„Buchrezension: Zwischen Kleinmut und Größenwahn“ – Handelsblatt, 30. März 2017
Buchrezension im Handelsblatt – von Prof. Bodo Hombach
„Zwischen Kleinmut und Größenwahn“
Hans-Peter Siebenhaar hat ein Buch geschrieben. Er ist der Korrespondent des Handelsblatts für Österreich. Ein beneidenswerter Posten in „felix Austria“, dem glücklichen Österreich. In Wien zudem, der freundlichsten Hauptstadt laut internationalem Ranking. Es könnte so schön sein.
Aber er setzt all‘ das aufs Spiel. Er tut etwas, was ihn bei der herrschenden Klasse der Alpenrepublik zur Persona non grata machen könnte: Er hält ihr den Spiegel vor. Er legt alle zehn Finger auf die Wunden einer Gesellschaft mit Verwerfungen, historischen Altlasten und Lebenslügen. Und – Gott behüte – er tut es als Deutscher, von dem man sich Einmischungen in die inneren Angelegenheiten verbittet.
Ob es ihm hilft, dass er Österreich liebt und der „zerrissenen Republik“ alles Gute wünscht? Ob man glaubt, dass seine ungeschönte Diagnose die Bereitschaft zur Therapie fördert? Ob die politisch wachen Bewohner der großen Postkarte zwischen Bregenz und Eisenstadt sich von einem „Piefke“ verstanden, getröstet und ermutigt fühlen? – Warten wir’s ab.
Meine eigene Zuneigung zu unseren Nachbarn konnte er nur ankratzen. Mehr Positives, auch über brillante Zeitgenossen der alten Republik, wäre möglich gewesen. Siebenhaars Österreich-Dossier ist knallhart. Er setzt an mit der Kehrtwende des Landes in der Flüchtlingsfrage, als sich Bundeskanzler Faymann plötzlich aus der europäischen Üblichkeit zurückzog und das Land de facto zur Festung erklärte.
Uralte Ängste (Türkengefahr) wurden bedient. Der Versuch, die rechtspopulistische FPÖ durch Überholen zurückzudrängen, scheiterte. Auch die Hängepartie um die Wahl des Bundespräsidenten bot ein Bild zwischen Größenwahn und Kleinmut. Das war nicht Demokratie als Spiel der Kräfte in politischer Gegnerschaft, sondern feindseliges Treten unterm Tisch.
Krisenreaktor für Europa?
Ist Österreich ein gefährlicher Krisenreaktor für ganz Europa? In 13 Kapiteln untersucht das Buch den Zustand der Brennstäbe anhand von Erlebnissen, Begegnungen, Einsichten und Thesen.
Es geht um Gesellschaft, Wirtschaft, Medien, Kultur. Das ehemalige Musterland sei im Sinkflug („leiser und bequemer Niedergang“). Nötige Reformen blieben aus oder versandeten. Probleme bearbeite man durch Verschleppen, Wegsehen und Aussitzen.
Eine anachronistische Gewerbeordnung, lahmende Internetwirtschaft, byzantinische Bürokratie und Provinzialisierung der Börse verschreckten Investoren. Gleichzeitige Kumpanei zwischen einer durch „Selbstbefruchtung“ schwächelnden politischen Kaste und mächtigen Interessengruppen. Warum dann nicht auch mit Viktor Orbán flirten, mit Putin und russischen Oligarchen dealen? Prinzipienarmut erodiere Verlässlichkeit auf allen Ebenen, schreibt Siebenhaar.
Die Wähler kommentierten das mit Verachtung bis Hass und wendeten sich von den Volksparteien ab. Bei der Bundespräsidentenwahl fuhr der sozialdemokratische Kandidat mit 11,28 Prozent das schlechteste Ergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg ein.
Weiter geht’s mit scharfen Schnitten ins Lebendige der Gesellschaft. Wir erleben die Arroganz der Macht, eine asthmatische Symbolpolitik, den Hofratdünkel, der mit Behagen auf der Bremse steht. Wir erleben den Superreichen, der sich ganze Landstriche unter den Nagel reißt und im eigenen Privatsender seine Märchen erzählt.
Was ist mit der Presse als Kontrollinstanz der Macht und Mächtigen? Die beiden Volksparteien, in panischer Angst um Machtverlust, führten einen Verdrängungskampf um die Medien. Den „öffentlich-rechtlichen“ ORF betrachteten sie als ihr Eigentum. Unterdessen schüren die Populisten ihre Parallelwelt im Internet. Hier ist jede Verzerrung und Lüge erlaubt, solange sie das Brett vor dem Kopf bestätigt, das die Welt bedeutet.
Siebenhaar schreibt sein Buch in rasanter Schnittfolge. Der Journalist enthüllt und spitzt zu. Er bohrt wie ein Zahnarzt. Wo es wehtut, sieht er die richtige Stelle. Zum Ende wird er milder und entlässt uns nicht ohne Hoffnung und ein Quantum Trost. Dennoch: Sein Buch ist kein sanfter Weckruf, sondern eine Alarmtrompete, schrill, nicht schön und erlösend wie in Beethovens „Fidelio“.
Bleibt die Frage: Warum soll das ein Deutscher lesen? – Klare Antwort: Er muss es lesen, denn Zerrissenheit und Blockadementalität kennzeichnen zunehmend auch unsere Republik. Kommende Wahlkämpfe werden es offenbaren.