„Vorsicht, Leitkultur!“ – Handelsblatt, 8. Mai 2017

Gastkommentar im Handelsblatt – von Prof. Bodo Hombach

„Vorsicht, Leitkultur!“

„Wer sind wir? Und wer wollen wir sein?“ Thomas de Maizière ist bei der Beantwortung der Frage mutig bis tollkühn.

In zehn Thesen hat der Bundesinnenminister eine Leitkultur für Deutschland definiert. Dazu gehöre, dass wir uns die Hand geben, unser Gesicht zeigen und folglich keine Burka tragen. Bildung sei ein Wert und kein Werkzeug. Wichtig seien Leistungsbereitschaft, das Erbe der deutschen Geschichte und natürlich Kultur. Bach und Goethe „gehören“ zwar der ganzen Welt, sie waren aber Deutsche. Die Religion sei Kitt und nicht Keil der Gesellschaft, kirchliche Feiertage prägen den Rhythmus des Jahres und Kirchtürme unsere Landschaft. Das Recht habe absoluten Vorrang. Wir seien eine konsensorientierte Gesellschaft, und dazu gehöre der Minderheitenschutz. Als „aufgeklärte Patrioten“ lieben wir unser Land, ohne andere zu hassen. Das zeigen wir mit Fahne und Hymne. Deutschland sei „Teil des Westens“ mit einem kollektiven Gedächtnis für Orte und Erinnerungen. So weit, so richtig und unspektakulär.

„Die Verunsicherten in unserer Gesellschaft sollen abgeholt werden“, wird zum politischen Stehsatz, und das zu realisieren ist auch wichtig. Man darf sie nicht den radikalen Parteien von links und rechts überlassen. Das ist demokratischer Auftrag. Wenn de Maizière mit seinem Papier nur das im Sinn hätte – na gut. Manche Begriffe leben von ihrer Unschärfe. Sie eignen sich als Orientierungshilfe oder Appell. Wer sie unter die Lupe nimmt, macht sie unbrauchbar. Jede Lupe ist auch Brennglas. Das Objekt verdampft dann vor den Augen des Betrachters.

Eine Frage der politischen Kultur

Erfinder der „Leitkultur“ waren der liberal-islamische Politologe Bassam Tibi und Theo Sommer („Die Zeit“). Sie wollten damit klarstellen, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik nicht verhandelbar sei. So einfach und so klar. Dann aber (2000) griff CDU-Fraktionschef Friedrich Merz begehrlich zu, und es begann der parteipolitische Lagerkampf. Die einen machten den Begriff zum Schlachtruf gegen Zuwanderung und „Multikulti“. Die anderen verdächtigten ihn ebenso lautstark oder noch viel schriller, es genau so gemeint zu sein.

Vergeblich wehrten sich die Urheber gegen die politische Instrumentalisierung. Feinere Töne, wie von Jürgen Habermas, wurden kaum gehört: „In einem demokratischen Verfassungsstaat darf auch die Mehrheit den Minderheiten die eigene kulturelle Lebensform – soweit diese von der gemeinsamen politischen Kultur des Landes abweicht – nicht als sogenannte Leitkultur vorschreiben.“

Und nun führt Thomas de Maizière die Kuh wieder aufs Eis. Es rauscht gewaltig im Blätterwald. Die „sozialen“ Netzwerke heulen auf wie bei einer elektroakustischen Rückkoppelung. Alle zerren an den Zipfeln des Begriffs, und jeder hat nur noch einen Fetzen in der Hand. Man müsste an der Schläue des Bundesinnenministers, der ja auch Verfassungsminister ist, zweifeln, wenn er das nicht gewusst und gewollt hätte. Es ist schließlich Wahlkampf. Der politische Gegner wird brav über das Stöckchen springen, und man kann ihn wieder als „vaterlandslosen Gesellen“ in die Ecke stellen.

Dabei lohnt es sich doch, genauer hinzuschauen. Das Thema ist zu wichtig, um es mit falscher Dramaturgie zu vergeuden oder sein Gewicht im Parteiengezänk zu verklappen. Europa ist Einwanderungsland, auch wenn sich die Unionsparteien beharrlich weigern, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen. Sie verpassen eine große Chance, diese Seite der Globalisierung zu moderieren und sie vielleicht in einem breiteren Konsens zu gestalten.

Das geht nicht mit dem Wischiwaschi politischer Korrektheit. Es geht allein mit der Klärung der Probleme in verständlicher Sprache, damit sie rational lösbar werden. Ganz konkret: Für die eingewanderten Muslime gilt nicht die Imam-Tradition der islamischen Zivilisation. Europa muss seine Identität behalten und darf deren Annahme durch Anpassung und Anerkennung der in den europäischen Verfassungen enthaltenen Normen und Werte fordern.

Achtet auf die Botschaft!

Das gilt aber nicht nur für Migranten, sondern ebenso für die „Einheimischen“. Verstehen sie Deutschland als demokratisches Gemeinwesen oder als ethnisch-exklusive Gemeinschaft? Ist unser Staat eine konsensuelle, also nicht-ethnische Vertragsgemeinschaft von Bürgern im Sinne von „Citoyen/Citizen“ oder gilt noch immer unterschwellig die tribale Definition von „Volksgemeinschaft“, die dann am rechten Rand ins „Völkische“ abstürzt?

Die war schon im 19. Jahrhundert antiquiert. Es gab kein „Volk“ mehr, sondern etwas viel Besseres: eine Bevölkerung. Trotzdem wurde die ethnische Sicht 1913 im Staatsangehörigkeitsgesetz des Deutschen Reiches verankert und wurde auch nach 1945 beibehalten. Sie gehört zu den Lebenslügen unseres Staates und streut immer wieder ihre schlechten Keime in den Kreislauf. Vielleicht erklärt das auch die pompöse Theatralik, mit der die einschlägigen Gruppen alles Fremde gerührt in die Arme schließen, auch wenn es vormodern, undemokratisch, frauenfeindlich daherkommt und sich hinter pseudoreligiösen Kulissen verschanzt. Diese Form der Political Correctness hat etwas von Überkompensation und sollte einmal wissenschaftlich auf die Couch.

Erfrischend für mich ist die kürzlich erst gemachte gute Erfahrung mit dem Botschafter der Vereinigten Arabischen Emirate, Ali Abdullah al-Ahmed. Der warnte – entgegen seiner diplomatische Zurückhaltung – laut: „Achtet darauf, welche Art von Botschaft Prediger in den Moscheen Europas an die Einwanderer weitergeben! Das betrifft nicht nur Flüchtlinge. Die Anschläge in Belgien oder Frankreich wurden von Terroristen verübt, die dort geboren wurden.“

Differenzierung tut also not. Es gibt Migranten, die der Hölle ihres Landes entkommen sind und die hierzulande endlich ein freies, selbstbestimmtes Leben in einer offenen Gesellschaft führen wollen. Und es gibt Frauenverächter mit atavistischen Ehrbegriffen und unbändiger Lust am Beleidigtsein.

Es gibt deutsche Bürgerinnen und Bürger mit weltoffener, demokratischer Gesinnung, die sich ehrenamtlich engagieren. Und es gibt xenophobe Abschottungsjunkies, die niemandem eine Wohnung vermieten oder einen Arbeitsplatz anbieten, der andere Hautpigmente hat als sie, auch wenn er hier geboren ist. Es mag vielleicht hundert Burkas geben in unserem Land. Was ist mit deutschstämmigen Gewalttätern, die sich als Erfüller des unterdrückten Volkswillens fühlen, wenn sie Flüchtlinge „klatschen“ oder Asylheime abfackeln?

Wir sind Weltbürger

Was also nützt es einem Zugewanderten, der sich die „Zehn Gebote“ des Innenministers an die Küchenwand klebt und sie täglich memoriert, wenn er draußen vor der Tür sofort auf Bio-Deutsche trifft, die ihn für jeden Terrorakt verantwortlich machen. Und die ihn verdächtigen, er wolle es doch nur zum katholischen Ministranten bringen, um seiner Abschiebung vorzubeugen? Wir brauchen anderes und Besseres als Symbolpolitik, und zwar auf beiden Seiten des Ministerpapiers:

  • eine klare Akzeptanz des Grundgesetzes, der europäischen Verfassung und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,
  • einen geduldigen Prozess zur Vermittlung und Einübung der humanen Errungenschaften der europäischen Geschichte für jeden, der auf diesem Kontinent seine persönliche Zukunft sucht,
  • das Abholen desorientierter Menschen mit berechtigten Ängsten; ohne oberlehrerhafte Attitüde, aber auch ohne sie affirmativ zu beschwichtigen,
  • Begegnung mit anderen Menschen, Ländern, Sprachen, Kulturen. Reisen bildet. Das Fremde fasziniert und macht nachdenklich zugleich. Das Vertraute wird einem deutlicher bewusst und zugleich relativiert. (Bert Brecht: „Es geht auch anders, aber so geht es auch.“) Entscheidend sind Respekt und Offenheit. Wer als Dummkopf auf weite Reise geht, kommt als weit gereister Dummkopf zurück.

Digitalisierung und Globalisierung machen uns zu Weltbürgern, ob wir das wollen oder nicht. Es bleibt eine Herausforderung, und die ist nur verkraftbar, wenn wir uns daheim geborgen fühlen. Wenn sich Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch in Zürich zum Teegespräch trafen, sprachen sie Schwyzerdütsch.

Die eigentliche Bedrohung geht von den ideologischen Hygienikern aus, welche die Buntheit der Welt und die Widersprüche des Lebens für immer „bereinigen“ wollen. Und sie haben ihre willigen Vollstrecker.

Es gab einmal den Fall eines Mannes mit Oberlippenbart, der von Neonazis durch die Gassen gejagt und brutal zusammengeschlagen wurde, wohl um klarzustellen, dass sie die edlere Rasse waren. Der Richter klärte sie auf, ihr Opfer sei ein ganz normaler Deutscher gewesen. „Oh!“, sagten sie. „Das haben wir nicht gewusst.“ Werden sie sich demnächst erst den Pass zeigen lassen?