„Schweden, wohin man sieht“ – Rheinische Post, 11. September 2018
Nachlese in der Rheinischen Post
„Schweden, wohin man sieht.“
Schon erklingt das übliche Pfeifen im Wald: „Es hätte schlimmer kommen können.“ Aber Verblüffung ist nicht zu überspielen: In Schweden, dem Stamm- und Musterland der Sozialdemokratie, schaffte diese nur noch 26 %. Rechtspopulisten wurden drittstärkste Kraft. Den Volksparteien kommt das Volk abhanden. Offenbar hat man sich bei uns daran gewöhnt. Ein historisch schlechtestes Ergebnis folgt dem anderen. In Holland landete die stolze „Partei der Arbeit“ (früher weit über 30 % der Stimmen) auf 5,7 %, in Augenhöhe mit der Tierschutzpartei (5 %). – Europa, wir haben ein Problem!
Es läuft viel schief. Da ist nicht mehr schwankendes Wetter. Es ist ein dramatischer Klimawandel. Das ist ein europaweiter Trend. Ein solches Schwinden könnte im Verschwinden enden. Schweden ist kein Fall, sondern ein Fanal. Nach 100 Jahren großer Geschichte und einem Grad von Versorgungsstaat und gesellschaftlichen Reichtums, von dem andere träumen, ist das Ergebnis desaströs. Offenbar ging es nicht um das Abstrafen einer verkrusteten Struktur oder suboptimaler Parteifiguren. Was hier abstürzt, ist ein erschöpft wirkendes politisches Modell. Die Schweden empfinden, die Leistungen ihres voll verstaatlichten Gesundheits- und Bildungswesens stünden nicht mehr im Verhältnis zu den Kosten.
In den Ohren vieler Menschen sind Schlecht-, besonders aber Schönredner die Populisten. Nüchterne (kalte) Analyse, die mit den eigenen Wahrnehmungen überein- stimmt, wird geschätzt. Dass so viele überwiegend den neuen Rechten und auch Herrn Trump zutrauen, zu sagen, was ist, und auszudrücken, was man nur denkt, ist schau- erlich. In Schweden haben die den Zusammenhang thematisiert zwischen Kürzungen im Wohnungsbau, Gesundheit, Bildungs- und Sicherheitsbereich und den Kosten alter und neuer Zuwanderung. Damit haben sie den Bogen geschlagen vom moralischen zum materialistischen Thema, zum vemeintlich ökonomischen Interesse gerade der bedrängten Bevölkerungsschichten. Dort ist es ihnen gelungen, es als „Mutter aller Probleme“ von vielen lernen zu lassen. Die anderen Parteien haben die Themenwende zu spät gemerkt.
Ein Weckruf auch für deutsche Sozial- und andere Demokraten? Falls sie ihn hören, genügt nicht mehr der schlaftrunkene Hieb auf die Stopptaste des Weckers. Wenn in Europa die Linke gegen rechts verliert, ist die Analyse am Wahlabend fast stereotyp: „Wir waren nicht konsequent links genug.“ Die Fokussierung auf linke Themen und Truppen hat nicht funktioniert. Warum sollte ein „Weiter so“ funktionieren? Sehenden Auges wird man nicht mehr leugnen können: Die Populisten haben popularisierbare Themen. Sie haben entdeckt, wie leicht man Demokratie mit demokratischen Mitteln aushebeln kann. Internet und „soziale“ Medien bieten ihnen Werkzeuge, von denen frühere Demagogen nur träumen konnten. Die Torwächter des Korrekten werden überspielt. Was erwarten Politiker von den Bürgern, wenn diese nichts mehr von ihr erwarten?
Innerhalb des linken Lagers hat sich nicht nur eine thematische Verengung und Ent- fremdung ergeben zu den Leuten, von denen man gewählt werden will. Es gibt auch eine soziale Verengung des Parteipersonals. „Auf uns hört ja doch keiner“, ist im Bür- gerkontakt der meistgehörte Satz. Es mag Menschen guter Gesinnung ekeln, was manche Menschen sagen und denken, auch wie sie es sagen. Politik muss die Realitäten dahinter aber ernstnehmen. Man muss sich tatsächlich und ehrlich auseinander- setzen mit dem, was die Leute umtreibt: Die Sicherheitsfrage, die Überforderung bestimmter Systeme, und ganz sicher auch Migrationspolitik, die im moralisch getragenen Willkommensrummel nie trennscharf unterschied zwischen dem Menschenrecht auf Asyl und einem geordneten Einwanderungsrecht auf der Basis beiderseitiger Interessen.
Unabdingbar und erste Aufgabe verlässlicher Politik ist die Anerkennung der Wirklichkeit. Eine Partei, die verlorenes Vertrauen zurückgewinnen will, muss nach Wirklichkeit süchtig sein. Die Leute haben Sorgen. Gefühle sind nicht statistikaffin. Punkt. Man kann nicht sagen: „Stellt euch nicht so an! Alles ist doch gut. Kennt ihr nicht die neueste Statistik? Also Schluss mit der Angst – jetzt!“ Die Kommunikationswissenschaft lehrt uns: Der Befehl „Sei spontan!“ ist dumm und wirkungslos. Er erzeugt nicht das gewünschte Verhalten. Er erzeugt eine Verhaltung.
Die vermeintlichen Gewissheiten, von denen sich die Schönredner ernähren, sind in der Wahrnehmung der Leute längst entlarvt. Wer sich weigert, reale Probleme scho- nungslos zu thematisieren und sich durch glaubwürdiges Handeln zu legitimieren, er- zeugt ein Vakuum, das rechte Gruppierungen bereitwilligst besetzen. Er hätte auch aus dem schwedischen Beispiel nichts gelernt.
Warum geht mir eine Anekdote nicht aus dem Kopf: Ich habe schwedische Freunde in einer ländlichen Region. Beim Besuch vor dreißig Jahren fiel mir auf, dass es völlig üblich war, die Haustür nicht abzuschließen. Jeder Dieb wusste, dass sich ein Missbrauch dieses Vertrauens strafverschärfend auswirken würde. Natürlich gab es auch damals Diebe, aber man wollte nicht ihnen zuliebe sein Lebensgefühl ändern. Heute schließen meine Freunde und ihre Nachbarn die Häuser ab. Sogar das Sicherheitsschloss wurde angeschafft. Offene Türen gelten als Verleitung zum Diebstahl. Da hat ein Kulturwandel stattgefunden. Da streut etwas „Keime“ in den Kreislauf der Gesellschaft, was am Ende einen Herzklappenfehler erzeugt. Da ist ein banal erscheinendes Faktum entstanden, über das es keine öffentliche Diskussion gibt, aber das wirkt.