„Rücktritte: Über die Kunst, ein Amt zu verlassen“ – Buchbeitrag, 15. Mai 2017

„Rücktritte: Über die Kunst, ein Amt zu verlassen“

Vorwort von Herausgeber Prof. Bodo Hombach

Mai 2017

Sigmar Gabriel verließ die Kommandobrücke in klarer Einschätzung der Situation von Partei, Person und historischer Notwendigkeit: ein beispielgebender Fall demokratischer Rücktrittskultur.

Einen ähnlichen Coup landete Benedikt XVI. Er tat, was in 2000jähriger Kirchengeschichte bis dahin erst einer getan hatte (Coelestin V. 1294). Entsprechend aufgeregt und gegensätzlich waren die Reaktionen. Die einen erklärten seinen Schritt als folgerichtig und sachgerecht. Die anderen verwiesen auf den Weihecharakter des Amtes und behaupteten ein unauflösliches Band zwischen Funktion und Person.

Im größten Teil der Geschichte und der Welt wurde und wird die Macht charismatisch verstanden. Sie wurde vererbt oder durch „Handauflegung“ übertragen. „Es steht geschrieben“, war die Antwort auf jede Frage nach der Legitimation. Die deutschen Könige wurden zwar durch die Kurfürsten gewählt, dann aber gesalbt und mit den Reichsinsignien versehen. Die Reichskrone zeigt Bilder der biblischen Könige David und Salomon als idealisierte Herrschergestalten. Wen wundert es: Nach ihrer Krönung in Aachen begaben sich die Karls, Heinriche und Ludwige als erstes nach Köln, um sich am Schrein der Heiligen drei Könige eine hohe Dosis ihres Gottesgnadentums zu besorgen. Und so, wie sie ihr Amt verstanden, setzte es sich bis in die kleinste Amtsstube fort. Wer es bis dorthin geschafft hatte, hatte es geschafft. Er residierte „im Nebel seiner Wichtigkeit“ (Joseph Sonnenfels) und betrachtete die Bittsteller als sehr viel sterblicher als sich selbst. – Entsprechend konvulsivisch waren die Zuckungen einer Gesellschaft oder eines Staates, wenn der Inhaber des Thrones vor der Zeit abdankte oder abgedankt wurde. Dazu bedurfte es zumeist einer Revolution und eines Schafotts oder eines Krieges. Es kam die Bürger teuer zu stehen und bedeutete lange Zeiten der Unruhe.

Aber dann kam in Westeuropa die Aufklärung. Man begann, die Dinge im Licht der Vernunft zu betrachten und definierte den Staat als einen Gesellschaftsvertrag zum Wohle aller. Noch war es sensationell, wenn der Müller von Sanssouci gegen die Willkür Friedrichs II. an das Reichskammergericht in Berlin appellierte und es ging nicht ohne eine Revolution, in der viele Köpfe rollten. Der moderne republikanische Staat war geboren. Er funktionierte auf der Basis vernünftiger Gesetze, hielt die Macht durch Teilung in Schach und erfand den Bürgerstolz.

Die Demokratie hatte ein modernes und gänzlich anderes Amtsverständnis. Man ist dessen Verwalter und nicht Besitzer. Der Rücktritt eines Amtsträgers ist weder ungewöhnlich, noch dramatisch. Wie lange und mühsam er darum gekämpft und den Augenblick des Triumphes genossen hat, es ist alles auf Widerruf. Schon bald kann etwas geschehen, was ihn zum Rücktritt zwingt. Er muss nicht persönlich schuldig sein. Es genügt ein schwerer Fehler von Mitarbeitern seines Verantwortungsbereichs. Der Respekt vor dem Amt sollte ihn veranlassen, die Konsequenzen zu ziehen. Es ist eine Frage der Hygiene. So betrachtet ist ein Rücktritt kein Zeichen der Schwäche, weder des Systems, noch des Betroffenen, sondern ein Zeichen für beider Stärke. Im Umkehrschluss kann ein fälliger, aber beharrlich verweigerter Rücktritt das Amt beschädigen und letztlich auch seinen Träger. In der Skandalchronik fehlt es nicht an Beispielen. Mancher kann seinen Hut nicht nehmen, weil er an dem Sessel klebt, auf dem er sitzt. Argumente beeindrucken ihn nicht. In Schillers „Wallenstein“ sagt Oberst Butler: „Ich hab ein Amt und keine Meinung.“

Andererseits können gehäufte Rücktritte auch Sorgen machen, dann nämlich, wenn eine „wölfische“ Gesellschaft, angeheizt durch demagogische Kräfte, den starken und kompetenten Träger eines Amtes in die Erschöpfung treibt. Verantwortungslose Medien und die Hetzkampagnen des Internets bieten dazu ein ganzes Arsenal von Möglichkeiten. Das richtet nicht nur akuten Schaden an, es kann auch bewirken, dass niemand mehr bereit ist, sich für ein Amt zur Verfügung zu stellen („Warum sollte ich mir das antun?“). Wie in jedem Betrieb ist auch die innere Kündigung des Bürgers der Super-GAU. Der nächst Schritt ist passive Sabotage. Man lässt etwas vor die Wand laufen, obwohl man es retten könnte. In der Politik bleibt ein Vakuum nicht leer. Wo die Guten weichen, füllt es sich mit den Schlechten, mit Machtjunkies, Emporkömmlingen und Glücksrittern. Der Weg eines solchen Gemeinwesens führt vor die Wand.

Diese sehr spontanen und thesenhaften Überlegungen machen bewusst: Der Rücktritt in der Demokratie ist nicht nur ein spezielles Ereignis. Er ist auch ein Thema. Er fordert heraus. Er polarisiert. Er kann dazu beitragen, erodierte Tugenden und Kriterien wieder freizulegen. Ein besonnener Diskurs kann helfen, drohende Gefahren zu erkennen und vorbeugend tätig zu werden.

Dazu liefert das vorliegende Buch eine Fülle von Material. Es referiert die spektakulären Rücktritte der neueren Geschichte, sondiert aber auch die dahinterliegenden Strukturen. Allen Autoren und Organisatoren dieses Werkes ist zu danken.

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