„Zukunft NRW: Wo ist die Mitte?“ – Rheinische Post, 24. Januar 2017

Gastbeitrag für die Rheinische Post – von Prof. Bodo Hombach

‚Zukunft NRW‘:

Wo ist die Mitte?

In 110 Tagen wählt Nordrhein-Westfalen. Für uns schreiben Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft über die Entwicklung ihres Heimatlands. Zum Auftakt: Die politische Mitte muss jetzt Haltung zeigen.

„Denn eben wo Begriffe fehlen, / da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. / Mit Worten lässt sich trefflich streiten, / aus Worten ein System bereiten…“ Das schwadroniert Mephisto in Faust I. Einmal mehr meint man, er sei Zeitgenosse. Wir ertrinken in einer Flut von Worten, die der Verständigung dienen sollen und oft Verwirrung erzeugen. Wenn Wahlen ihre Schatten voraus werfen, verdunkeln sich Gehirne. Wozu dient noch der Begriff von der Mitte? Selbst Parteien mit Scheuklappen erklären sich zur Mitte. Ränder links und rechts halten sich für die Mitte der Welt.

Es lohnt, aufzuräumen. Die Mitte als wohlfeiles Etikett kann man vergessen. Die Mitte ist eine Haltung. Das gilt es zu erinnern und freizulegen. Sie gilt es zu wecken, damit sie nicht von den Rändern untergepflügt wird. Johannes Rau wurde so verstanden: Er war kein Spalter, sondern ein Versöhner. Er führte Interessen zusammen, die zusammen gehörten. Die, die Sozialpolitik brauchen, mit denen, die sie wollen und bezahlen. Ökologie und Ökonomie. Freiheit und Sicherheit. Das sind Beispiele sinnvoller „Bündnisse der Vernunft“. Die boten einen weiten Orientierungsrahmen für den öffentlichen Diskurs. Rau-Wähler wussten: Die Formeln des Lebens gehen nicht restlos auf. Man muss und kann mit Widersprüchen leben. Es wird nichts so heiß gegessen wie gekocht. Kommt Zeit, kommt Rat. Denken folgt auf Schwierigkeiten und geht dem Handeln voraus.

„Von nichts kommt nichts“

Viele hatten die Diktatur bis zur bitteren Neige erlebt. Sie erkannten die Demokratie als menschlichste aller Staatsformen, spannungsarm, aber pragmatisch und konstruktiv. Sie kontrolliert die Macht durch diejenigen, die unter Machtmissbrauch zu leiden hätten. Sie ist nicht Diktatur der 51 über die 49. Sie ersetzt das Entweder-oder durch das Sowohl-als-auch. Sie hat die Kraft, widersprechende Konzepte nebeneinander bestehen zu lassen.

Der Wähler der Mitte hat Leidenschaften, kann aber die Grundrechenarten. In seinem Stammbuch stehen Sätze, mit denen er ökonomische Traumtänzer und Finanzjongleure in die Schranken weist: „Von nichts kommt nichts“ und „Gib nicht mehr aus als du hast!“

Er mag einen Finanzminister wie Norbert Walter-Borjans, der die stoppt, die sich aus der Steuersolidarität schleichen. Er mag die nicht, die sich zu wenig kümmern, wenn das Land in zu vielen Lebensbereichen anderen hinterherhinkt. Er misstraut denen, die ihm die Welt schönreden. Er hat nicht einen Standpunkt, sondern einen Horizont. Er balanciert nicht auf dem Hochseil steiler Glaubenssätze, sondern bewegt sich in vielfältiger Landschaft.

Er misstraut dem „Sprech“ der Funktionäre, die ihn mit eingeübten Floskeln dummschwätzen. Er weigert sich, zwischen Schwarz und Weiß zu entscheiden. Er hält Kompromisse nicht für den Zusammenbruch seines Selbstwertgefühls. Er weiß: Jede Medaille hat mindestens zwei Seiten. Oft nämlich hat sie auch drei und mehr. Er hört sich die heiser erregten Reden der Apokalyptiker an, auch die der „Insassen des Wolkenkuckucksheimes“, denen das Brett vor dem Kopf die Welt bedeutet.

Aber er denkt selbst. Er mag weder Sprachpolizei, der politische Korrektheit wichtiger ist, als die Wahrnehmung der Wirklichkeit, noch schnelle Verallgemeinerer. Er lässt alle, die in ihren Parallelwelten ein parasitäres Dasein führen, links oder rechts liegen. Er lässt sich nicht – weder höflich noch frech – mit einfachen Lösungen ins Bockshorn jagen. Er zerhaut nicht den Gordischen Knoten, sondern löst ihn geduldig auf (Erich Kästner: „Strick kann man immer brauchen“). Er weiß ja: Er muss wieder aufräumen, was Dumm- und Engköpfe zerschlagen haben. Er muss den Tisch wieder decken, wenn andere leichtfertig Tabula rasa machten. Er macht seinen Job und erzieht seine Kinder. Er prüft alles und behält das Gute.

Aber Vorsicht! Er ist nicht der Depp, den man beliebig herumschubsen darf. Die Haltung der Mitte ist kein weichgespültes Wischiwaschi. Er kann zornig werden, wenn die aus der Etikett-Mitte in Wirklichkeit Flügelspieler sind.

Weichen für die Zukunft stellen

Die Landtagswahl im Mai ist diesmal eine besonders wichtige. Nordrhein-Westfalen ist das mit Abstand größte Bundesland mit hoher Bevölkerungsdichte, einer spannungsreichen Gesellschaft in multifokaler Gemeindestruktur und aufgrund seiner schwierigen Wirtschaftslage ein Testfeld für Zukunft. Wäre es ein eigener Staat, würde er an Einwohnerzahl im oberen Mittelfeld der EU rangieren. Es hat ausstrahlende Bedeutung, wie hier gewählt wird. Es können Weichen für eine bessere Zukunft gestellt werden.

Mehr denn je kommt es darauf an, ob sich die Haltung der Mitte zeigt und ob die Mitte Haltung zeigt. Ist sie kraftlos geworden, wie es Tony Blair jüngst befürchtete und dazu aufrief „Rettet die Mitte!“? Schaut sie nur noch melancholisch zu, wie Dilettanten das Lokal füllen und die Zeche prellen? Oder erinnert sie sich ihrer wichtigsten Tugenden: Verantwortung und Tatkraft. – Das „Wir in Nordrhein-Westfalen“ ging einmal als Ruck durch die Gesellschaft dieses Landes. In Zeiten von Spaltung und Zerfall ist es wieder hochaktuell.

Zum Autor

Der 64 Jahre alte Mülheimer stieg vom SPD-Landtagsabgeordneten und Landesgeschäftsführer zum NRW-Wirtschaftsminister unter Wolfgang Clement auf, bevor Gerhard Schröder den gewieften Strategen 1998 zu seinem Kanzleramtschef machte. Nach seiner Zeit in der Politik führte Hombach die Geschäfte der WAZ-Mediengruppe (heute Funke Mediengruppe). Seit 2011 ist er Präsident der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik und Honorarprofessor an der Universität Bonn.

Hombach mischt sich immer noch gerne ein – am liebsten, wenn es um die SPD und um Wirtschaft geht. Sigmar Gabriel sucht noch heute seinen Rat. In der Gruppe unserer Kolumnisten ist Hombach zuständig für den Blick nach vorn in der nordrhein-westfälischen Wirtschaft. Zugleich ist er der Mann für den Blick hinter die Kulissen.