„Augen auf und durch! Mit Leidenschaft – Politik gestalten“ – Tichys Einblick, 30. Oktober 2018
„Augen auf und durch! Mit Leidenschaft – Politik gestalten“ – Tichys Einblick, 30. Oktober 2018
Kommentar für Tichys Einblick
Der Hausarzt weiß das: Senioren leben jahrelang unauffällig im kleinen Kreis von Woh- nung, Familie und Nachbarschaft, versorgen sich selbstständig und gewöhnen sich rituell an die kleinen Zipperlein und die enge Umgebung. Aber der Eindruck täuscht. Innerlichwerden sie schwächer, „höhlen“ quasi aus, und dann – eines Tages – genügt eine kleine Verletzung beim Zwiebelschneiden, und nun überstürzen sich plötzlich die Befunde. Das System „Körper – Organe – Kreislauf“ bricht kaskadenartig zusammen. Die Ärzte sind hilf- und fassungslos.
Warum kommt mir nun die SPD in den Sinn?
Das kann doch nicht sein:
Die Partei, die den Arbeitern im Bismarckreich ein soziales Überleben und mensch- liche Würde erkämpfte.
Die Partei eines Otto Wels, der im Todeskampf der Weimarer Demokratie gegen das Ermächtigungsgesetz stimmte, während draußen die Nazi-Schergen auf ihn warteten.
Die Partei, die sich in Godesberg einer breiten Wählerschaft öffnete und mit Willy Brandt die neue Ostpolitik durchsetzte.
Die Partei, die in den 1970er Jahren den Muff der Adenauer-Kiesinger-Ära mit einer modernen Gesellschaftspolitik lüftete.
Die Partei, mit der Gerhard Schröder eine blockierte Gesellschaft lockerte und Re-formen durchkämpfte, die „den kranken Mann Europas“ auf die Beine brachte und den Sozialstaat vor Überforderung und Bankrott bewahrte.
Diese Partei soll auf dem Weg zur Marginalie verelenden?
Es tröstet nicht, dass sämtliche Sozialdemokratien Europas ihr Schicksal teilen o- der vom Wähler schon schlimmer abgestraft wurden. Dies, obwohl doch Kernziele ihres Genoms wie noch nie in der Geschichte auf breiter Ebene verwirklicht wurden. Das Bekenntnis zur Marktwirtschaft, gepaart mit der sozialdemokratischen Überzeugung, dass niemand mit dem gemeinsam Erwirtschafteten durchgehen darf, ist gesellschaftlicher Konsens.
Gibt es Gründe?
Offenbar kaum auf der Sachebene. Das „operative Geschäft“ fluppt. Trotz lähmenderSelbstfindungsprozesse der GroKo sind Ergebnisse vorzuweisen. Es gibt aber ein Prob- lem ganz anderer Logik. Die Beziehungsebene ist gestört. Man kann machen, was manwill, es kommt nicht an. Im Ruhrgebiet sagt man: „Niemand liebt dich – wieso ich?“ Man setzt fleißig Segel, aber es herrscht Flaute. „Als wir unser Ziel aus den Augen verlorenhatten, verdoppelten wir unsere Anstrengung.“ (Mark Twain)
Kommunikation ist nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts. Menschen machen Ge- schichte. Menschen und das Menschliche – selbst das allzu Menschliche – sind entschei- dend. Auch besten Absichten unterstellt man schlechte, wenn man den Boten nicht mag, ihm nicht mehr traut. – Dabei haben Sozialdemokraten doch ein Herz für die Beladenen. Warum haben just sie ein größeres Übersetzungsproblem als andere? Ihre Botschaften zünden nicht. Ihre Selbstbezogenheit irritiert. Das kann nur eines bedeuten: Entfremdung. Entweder, man spricht nicht mehr die Sprache der Leute, oder man bietet Lösungen für Probleme, die sie nicht haben, oder ignoriert die, die sie haben. Das begründet das Un- verständnis und Misstrauen. Einen Satz höre ich im Volke ständig: „Auf uns hört ja keiner“.Wenn Volksparteien dem Volk nicht zuhören, hört das Volk auf andere.
Da hilft keine Beteuerung: „Wir meinen es doch gut“. Da hilft auch keine emsige Suche nach Schuldigen. Da hilft nicht, nach jedem Wahldebakel mantrahaft die brutalstmöglicheKurskorrektur zu fordern. „Jetzt muss alles auf den Tisch“, glaubt niemand mehr, wenntags drauf alles wieder unter dem Teppich landet. Im Albtraum ist es zwecklos, dem Ver- folger mit erhöhter Anstrengung entkommen zu wollen. Es hilft nur der Umstieg auf eine andere logische Ebene. Es hilft nur – Aufwachen.
Also: Augen auf und durch! Klarer Blick für die Realien. Sagen, was ist. Schluss mit La- gerdenken und Flügelschlagen. Schluss mit Fingerhakeln, eingeübten Intrigen und Ran- küne. Ran an die konkreten Sorgen und Wahrnehmungen der Leute: Wohnen, Mobilität, Bildung, Alterssicherung, Klimawandel. Vorwärts durchdenken und aufgreifen. Die be- gründeten Ängste: Kosten und Folgen der Migration, Innere Sicherheit, Digitale Revolu- tion, Abstiegsdrohung, Zerfall Europas.
Es geht nicht mehr um Konzepte, die in die Krise geraten sind, sondern um die Krise, ausder sich Konzepte ergeben müssen. Das Konzept gegen Angst ist nicht „Sei offen für Neues und fürchte dich nicht!“, sondern einladende Freundlichkeit, gelebte Zuversicht, mitreißender Schwung, leidenschaftlicher Gestaltungswille, ein „New Deal“ aus realen Elementen mit verlockendem Ziel. Wem Leidenschaft abhandengekommen ist, kann bei an- deren keine wecken. Die Dinosaurier sind behäbig und traurig geworden. Vor dem Bau eines Schiffes stehen nicht ein Haufen Holz, Eisen und Leinwand, auch nicht ein ödes Geschacher um Posten, sondern die Sehnsucht nach neuen Ufern.
Den Wähler gibt es nicht mehr, der nibelungentreu sein Kreuzchen setzt, wo es schon Vater und Großvater taten. Historische Verdienste sind ihm schnuppe. Große Namen ma-chen ihn nicht mehr andächtig. Für ihn gilt „Hire and fire“. Er fragt nicht nach Zeugnissen, Titeln und Referenzen, aber nach Kompetenzen, er fragt nur noch „Can you do the job?“. Verkündigungen und Verkünder gibt es im Übermaß – Bindung, Identifikation und Kom- petenzzuweisung weniger.
Es gibt eine junge Generation, die für ihre Lebensplanung neue Akzente setzt. Es gibt einen unbändigen Hunger auf interessante Konzeptionen. Wieso sind Christian Lindner und Dr. Joachim Stamp eigentlich einsam, wenn sie eine ganze kluge FAZ-Seite zumdrängenden Thema „Zuwanderung“ abliefern Wo bleiben andere Kluge, die ihre Konzepte offenlegen?
Es gibt eine Lust auf charismatische Neulinge, die für Überraschungen gut sind. Es gibt einen Widerwillen gegen leere Worthülsen und selbstgefällige Machtspielchen. Der offen- bar nicht altersmilde CDU Grande Wolfgang Schäuble komponiert auf dem Notenblatt einer Schweizer Zeitung das Halali auf seine Vorsitzende. Deren Fortune zerbröselt. Man ist mitgefangen, will aber nicht mitgegangen werden. Gegen Sigmar Gabriel konnten Journalisten seit Langem die gehässigsten Kommentare und Geschichten bei Parteifreunden abholen. Seine Demontage hat wie Schmierseife auf der Wähler-Rutschbahn nach unten gewirkt.
Wenn die AfD beinahe 20 Prozent der Wähler mit der Hoffnung, endlich verstanden und angenommen zu sein, bedient, gibt es immerhin noch 80 Prozent, die davon noch nicht beeindruckt sind. Wer die nicht wahrnimmt, weil er wie das Kaninchen auf die Themen- Schlange der Populisten starrt, verkauft sich unter Wert. Wer die nur verteufelt, die als Problem Empfundenes benennen, stärkt sie. Reale oder gefühlte Probleme suchen Lösungen.
Die unruhige Generation hat Fragen und fordert Antworten. Sie misstraut einem System, bei dem Tricks und Täuschung zum Repertoire des Machterhalts gehören. Sie misstraut auch einem militärisch-politischen Komplex, der mit der Abrissbirne durch die Friedensar- chitektur der Welt brettert und an den Pulverfässern zündelt. Sie misstraut auch einer totalen Industrialisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche, einer „Elite“, die ihreGewinne privatisiert und ihre Verluste vergesellschaftet, und einer Globalisierung, die wenigen nutzt und zu vielen schadet.
Die neue Generation besteht nicht aus autistischen Smartphone-Junkies. Sie lebt in vielen Gemeinschaften. Sie ist bündnisfähig mit allerlei Kräften und Gruppen, die für eine wohnliche Zukunft im „Raumschiff Erde“ arbeiten. Sie demonstriert zu Hunderttausenden gegen nationalistische Abschottung. Sie fordert soziale Chancen-Gerechtigkeit und zieht dafür aber nicht mehr rote Socken an. Sie stürmt auch keine Maschinen, denn sie will eine moderne und leistungsfähige Wirtschaft. Sie bestreitet ihr nicht das Recht, sich im nationalen und internationalen Wettbewerb behaupten zu wollen. Aber sie stemmt die Hacken in den Sand, wenn die Freiheit des Marktes parasitäres Verhalten legitimieren soll oder von Monopolen lächerlich gemacht wird. Wer Sozialpolitik braucht, soll im Bunde sein mit demjenigen, der sie nicht braucht, aber aus Vernunftgründen will und erwirtschaften und bezahlen muss. Beide nämlich wollen in einer Gesellschaft leben, in der es fair und gerecht zugeht. Selbst die Mafia duldet nicht (wie uns der Film-Pate belehrt), dass sich einer mit der Beute aus dem Staub macht.
Ich habe häufig mit Studierenden zu reden und zu denken. Deren Pragmatismus ist echt.Zugegeben: Die „Neue Mitte“ war für mich seinerzeit eher Appell als Interpretation. Siewar eine Vision. Heute sitzt sie in meinen Seminaren und Vorlesungen vor mir. Man muss wohl durch eine langjährige Juso-Sozialisation gegangen sein, um das zu ignorieren.
Stramm Parteiliche sind von Natur aus denkfaul. Sie lieben es ordentlich und übersicht-lich. Der unbekannte Wähler ist ihr „Projekt“, und er soll in ein Schema passen. In der„Nacht der langen Gesichter“ sind sie enttäuscht, fast beleidigt, wenn er ihnen mal wiederentkommen ist. Er tickt nämlich völlig anders. Er hat zwei, drei oder noch mehr Seelen in seiner Brust und heute eine andere als morgen. Schwarz-Weiß ist ihm lebensfremd. Seine Wirklichkeit hat bunte Farben und gleitende Übergänge. Er lässt sich ungern aufs Hochseil locken, gern aber in eine freundliche Landschaft, in der er sich entfalten und mit an- deren unterhaken kann. Er mag kein ständiges Entweder-oder, sondern ein fehlertoleran- tes Sowohl-als-auch. Polarisierung greift ins falsche Regal. Sie ist auch nicht volkstümlich. Die Hau-drauf-Sprache mag unterhaltsam sein wie ein Boxkampf, aber die große Mehr- heit will nicht dauernd in den Ring. Vielleicht ist sie die oft beschworene neue, alte, linkeoder rechte „Mitte“, aber es ist ihr herzlich egal. Schlag nach bei Wilhelm Busch: „Man istja von Natur kein Engel, / vielmehr ein Welt- und Menschenkind. / Und ringsherum ist ein Gedrängel / von solchen, die dasselbe sind.“
Die Grünen machen es gegenwärtig vor. Sie setzen neuerdings nicht mehr auf den Rein- raum politischer Weltrettung und Bevormundung, sondern machen ein Angebot kleiner Schritte auf dem richtigen Weg und zeigen Lebensfreude. Die Führungsriege scheint sich gegenseitig zu mögen. Ein abwägend nachdenklicher Habeck und eine frische Baerbock haben Besseres und Wichtigeres zu tun, als mit dem Dolch im Gewande herumzulaufen. Markus Söder war sichtlich erstaunt, als sie ihm nach der Bayernwahl nicht mit hämi- schem Triumph begegneten, sondern problemlösende Gesprächsbereitschaft signalisierten. Plötzlich erschien die Option „Freie Wähler“ (dort ging es sofort um Ministerpöstchen) als Kleinklein eines alten Denkens und nicht als Aufbruch zu neuen Ufern. – Nicht auszudenken, wenn die SPD-Genossen plötzlich den Grünen oder gar Wählern der CSU und den „Freien“ ehrenhafte Motive unterstellen würden, anstatt sie als leibhaftigen „Gottseibeiuns“ an die Wand zu malen. Das heroisch Luther‘sche „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ ist angestaubt. Wie wäre es mit: „Hier gehe ich, ich kann nämlich auch anders.“Alle historisch durchaus verdienstvollen Traditionsparteien stehen vor der Aufgabe, Vertrauen wiederaufzubauen, das sie vergeudet haben; nicht nur Vertrauen in ihre spezielle Kompetenz oder einzelne Personen, sondern in das politische System schlechthin. Das nämlich ist kein Kramladen für Geschenke und schon gar kein Tempel für den Gott des Gemetzels, sondern eine moderne und intelligente Methode wahrheitssüchtiger Kommunikation. Das nennt man auch Aufklärung Die ist Mischung aus Wahrheitsliebe und Popularisierung. Sie wurde mühsam erkämpft, und wir wollen sie behalten.