„Oh Heimat! Moritz von Uslar trifft Lucas Vogelsang“ – BAPP, 7. Juni 2018
„Oh Heimat! Moritz von Uslar trifft Lucas Vogelsang“
Grußwort von Prof. Bodo Hombach
Bonner Universitätsforum, 7. Juni 2018
Sehr verehrte Damen und Herren,
unsere großartigen Gäste Moritz von Uslar und Lucas Vogelsang begrüße ich – auch in Ihrem Namen – sehr freudig. Großer Dank an Sie beide und die lit.COLOGNE. Mit der haben wir eine gemeinsame Basis gefunden, nicht nur eine organisatorische.
„Oh Heimat!“ – Ausrufezeichen.
Ein gestriges Thema mit drängender Aktualität. Im globalen Trubel braucht man feste Wurzeln. Die und Weltoffenheit bedingen einander. Wer eigene Verwurzelung genießt, respektiert (ganz frei nach Brecht), dass andere die ihren mögen wie wir die unseren. Gelungene Sprünge brauchen festen Grund unter den Füßen. Bürger kommt von Burg. Deren Mauern boten Schutz. Man konnte hinter Mauern flüchten. Man konnte von dort in die Weite ausbrechen.
Der Begriff „Heimat“ gehört zu denen, die so lange selbstverständlich sind, wie man sie nicht beachtet. Unter der Lupe betrachtet, mit Altlasten der Geschichte befrachtet, werden sie schwierig. Es ist wie mit „Sekundärtugenden“. Wer die propagiert wird begehrlich missverstanden. Schnell finden sich Wortwächter ein, die mit Kaspers Empörungsplatsche zuschlagen.
Manche erinnern sich noch der Fernsehserie „Heimat“. Edgar Reitz hat in den 1980er Jahren einen sehr gelungenen Versuch gewagt. Er hat den kontaminierten Begriff aus der Umklammerung durch die Falschen befreit. Das regionale und lokale Geborgenheitsgefühl der Deutschen wurde mal durch völkische Ideologie instrumentalisiert. Es ist Merkmal von Diktaturen, Begriffe bis zur Unkenntlichkeit zu verwirren.
Jüngst erschien ein Büchlein über „Anstand in schwierigen Zeiten“. Axel Hacke zitiert dort Heinrich Himmler. Der schrieb seiner Tochter 1941 ins Poesiealbum: „Man muss im Leben immer anständig und tapfer sein und gütig.“
In der Fremde verändert sich der Begriff „Heimat“. Alfred Polgar sagte im Exil: „Mir ist die Fremde nicht zur Heimat, wohl aber die Heimat zur Fremde geworden.“ Eichendorff sinnierte: „Wir sehnen uns nach Hause und wissen nicht wohin.“
Mehrheitsfähig ist der Begriff, wenn man ihn mit „Geborgenheit“ übersetzt. Das heißt irgendwie „mitten drin“. Bonhoeffer sagte: „Man fühlt sich von guten Mächten wundersam umgeben“.
Sogleich funkt der Spötter dazwischen mit der Begründung, warum ein Mann sich bei Beerdigungen immer am Rand hält. Denn der Pfarrer betet für denjenigen „aus unserer Mitte“, der dem Verstobenen als Nächster folgen wird.
Wörter und Begriffe haben es in sich. Manchmal ist Unkenntlichkeit ihr besonderes Kennzeichen. Wer aber fragt, ob geraubte und missbrauchte Begriffe jemals wieder verwendet werden sollen, muss zugleich fragen, ob er Räubern und Missbrauchern für alle Zeit die Beute überlassen darf.
Eine kleine Szene aus dem Film „Heimat“ hat mir den Begriff besonders nahe gebracht.
Ein junger Soldat kehrt müde aus dem Ersten Weltkrieg heim. Verwundet und innerlich erloschen. Kinder des Dorfes sehen ihn kommen. Sie beobachten scheu, wie er sein Vater- und Mutterhaus betritt. Sie hören Stimmen und Geräusche im Innern. Plötzlich erscheint die Mutter am Fenster. Sie hat die zerbeulte Feldflasche ihres Sohnes in der Hand. Sie gießt das abgestandene Wasser aus. Die Kinder starren auf die kleine Pfütze. Ein Junge taucht den Finger in das Nass. Er probiert vorsichtig das fremde Wasser aus der fernen Welt.
Da kehrte jemand heim aus einer mörderischen Fremde, verwundet durch den Zusammenbruch alter Gewissheiten und schrecklicher Taten, zu denen man ihn gezwungen hat. Aber da ist dieses Haus – das einzige in der Welt, wohin er zurückkehren kann. Allein sichtbar wird die Mutter mit ihrer kleinen Geste, als sie das verdorbene Wasser aus der zerbeulten Flasche ausgießt. Dann geht sie zur Pumpe in den Hof und holt frisches Wasser. Die Kinder haben zugeschaut mit Neugier und Faszination. Aber auch mit unbewusstem Grauen.
Der Zuschauer begreift: Eines Tages wird man diesem Jungen auch ein Gewehr in die Hand drücken und im Gleichschritt in die Fremde schicken.
Unsere beiden Gäste haben durch ihre literarische Kraft und Weite den Heimatbegriff zurückerobert. Sie tun es in einer Zeit anschwellender Massenbewegungen. Viele halten nach „gelobten Ländern“ Ausschau. Sie wollen dort heimisch werden.
Ihre Beheimatung wird auch von solchen behindert, die hier, aber nicht angekommen sind. Die nicht nach den Regeln der neuen Heimat leben können oder wollen. Wer eine neue Heimat sucht, hat die alte im seelischen Gepäck.
In der neuen Heimat wird er ankommen und angenommen, wenn er in den wesentlichen Gewohnheiten anpassungsbereit ist.
Heute wimmelt es von Heimaten in unserem Land. Das nicht nur bei Zugewanderten. Auch Einheimische bilden einen Flickenteppich. Es sind unterschiedliche soziale Schichten, Bildungsebenen, Bewusstseinswelten. Auflösung traditioneller Milieus, Ökonomisierung fast aller Bereiche und die Anarchie des Internets begünstigen eine Massengesellschaft, die sich Individualität vormacht. Supranationale Strukturen spielen eine überwältigende Rolle.
Gleichzeitig (oder deshalb) erleben wir ein wachsendes Bedürfnis nach rigoroser Regionalität (in Katalonien, Schottland, Flandern). Oft nicht als Rückwärtssehnsucht nach Schlagbäumen. Man sucht der Unübersichtlichkeit zu fliehen. Man hofft, echte Gestaltungsspielräume zu erreichen.
Viele junge Leute, gebildet und solidarisch, geben sich als Vorwärtsträumer für ein Europa der Regionen. Da taucht der Heimatbegriff nicht als „tümelnde“ Selbstüberschätzung, sondern als vielfältiges Nebeneinander auf. Ein weiter Weg. Das ist besser als eine kurze Sackgasse.
Wir haben ein Europa der Staaten und Institutionen. Wenig Elemente einer europäischen Gesellschaft. Wir wissen zu wenig voneinander. Wir kennen uns nur oberflächlich.
Wenn meine Diagnose halbwegs zutrifft, schlägt eine große Stunde der Literatur. Sie ignoriert schon immer Grenzen. Wie Musik geht sie darüber hinaus. Sie führt aber neben Gefühl jede Menge Aufklärung mit sich.
Wir brauchen Menschen, die dem Wort alles zutrauen und zumuten, auch solche, die dem Wort misstrauen. Aber denen man zuhört. Die aufklären und Bewusstsein bilden. Deutliche wie dunkle Begriffe können einen hinters Licht führen.
Wir brauchen „Textwerker“, die sie dem genauen Blick aussetzen. Scheinbar läuft die Technik der Literatur den utopischen Rang ab. Das macht den Raum der Literatur nicht kleiner. Unsere beiden Gäste sind Beweis. Sie schaffen es, ihre eigene Welt in der der anderen zu entdecken.
Wohl dem Leser, der bereit ist, sich ihnen anzuvertrauen! Für ihn gilt, was Canetti formulierte: „Wenn er lange nicht gelesen hat, erweitern sich die Löcher im Sieb seines Geistes, und alles fällt durch, und alles bis auf das Gröbste ist, als wäre es nicht da. Es ist das Gelesene bei ihm, das zum Auffangen des Erlebten dient, und ohne Gelesenes hat er nichts erlebt.“
Ich freue mich auf die nächsten Minuten! Wir werden klüger gehen als wir gekommen sind. Dafür vorauseilenden Dank!