen die apokalyptischen Reiter in unseren

Köpfen. Schröders Lackmustest für den Leser: „Fragen Sie sich, in welcher Epoche undZone der Geschichte Sie lieber gelebt hätten, als der heutigen“.

Untergang oder Aufbruchstimmung – beides gibt es in diesem Jahr in geballter Form am Büchermarkt. Doch wo findet der Leser nun Orientierung und weshalb kommen Autoren,die dieselbe Welt bewohnen, zu solch‘ unterschiedlichen Bewertungen?

Erheblichen Anteil an einer unterschiedlichen, zum Teil verzerrten, Wahrnehmung habenfür Schröder Medien und eine fleißige „Katastrophenlobby“. „Viele Intellektuelle gefallen sich in der Pose des überlegenen Warners, der sich als Gegengewicht zur dekadentenGesellschaft fühlen kann“, schreibt der Soziologe. Hat nicht schon der störrische Philo- soph Arthur Schopenhauer den Optimismus zur „wahrhaft ruchlosen Denkungsart erklärt,als ein bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der Menschen“?

Dabei, das ist bekannt, sind die messbaren Fakten weitaus besser, als die gefühlte Realität. Unsere Ängste stehen in keinem plausiblen Verhältnis zur Wirklichkeit. Viele Menschen fürchten etwa Opfer eines Terrorangriffs zu werden. Ein Deutscher müsste jedoch zwei Millionen Jahre leben, um die Chance dabei ums Leben zu kommen, auf 50 Prozentzu erhören. Schröder schreibt: „Wenn Sie vor etwas Angst haben wollen, fürchten Sie sichdaheim vor Ihrer Leiter!“

Vor allem Intellektuelle, Manager, Wissenschaftler, politische Entscheidungsträger sehen gern schwarz, so Schröder. Menschen in den unteren Gehaltsgruppen neigen hingegen seltener zu den drei Wahrnehmungsfehlern, die uns chronisch die Stimmung verderben: Verklärung der Vergangenheit, überschäumendes Interesse an Hiobsbotschaften und –daraus resultierend – deren leichtere Verfügbarkeit im Gedächtnis.

Richtig ist: Die Bundesrepublik surft auf einer langen Wachstumswelle. Die Arbeitslosigkeit tendiert gegen Null. Die Neuverschuldung auch. Die Steuern sprudeln. Die Sozialkassen sind prall gefüllt. Und überhaupt: Wir sind doch Klassenprimus daheim, in Europa und in der Welt.

Man könnte sich an der Stelle beruhigt zurücklehnen und die Bedenkenträger ausblenden. Aber so leicht kommen wir bei Daniel Stelter nicht davon. Er liefert eine Litanei von Gründen, die an einer zu optimistischen Haltung zweifeln lassen – zumindest mit Blick auf Deutschland. Zuwanderung und soziale Geschenke lähmen die öffentlichen Kassen. Dazu kommt ein gefährlicher Reformstau ohne adäquate Veränderungsbereitschaft. Den Deutschen gelten Reformen als heikel und ambivalent. Zu viele wurden groß verkündet,um dann kleinlaut zu zerbröseln. Fast immer kommunizierte man sie als „schmerzliche Einschnitte“ und nicht als mitreißenden New Deal. Stelter Diagnose ist klar: Die Politikruiniert das Land, indem sie Wohlstand vernichtet, anstatt ihn zu mehren. Wir leben mit falscher Kostenrechnung, das Inkasso steht schon bevor.

Martin Schröder würde dagegenhalten, dass Langzeitprobleme wie Armut, die Unterdrückung der Frau oder Kriminalität sich – auch im Weltmaßstab – zum Besseren gewandelt haben. Trotz medialer Hysterie und parteipolitischer Angstmache sind die Menschen weder dümmer, noch unglücklicher. Und sie wären noch glücklicher, könnten sie die Welt sehen, wie sie wirklich ist. Wichtig dafür ist ein vergleichendes Geschichtsbewusstsein, nicht nur als Verhaltenshygiene, sondern als politisch hoch bedeutsamer Realitätsgewinn. Heute kommen Diktatoren an die Macht, obwohl die Leute mit ihrer persönlichen Situation mehrheitlich zufrieden sind. Sie glauben nur, ihren Mitmenschen ginge es anders.

Licht oder Schatten? Auch der Harvard-Psychologe Steven Pinker wehrt sich gegen Kulturpessimismus – und macht dem Leser mit seinem Buch „Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt“ wieder Mut, sich des eigenen Verstandes zubedienen.

Pinker, der gelegentlich selbst in die Kiste der dienstbaren Statistiken greift, die belegen sollen, dass es den Menschen insgesamt besser geht, erinnert aber vor allem an eines: Die Methoden wissenschaftlicher Wahrheitsfindung, mit denen sich die europäische Zivilisation seit 400 Jahren gegen Machtmissbrauch und Dunkelmännerei behauptet. Eindrucksvoll rechnet der Autor vor, dass rund fünf Milliarden Menschen einer Handvoll Wissenschaftler ihr Leben verdanken. (Was ist damit gemeint?)

Mut und Mühe verhalfen dem kritischen Geist zu einem nie gekannten Freiraum für den Eigenwert des Menschen, seine unantastbare Würde. Kluge Gesetze und Institutionen sichern sie ab, aber nicht unangefochten. Jede Generation muss diese Errungenschaften immer wieder verteidigen gegen parasitäre Interessen, ideologischen Waschzwang und autokratischen Dünkel.

Ein Gegenmittel ist die Aufklärung, so Pinker. Sie schädigt nicht nur die Ignoranz. Sie vertreibt auch Angst und Schrecken und hindert so Führer und Verführer, über kollektive Paranoia Herrschaft auszuüben. Im Verbund mit Vernunft und Humanität ermöglichte sie eine „Wissenschaft vom Menschen.“ Deren wichtigstes Ergebnis, und hier muss der AfD-Wähler sehr tapfer sein: „Das Wohlergehen individueller Männer, Frauen und Kinder er-hält den Vorrang vor dem Ruhm des Stammes, der Rasse, der Nation oder der Religion. Wir werden zum Kosmopolitismus gezwungen – wir sind Weltbürger.“

Martin Schröder, Thomas Stelter und Steven Pinker haben Bücher geschrieben, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Die Autoren sind weder blind noch dumm. Sie sind Bewohner einer Welt, in der man offenbar trotz entgegengesetzter Perspektiven Recht haben kann. Uns geht es gut, und trotzdem darf man sich fragen: Wie lange noch? Der Rat für den Leser lautet daher: Die Dichotomien aushalten, dabei konstruktiv bleiben. Denn Reibung erzeugt neue Ideen. Und die können wir in jeder Lebenslage gebrauchen.