„Vertrauensverlust und ‚Lügenpresse‘ – Die Medien in der Krise?“ mit Dr. Stefan Willeke – Uni Bonn, 24. Mai 2017
„Vertrauensverlust und ‚Lügenpresse‘ – Die Medien in der Krise?“
Einführung von Prof. Bodo Hombach
Gast: Dr. Stefan Willeke, Chefreporter DIE ZEIT
24. Mai 2017
Meine Damen und Herren,
ich begrüße Sie und unseren Gastreferenten, Herrn Dr. Stefan Willeke. Er ist einer der bedeutendsten deutschen Journalisten mit breitem Erfahrungsspektrum. Er gehört eindeutig zur Kategorie der sogenannten Edelfedern. Als Chef des Dossiers der Wochenzeitung DIE ZEIT wechselte er als Ressortleiter zum SPIEGEL nach Hamburg, um von dort wieder als Chefreporter zur renommierten ZEIT zurückzukehren. Dort hat er Zeit und Raum, vorbildlichen Journalismus auszuüben.
Für unser Thema ist er Kenner und zuständig zugleich. Herzlich willkommen, Herr Dr. Willeke.
Man redet von „Lügenpresse“ und Vertrauenskrise. Manche Zeitungen überschlagen sich geradezu, jedem Verdacht zuvorzukommen. Sie überkompensieren, und das ist immer ein Hinweis darauf, dass sie sich wirklich ertappt fühlen.
Aber ein Seminar wie dieses begnügt sich nicht mit Vermutungen und Leidenschaften. Es fragt nach den Sachverhalten, ihrem Gewicht und ihrer Einordnung.
Wie schlimm ist das wirklich mit der Vertrauenskrise? Ist es so dramatisch wie es aussieht? Welches sind die eigentlichen Ursachen? Was kann man überhaupt darüber wissen?
Man kann den Blick auf die Medien richten. Haben sich Formen und Inhalte verändert? Gibt es einen Verlust an Professionalität und Engagement? Sind sie unabhängig von politischen Parteien, oder legen sie wenigstens offen, wo sie ihnen nahestehen? Was ist mit der Vielfalt in bestimmten Regionen? Entspricht der Schwund bei den „Holz-Medien“ dem Zuwachs bei den elektronischen? Greift eine allgemeine Sprachregelung um sich, so dass ein Pro und Contra nicht mehr möglich ist? Gibt es den intentionalen Journalismus oder die „politische Frömmelei“, wie das jüngst jemand nannte? Welches sind die Strukturen und Rahmenbedingungen? Wo zeigen sich Defizite, die man beheben müsste?
Man kann aber auch auf die Nutzer fokussieren. Glauben sie noch an die Fähigkeit und Bereitschaft der Medien, ihnen gesicherte Informationen zu vermitteln? Fühlen Sie sich mit ihren persönlichen Erfahrungen und Sorgen hinreichend gespiegelt? Finden sie dort Hilfe zur politischen Willensbildung, oder macht sich jenseits gesunder Skepsis ein grundsätzliches Misstrauen breit?
Ein solcher Befund wäre sehr ernst zu nehmen. Er beschriebe einen systemgefährdenden Trend. Die gemeinsame Basis würde brüchig. Es entstünde ein Modus des radikalen Zweifelns. Man kann sich auf nichts mehr verlassen. Die Gesellschaft spaltet sich. Konsens wird zum Luxusgut. Das Vakuum würden Ideologen und Demagogen mit pauschaler Schuldzuweisung, monokausalen Erklärungen, a-historischen Rückwärtsträumen und der Aufforderung zur Tabula rasa besetzen.
Dies alles unterstreicht die Bedeutsamkeit unseres Themas. Mehr denn je sind wir darauf angewiesen, dass wir über Fehlentwicklungen in der Gesellschaft authentisch informiert werden. Wenn wir uns mit dem Verlust elementarer Standards des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht abfinden wollen, brauchen wir Qualitätsmedien. Sie klären Sachen und bieten den Ansichtssachen ein Forum. Kritisches Nachfragen ist Bürgerpflicht.
Das machen auch wir. Und deshalb fragen wir: Woher weiß man überhaupt, wie sich das Medienvertrauen in der Gesellschaft entwickelt? Ist das nur ein Gefühl? Ist das Thema „Lügenpresse“ nur die blinde Übernahme von Pegida-Parolen? Oder gibt es überprüfbare Daten und Erkenntnisse?
Kommunikationsexperten nennen drei wichtige Quellen:
- Jeder Mensch hat eine eigene Meinung. Sie entsteht durch persönliches Erleben und Einflüsse seines sozialen Umfelds. Sie haben für ihn eine hohe Glaubwürdigkeit. Presseberichte, die seiner Wahrnehmung widersprechen, machen ihn misstrauisch.
- Das Thema ist en vogue und wird mit erhöhter Aufmerksamkeit behandelt. Die Medien transportieren die Behauptung, das Vertrauen hätte allgemein nachgelassen. Wenn sie damit seinen Verdacht bestätigen, ist der Konsument geneigt, ihnen zu glauben. – Womit er ihnen natürlich eine gewisse Glaubwürdigkeit zugesteht.
- Umfragen erkunden die Einstellung der Leute und beobachten Trends. Die Ergebnisse werden ausgewertet und veröffentlicht. Das hat Rückwirkung auf die Meinungen. In der Regel bescheinigt man der Statistik eine hohe Glaubwürdigkeit. Nur wenige fragen nach den Auftraggebern und der Qualität der Fragen.
Bei den beispielhaften drei Punkten ist Vorsicht geboten.
- Das persönliche Umfeld unterliegt der selektiven Wahrnehmung. Diese ist nicht repräsentativ und fast immer interessengesteuert. Hohes Vertrauen genießen Mitteilungen und Stellungnahmen von Freunden und Bekannten innerhalb der sozialen Medien. Dort sind aber abweichende oder gar widersprechende Stimmen ausgeblendet.
- Die pauschale Umfrage nach dem Vertrauen in die Medien sagt nichts darüber aus, an welche Medien der Befragte in diesem Augenblick denkt. Meint er DIE ZEIT oder BILD? Meint er Tagesschau oder Panorama? Liest er überhaupt eine journalistisch verantwortete Zeitung oder nur den ungeprüften Beifang an Kurznachrichten und bunten Bildern auf seiner Mailplattform? Misstraut er den Medien vielleicht, weil er allen und allem misstraut und als Bürger innerlich gekündigt hat?
- Nach Ermittlungen der Leipziger Universität stimmen nur 14 Prozent der Deutschen der Meinung zu, dass (sämtliche) Nachrichtenmedien (immer!) und (überall!) lügen. Der Prozentsatz ist relativ stabil, unabhängig von der Debatte der vergangenen zwei Jahre.
Differenzierung tut also not. Ein realistisches Bild bekommt man erst, wenn man nach der Einstellung zu ganz bestimmten Medien fragt. Qualitätsmedien und öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten genießen z. B. einen größeren Vertrauensvorschuss als Boulevard- und Verteilzeitungen. Man vertraut auch den Medien, die man selber nutzt viel mehr als denen, die man gar nicht kennt.
Eine enorme Rolle spielt der persönliche Bildungshorizont. Wer überhaupt bereit und in der Lage ist, einen Zeitungsartikel zu lesen, zwischen Bericht und Kommentar unterscheiden kann, vielleicht sogar mehrere Quellen vergleichend nutzt, ist gegen Pauschalurteile besser gefeit als andere, die sich dieser Mühe nicht unterziehen und sich höchstens die Bilder anschauen.
Das populäre Reden von der „Lügenpresse“ entbehrt also anscheinend der sachlichen Grundlage. Differenziertes Denken und sorgfältige Recherche kommen zu ganz anderen Ergebnissen. Fast 60 Prozent der Deutschen fühlen sich von den Nachrichtenmedien, die sie regelmäßig nutzen, hinreichend gut informiert. Das hindert sie nicht, im Gegenteil: Es befähigt sie, einzelne Fehlleistungen der Presse kritisch zu untersuchen und zu beurteilen.
Die gefühlte Vertrauenskrise hat mit aktuellen Vorfällen zu tun. Diese reichen aber nicht aus, sie zu begründen. Das Thema ist eingebettet in generelle Entwicklungen der Gesellschaft, die man in den Blick nehmen muss.
Diese hat sich rapide modernisiert und säkularisiert. Autoritäten sind verlorengegangen. Die Kirchen, die Monarchie, das traditionelle Milieu, die Familienstruktur. Sie entfallen für die Zuschreibung von Verantwortung, für die klare Adresse, von der ich meine Informationen und Leitlinien beziehe. Die jüngste Neuauflage der alten Debatte um eine deutsche Leitkultur hat gezeigt, dass die Autorität eines Ministers diese Lücke nicht ausfüllen kann.
Wir erleben undurchschaubare Prozesse. Wer weiß denn, wie die EU oder die Medien funktionieren und wie dort Entscheidungen getroffen werden. Das ist für Menschen, die nicht nahe daran sind, sehr undurchsichtig. Und es fehlt an Persönlichkeiten, die als Dolmetscher und Moderatoren fungieren könnten. Intransparenz ist aber ein Treibhaus für Misstrauen.
Zunächst ist das nicht weiter schlimm. Der aufgeklärte und mündige Bürger soll ja skeptisch hinterfragen, was die Politik, die Banken, die Kirchen so alles treiben. Problematisch wird es, wenn Misstrauen endemisch wird und das System als Ganzes und als solches in Frage gerät.
Die Themen „Vertrauenskrise der Parteien“ und „Vertrauenskrise der Institutionen“ haben uns schon vor Jahrzehnten beschäftigt. Das Thema „Vertrauenskrise der Medien“ ist recht neu. Möglicherweise ist ein Teil der allgemeinen Verunsicherung durch diesen Vertrauensverlust begründet. Medien, die uns ein realistisches Bild unserer Welt vermitteln, scheinen in bedeutendem Umfang die Fähigkeit, Massen zu orientieren, verloren zu haben.
Karl Popper sprach von einer Art Verschwörungsmentalität (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 1945). Er beschreibt die Neigung vieler Leute, unangenehme Entwicklungen in der Gesellschaft zu dämonisieren. Sie sind dann für sie nicht ein Geschehen, dass sich aus einem Geflecht zahlreicher Gruppierungen, Persönlichkeiten, Interessen und Umstände ergibt, sondern ein planvolles Vorgehen anonymer Mächte.
Nehmen wir noch hinzu, dass die allgemeine Bereitschaft zur Wahrheit rapide erodiert. Die Werbung lügt, dass sich die Balken biegen. Hinter jeder Payback-Karte und jedem bunten Lockangebot lauern Ausspähung und Abzocke. Große Unternehmen, die als Standards für ehrbares Verhalten galten, erweisen sich durch manipulierte Produkte, Steuerflucht, Preisabsprachen und Schwarze Kassen als Großraumbetrüger, von der Politik eher gedeckt als kontrolliert. Auch in den Demokratien hantieren Politiker mit Worthülsen und Fake-News.
Gelogen wurde schon immer. Nun aber gilt anscheinend Lügen vielen nicht mehr als beschämende Fehlleistung, sondern als akzeptierte oder hingenommene Methode im politischen Machtkampf. Man sagt und schreibt: Gerade erst sei ein notorischer Lügner in die Zentrale der westlichen Führungsmacht gewählt worden – von Leuten, denen die Wahrheit nicht mehr wichtig erscheint.
Verlieren die Medien ihr Publikum? Verliert die Demokratie ihre Bürger? – Herr Dr. Willeke, Ihr Stichwort!