„‚Mit Verlaub, Herr Präsident…‘ Wirkung und Wandel politischer Rhetorik“ – BAPP, 16. Mai 2017

„‚Mit Verlaub, Herr Präsident…‘ Wirkung und Wandel politischer Rhetorik“

Auftaktveranstaltung zur Reihe „Politik trifft Literatur“ mit der Lit.COLOGNE

Begrüßung durch Prof. Bodo Hombach

Bonner Universitätsforum, 16. Mai 2017

Sehr verehrte Damen und Herren,

die Lit.COLOGNE ist ein etabliertes Kulturereignis. Sie sendet uns bedeutende Gäste. Die Herren Noethen, Professor Pörksen und Kessler begrüße ich – auch in Ihrem Namen – herzlich in unserer Akademie. Die beschäftigt sich mit der Praxis: also der politischen Tat und deren Folgen.

Schweigen sei Gold – Reden immerhin Silber. Heute geht es um die „politische Rede“. Die geht der Tat voraus. Das Thema muss sich nicht legitimieren.

Mit der Sprache bekam jedes Ding einen Namen. Mit ihr gelang der Austausch in der und über die Welt. Sie ebnete den Sonderweg des Menschen. Das Wort hat Macht. Es kann Kinder in den Schlaf erzählen, Gebete sprechen, böse Geister beschwichtigen, sich abstimmen, an Lagerfeuern berichten, „wie alles anfing.“ Und Massen bewegen.

Aus Zeichen – Hieroglyphen – wurde Schrift. Die entwickelt sich zum Emoji zurück. Das gesprochene Wort, auch das Ehrenwort, wurde fixiert. Heute will man ein Versprechen schwarz auf weiß.

Der Mythos vom Babylonischen Turm artikuliert Erschrecken. Erschrecken über Verdichtung und Auftürmung. „Nun ist ihnen nichts mehr unmöglich“, steht geschrieben. Der biblische Erzähler gibt sich entsetzt wegen des frevelnden Eindringens in die Hoheitszone Gottes. Der verstand keinen Spaß. Eine rote Linie war überschritten. Er zerstörte den Turm. Schlimmer noch: Er verwirrte die Sprache der Völker und zerstreute sie in alle Welt.

Nicht lang her glaubten wir, mit dem Internet sei die Katastrophe von damals überwunden. Die neue Weltsprache aus „0“ und „1“ würde die Menschen wieder zusammenführen. Aber eine „0“ kann Probleme verzehnfachen.

Der Traum vom ultimativen Verstehen ist zerplatzt. Der moderne „Massen-Eremit“ läuft hinter dem Smartphone her wie der Esel hinter der Möhre. Jeder ist eine Insel. Die Rede droht zu verschwinden. Gerede beginnt, die Welt zu beherrschen.

Bis ins Mittelalter – vermuten Experten – konnte man nur laut lesen. Nur das klingende Wort wurde verstanden. Das geschriebene war Symbol, Vehikel, Gedächtnisstütze. Wir kennen den Brief eines Abtes. Der hatte sich vom Nachbarkloster ein Buch ausgeliehen. Er schickte es zurück. Seine Anmerkung: „Ich konnte es leider nicht lesen. Ich war heiser.“

Ein gesprochenes Wort wendet sich an Zuhörer. Man soll dem Redner glauben. Es geht um Glaubwürdigkeit. Darüber entscheidet nicht allein der Inhalt der Rede. Manch bedeutende Rede hat die Strömungsrichtung des Geistes oder der Geschichte verändert:

  • Sokrates stellte seinen Richtern die Freiheit des Geistes und der menschlichen Person entgegen.
  • Demosthenes wählte sich das Meeresrauschen zum Sparring-Partner und entfesselte die makedonische Expansion.
  • Die Römische Republik ist ohne große Reden und Redner nicht denkbar.
  • Die sanfte Botschaft der Bergpredigt markierte die Umwertung alter Werte.
  • Churchills Züricher Europa-Rede war Zündfunke der Europäischen Einigung.
  • John F. Kennedy erzeugte eine Thermik, die den ersten Amerikaner auf den Mond brachte.
  • Martin Luther Kings „I have a dream“ wurde zur Ikone der Bürgerrechtsbewegungen in aller Welt.

Politische Reden haben Bewusstsein verändert. Sie haben auch neue Realitäten geschaffen.

Auch im Bundestag gab es große Reden. Sie überragten das tages- und parteipolitische Hin und Her und blieben dauerhaft im Gedächtnis. Man nannte das Haus hier nebenan das „Hohe Haus“. In dem gab es Sternstunden. Aus Talk Shows kennen wir die nicht.

Eine einzige Rede konnte jemanden in die höchste Liga katapultieren.

  • In der Verjährungsdebatte 1945 wurde aus dem Hinterbänkler Ernst Benda eine Marke. Er brachte es bis zum Bundesverfassungsrichter.
  • Richard von Weizsäcker sprach am 8. Mai 1985 mit befreiender Klarheit. Natürlich wurde er von einer rechten Meute angefallen.

Aber Freunde blieben ihm in Überzahl.

Eine einzige Rede kann jemanden abstürzen lassen. Bundestagspräsident Philipp Jenninger erlosch mit seiner Rede zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome. Wie man heute weiß, lag es nicht am Inhalt seiner Ausführungen. Es lag an fehlgedeuteten Fernsehbildern.

In der vordersten Reihe saß die jüdische Schauspielerin Ida Ehre. Die hatte sich mit den Händen die Augen bedeckt. Die Zuschauer glaubten, eine angesehene Künstlerin und Opfer der Verfolgung wolle angesichts dieser Rede vor Entsetzen in den Boden versinken. Später stellte sie klar, sie hätte sich vor dem grellen Scheinwerferlicht schützen wollen.

Ob eine Rede zündet oder nicht, hängt von den Konditionen des Augenblicks ab. Die persönliche Rede ist mehr als ihr Inhalt. Sie ist Bekenntnis, Ernstfall, unwiederholbar, unkorrigierbar.

Die große Rede spielt auch als literarische Figur eine Rolle. Die Weltliteratur hat Beispiele:

Unübertroffen die Rede des Marc Anton in Shakespeares „Julius Caesar“.

Erregend die Reden Dantons, Robespierres und St. Justs. Georg Büchner konnte sie unmittelbar aus den Protokollen der Revolution in sein Theaterstück übernehmen.

Aufrüttelnd das „J’accuse“ des Émile Zola in der Dreyfus-Affäre, eine Rede in der Tarnung des Zeitungsartikels.

Faszinierend die Rede des Felix Krull, mit der er eine spröde Schöne in Lissabon zur lebensvollen Frau erwecken will.

Bewegend die menschheitsumspannende Radiorede des John Doe in Frank Capras Film „Meet John Doe“ von 1941.

Mitreißend die Rede des Großen Diktators als Charlie Chaplin am Ende seines berühmten Films.

Der Ausruf von Robespierre: „Heute ist der Tag, an dem das Volk seine Macht zurückerhält!“, echote kürzlich aus Washington.

Bei Rede über die Rede gibt es kein natürliches Ende. Ich breche einfach ab. Ich freue mich mit Ihnen auf alles Weitere. Eine gute Rede hat Regeln: Der Redner darf nicht länger reden als seine Rede dauert. Martin Luther empfahl: „Tritt fest auf – mach’s Maul auf – hör bald auf!“

Wir freuen uns immer, klüger hier rauszugehen als reinzukommen. Dieses Mal freuen wir uns zusätzlich auf gute Unterhaltung. Dafür bereits jetzt vorauseilenden Dank.