„Südosteuropa. Neue Stabilität oder alte Krisen?“ mit Sabine Stöhr – Uni Bonn, 18. April 2018

„Südosteuropa. Neue Stabilität oder alte Krisen?“

Einführung von Prof. Bodo Hombach

Gast: Sabine Stöhr, Leiterin der Abteilung Südosteuropa im Auswärtigen Amt

18. April 2018

 

Meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie zu unserem ersten Seminar zum Thema Südosteuropa.

Studenten aus dem letzten Semester haben eine Exkursion nach Kroatien unternommen. Ich freue mich, dass sie heute deren Bericht hören können.

Ganz besonders freue ich mich, Ihnen heute einen großartigen Gast, nämlich die Diplomatin Frau Sabine Stöhr, vorstellen zu können. Für den Einstieg in unser Thema ist sie die wohl kompetenteste Persönlichkeit, die ich Ihnen bieten kann. Sie leitet die Abteilung Südosteuropa im Auswärtigen Amt. Außerdem war sie erfolgreiche Ausbildungsleiterin für den höheren Dienst der deutschen Diplomatinnen und Diplomaten. Wer sich von Ihnen für eine solche Laufbahn entscheidet, findet keine/n kompetentere/n Gesprächspartner/in. Liebe Frau Stöhr, wir heißen Sie herzlich willkommen und danken Ihnen, dass Sie den Weg aus der neuen Hauptstadt in die alte auf sich genommen haben.

Der Balkan gilt als klassische Krisenregion. Das Gebiet ist geografisch, kulturell und sprachlich schroff gegliedert. Schon die Römer hatten damit Probleme. Jahrhundertelang war es die „Knautschzone“ zwischen Westeuropa und Byzanz, später des Osmanischen Reiches. Auf den Stabskarten der Großmächte war es Einfluss- und Aufmarschgebiet. Immer wieder kam es zu Grenzverschiebungen, Umsiedlungen und Vertreibungen. Das Ergebnis waren ethnische und soziale Gegensätze, tickende Zeitbomben in Verbindung mit leicht entflammbarer Leidenschaft. Die Staatsmacht, die nicht der eigenen Gruppe entstammte, wurde als Fremdherrschaft erlebt. Ihre Legitimation war gering. Entsprechend schwach war die politische Loyalität der Leute.

„Balkanische Zustände“. Das bedeutete rückständig, emotional, korrupt, zersplittert, chaotisch, gewalttätig, brutal. Man sah hier den unzivilisierten Vorhof des Kontinents. Bismarck wollte dafür nicht „die Knochen eines einzigen preußischen Grenadiers“ opfern, und noch Churchill sprach von „Europas weichem Unterleib“.

Heute reden wir politisch korrekt von „Südosteuropa“. Das klingt wertneutral. Eine Initiative der Europäischen Union von 1999 hat den Namen „Stabilitätspakt für Südosteuropa.“ – Ich sollte das im Auftrag der internationalen Gemeinschaft koordinieren. Eine ehrenvolle und schwierige Aufgabe.

Jedes Land in Südosteuropa hatte einen „großen Bruder“ außerhalb, in dessen Interessen sie sich einbinden ließen und die sie gleichzeitig für sich instrumentalisierten. Südosteuropa wurde klassischer „Nebenkriegsschauplatz“.

Als ich in den Hauptstädten meine Antrittsbesuche machte, erklärten mir die Ministerpräsidenten, sie würden ihre Nachbarn nicht kennen und hätten auch keine Lust, sie kennenzulernen.

Das war nach dem letzten Krieg erklärlich. Die Wunden waren kaum vernarbt, noch längst nicht verheilt. – Dabei hatte es auch schon bessere Zeiten gegeben. Der österreichische Weltbürger Stefan Zweig schrieb noch: „Ich konnte vom Schwarzen Meer bis Amerika reisen, ohne meinen Pass vorzeigen zu müssen.“ – Das war vor dem 1. Weltkrieg.

Tatsächlich gab es lange Phasen, in denen Muslime und orthodoxe oder katholische Christen, Albaner, Kosovaren, Bosniaken oder Serben friedlich Tür an Tür lebten. Religiöse Gegensätze spielten eine viel geringere Rolle als man uns in Westeuropa glauben machte. Das kommunistische System hatte hier die Säkularisierung der Gesellschaft viel weiter vorangetrieben als etwa in der DDR. Andererseits bewahrten sich die Religionen im Untergrund eine Wirkung als Identitätsstifter und emotionales Rückhaltebecken.

Die tieferen Ursachen für den Krisenherd Balkan lagen nicht im Lande selbst, sondern waren das Resultat der Territorialpolitik europäischer Großmächte und der Türkei.

Seitdem die Osmanen 1683 vor Wien gescheitert waren, wurden sie von der k.u.k. Monarchie zurückgedrängt. Habsburg verstand sich als „Vielvölkerstaat“ mit sehr robusten imperialen Interessen. Im Nord-Osten verstärkte das russische Zarenreich den Druck. Moskau sah sich als das Dritte Rom und nutzte die Schwäche Istanbuls, um seinen Einfluss auszuweiten. Dabei spielte der Zugang zum Mittelmeer eine wichtige Rolle.

Im machtpolitischen Schachspiel des 19. Jahrhunderts ging es um Territorien. Die Völker wurden nicht gefragt. Sie begannen aber Ideen aufzugreifen, die sich auch in Westeuropa immer stärker artikulierten. Nationales Selbstbewusstsein einte und spaltete zugleich die Gesellschaft. Man definierte sich über die Abgrenzung vom alten Regime und den benachbarten Völkern.

Auf dem Balkan träumten die Serben von einem Großreich. Man versuchte, die Geschichte zu korrigieren (z. B. die Schlacht auf dem Amselfeld von 1389). Man entdeckte den Kosovo als das „Herz“ der serbischen Kultur. Dort waren inzwischen 90 % der Bewohner muslimische Albaner. Ein missverstandener Darwinismus brachte rassistische Ideen ins Spiel. Der Panslawismus postulierte ein „natürliches“ Bündnis zwischen Serbien und Russland.

1914 war das Pulverfass gefüllt. Den Zündfunken lieferte das Attentat von Sarajewo eines serbischen Fanatikers auf den österreichischen Thronfolger. Die Europäische Friedensordnung brach kaskadenartig zusammen. Der 1. Weltkrieg wurde zur Ur-Katastrophe. In einer mörderischen Kettenreaktion erzeugte er die meisten Kriege, Diktaturen und Verfallsprozesse des nächsten Jahrhunderts.

Im Zweiten Weltkrieg wollten britische Truppen auf dem Balkan eine zweite Front gegen die Achsenmächte eröffnen. Das misslang und gab Stalin die Chance, die meisten Staaten der Sowjetunion einzuverleiben. Nur Albanien und Jugoslawien gingen einen relativ unabhängigen, aber auch kommunistischen Weg. 36 Jahre hielt Tito die sechs Republiken Jugoslawiens mit der Faust zusammen. Auch nach seinem Tod 1980 blieb das Land unter kommunistischer Kontrolle.

1987 brachen Spannungen im Kosovo auf. Der albanische Teil der Bevölkerung stand unter wachsendem serbischem Druck. Vom serbischen Standpunkt wurde das Gegenteil wahrgenommen und behauptet. 1991 begann der Krieg. Im Friedensvertrag von Dayton 1995 wurde Bosnien-Herzegowina aufgeteilt. Serbien reagierte mit ethnischen Säuberungen. Vier Millionen Menschen wurden vertrieben, um die Fiktion eines homogenen Nationalstaats zu realisieren. Der Bürgerkrieg zerstörte Städte und Dörfer und forderte 100.000 Menschenleben.

Er veränderte noch einmal die politische Landkarte. Heute teilen sich folgende Staaten die Region: Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Griechenland, Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Rumänien, Serbien und Ungarn. Davon sind fünf Staaten Mitglied der EU: Bulgarien, Griechenland, Kroatien, Rumänien und Ungarn.

22 Jahre nach dem Bürgerkrieg sucht die junge Generation eine moderne Zukunft für die Region. Sie betonen die gemeinsamen Wurzeln der Völker. Sie wollen offene Grenzen und hoffen auf den Anschluss an Europa. Eine supranationale Struktur könnte die lokalen Gegensätze überbrücken.

In diesen Tagen gibt es eine bedeutende Aktualisierung der europäischen Debatte über die Integration der südosteuropäischen Länder, die noch nicht Mitglied sind. Es geht um die Geschwindigkeit und die Kriterien des Aufnahmeprozesses und des ins Auge gefassten Enddatums.

Es gibt auch Ansätze regionaler Zusammenarbeit. Ökonomischer Fortschritt braucht friedliche und planbare Verhältnisse. Dagegen stehen nach wie vor divergierende Kräfte. Europa erscheint nicht mehr allen als Erfolgsmodell. Die Flüchtlingskrise weckt uralten Fremdenhass. Nach sechs Jahrhunderten osmanischer Herrschaft will man keine muslimischen Einwanderer. Mit diesem Programm kann man Wahlen gewinnen und von allen anderen Problemen ablenken.

Zum Beispiel

  • Korruption. Die junge politische Klasse hat zum Teil in Westeuropa und den USA gelernt. Mancher Heimkehrer entdeckt, dass er immer noch nicht reich ist und will diesen Fehler möglichst rasch beheben. Verantwortung für das Gemeinwohl gilt als Schwäche. Vereinzelt steuern Staatsanwälte dagegen, müssen dann aber um die eigene Karriere fürchten.
  • Politische Kultur. Das demokratische System ist jung und ungefestigt. Ämter werden oft als persönlicher Besitz empfunden. Das Parteienspektrum hat eine schwache Mitte. Entsprechend dramatisch vollziehen sich Wahlkampf und Machtwechsel.
  • Unabhängige Justiz. Hier bedarf es noch einer großen Aufbauleistung, um irgendwann die Maßgaben der EU zu erfüllen.
  • Vergangenheit. Es fehlt an der Bereitschaft, die düstere Geschichte aufzuarbeiten. Jeder fühlt sich als Opfer, niemand als Täter. Die Unzufriedenen und Benachteiligten sammeln sich in Parteien des nationalistischen Ressentiments, zum Teil mit extremen Varianten.

Wohin geht die Reise? Findet Südosteuropa zu mehr Stabilität, oder taumelt es in neue Krisen. Die dann auch wieder nach Europa ausstrahlen. Ist die EU stark genug, die Probleme der Beitrittskandidaten vor der Haustür zu entschärfen, oder holt sie sich diese nur ins Haus, um dann selbst daran zu scheitern? Im Hintergrund zieht Moskau die Fäden. Auch Saudi-Arabien, China und die Türkei bemühen sich, ihren Einfluss auf dem Balkan zu vergrößern.

Unterdessen hält sich die Willkommenskultur Brüssels in Grenzen. Die gerade verkündete Balkan-Strategie der EU-Kommission mit der Aussicht auf fünf neue Mitglieder bis 2025 ist heftig umstritten. – Bezeichnenderweise wird sie von Ungarn unter Viktor Orban lebhaft begrüßt. Er hofft auf Hilfstruppen bei seiner europaskeptischen bis -feindlichen Politik.

Spannende Fragen und eine Vielfalt interagierender Aspekte. Wer Strukturen der Gegenwart erkunden will, hat mit Südosteuropa ein lohnendes Objekt.