Georg Cremer „Armut in Deutschland“ – Rezension, 04. November 2016
Rezension von Professor Bodo Hombach
Georg Cremer: „Armut in Deutschland – Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln? – C.H. Beck Verlag
Armut – und mehr
Ein Buch gibt zu denken
Da treibt einer nicht im Mainstream! Da fordert einer, die gegenwärtig so beliebte Armutsdebatte in Deutschland zu beenden. Sie sei unsachlich, schematisch und angstverkrustet. Sie werde populistisch ausgebeutet. Da verkämpfe man sich an zu vielen falschen Alternativen. Andere glaubten, die Sozialkassen werden’s schon richten. Ein Problem, von dem man sich innerlich loskaufen kann, verliert seine imperative Kraft. Der das sagt, versucht keinen Entlastungsangriff für das geplagte Gewissen der Reichen. Ihm liegen die Armen im Lande am Herzen; schon aus Berufsgründen – er ist Generalsekretär des Caritasverbandes.
Wie bitte? – Ein Funktionär, der nicht die üblichen Sprüche klopft? Das ist originell. – Ein Analyst der den Erfolg seines Buches gefährdet, indem er sich dem allgemeinen „Angst-Gequatsche“ (Harald Welzer) verweigert? Das ist ein spektakuläres und lesenswertes Alleinstellungsmerkmal. – Ein Kenner, der nicht vor Balken- oder Tortengrafiken in grobmotorisches Denken verfällt? Das hat Seltenheits-, vielleicht auch noch Unterhaltungswert. Auf jeden Fall fragt man sich: Was ist denn in den gefahren? In einer Zeit, wo regelmäßig einer, der für sensible Gemüter wie ein gefühlter Gruselclown wirkt, apokalyptische Reiter durch die Talkshows treibt.
Georg Cremer schaut genauer hin. Sein Buch „Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?“ überprüft die Argumente der öffentlichen Sozialdebatte. Er entdeckt zahlreiche Fehlbewertungen. Die resultieren auch aus fragwürdigen Indikatoren. Die offizielle Statistik erhebt z. B. ihre Sozialdaten am Ausmaß der geleisteten Sozialhilfe. Dort finden sich z. B. auch Studierende und Auszubildende, weil ihr Einkommen 60 Prozent des Durchschnittseinkommens unterschreitet. Eine Anhebung der Grundhilfe bedeutet mehr Empfänger. Spannend, weil weitgehend unerklärt: Das gälte dann aber nicht als „bekämpfte Armut“. Es würde als Ausdruck wachsender sozialer Kälte gezählt. Eine verantwortungslose Propaganda würde es an alle Wände sprühen. Man würde sein politisches oder verbandsegoistisches Süppchen zu kochen.
Cremer differenziert. Für ihn sind zwölf Millionen Deutsche, die vom Armutsrisiko bedroht sind, kein Verhängnis, vor dem man nur resignieren kann. Er analysiert eine vielgestaltige Landschaft sozialer Problemfelder von relativ harmlos und vorübergehend über schwierig bis beinahe hoffnungslos. Wo andere auf Zahlen starren, sieht er Individuen. Wo andere nur Zustände sehen, findet er Potenziale. Wo andere die bestehenden Sicherungssysteme diskreditieren oder für sakrosankt erklären, macht er lebensnahe Vorschläge, sie weiterzuentwickeln.
Er betrachtet Sozialpolitik nicht wie Politdogmatiker. Für ihn hat Sozialpolitik menschliche Eigenschaften und Motive zu berücksichtigen. Das kaufmännisch abwägende Denken macht vor Transferleistungsempfängern nämlich nicht halt.
Wer zahlt, will wenigstens Fairness und Gerechtigkeit erkennen.
Gewiss: Die Armen und Verlierer finden mediale Aufmerksamkeit und Zuspruch, meist als Zahl, platonisch sozusagen. Die Betroffenen haben wenig davon. Wir sind Meister der rituellen Empörung und genießen die „Lust am Untergang“ (Friedrich Sieburg). In einem der reichsten Länder der Erde, anerkannt wegen seiner wirtschaftlichen Prosperität, deutlich gesunkener Arbeitslosigkeit und seines ausgebauten Systems sozialer Sicherung verbreiten sich „gefühlt“ schlimme Verhältnisse. Migranten sehen hier das Land ihrer Träume. Sie irritieren unsere Selbstdiagnose.
Georg Cremer referiert die Realien wie sie wirklich sind – nicht wie wir sie uns konstruieren und sie uns konstruiert werden. Seine Vorschläge sind nicht „Blaupausen für Luftschlösser“. Es ist Wanderkarte begehbarer Wege. Wer das als Klein-Klein abtut, ignoriert, dass auch der weiteste Weg aus einzelnen Schritten besteht. Es ist bequem, an der Menschheit zu verzweifeln und darüber die Menschen zu vergessen. Sein Buch interveniert zwischen den Fronten. Das macht es so unglaublich wertvoll. In einem sich polarisierenden Land schwindet der Raum zwischen den Welten.
„Versöhnen statt Spalten“ ist nicht in Mode. Gerade Medien finden den Konflikt interessanter. Da haben sie was zu berichten. Gladiatoren für Talkshows lassen sich leicht auftreiben.
Differenzierende Argumente ziehen nicht. Sozialreparaturen entspannen nicht „Wer den Untergang vor Augen hat, ist nicht mit der Aufstockung des Mindestlohns oder der Aussicht auf eine höhere Rente zu besänftigen.“ (Der Spiegel).
Aber das Buch geht weit über sich selbst hinaus. Der Leser, der gelegentlich sinnend aus dem Fenster blickt, erkennt ein anderes „Armutsrisiko“ im Lande: Man verzichtet auf Wissen und Tatsachen. Man glaubt an Halbwahrheiten, Gerüchte und Lügen. Man traut „denen da oben“ nicht mehr, also zählt nur noch das Bauchgefühl. –Das ist die Stunde der Apokalyptiker und Demagogen. Die dürfen dann lügen, dass sich die Balken biegen.
Uns Deutschen mangelt es nie an Endzeitpropheten. Sie verwenden alle Energie darauf, ein finales Unglück anzukündigen, anstatt es – mit viel geringerem Aufwand – abzuwenden. Ihre Uhr steht immer auf 5 vor 12. Neuerdings steht jedem Prediger ein Weltsender zur Verfügung. Das Internet ist der enthemmte Verstärker. Aus einem mulmigen Gefühl wird lähmende Angst. Die Probleme stehen im Regen. Sie werden verwaltet anstatt gelöst.
„Was tun?“ fragte Erich Kästner und gab die Antwort: „Was tun!“
Wer sortiert, sorgfältig und nüchtern analysiert und gewichtet, wie Cremer, erkennt die Machbarkeit der Verhältnisse. Das ist zwar immer noch Bohren dicker Bretter, aber es ist nicht mehr illusionär und hoffnungslos. Es verändert die Perspektive. Lähmende Angst verwandelt sich in konstruktive Vernunft. Aus Objekten der Sozialfürsorge werden Subjekte mit wählbaren Alternativen.
Anders als der alte Pfarrer, der beim nächtlichen Spaziergang in ein Sumpfloch gerät. „Rette mich!“ ruft er zum Himmel. „Ich habe dir mein Leben lang gedient. Nun tu auch mal was für mich!“ – Nacheinander kommen ein Passant, die Polizei, zuletzt die Feuerwehr und bieten Hilfe an. „Haut ab!“ ruft er, „Gott wird ein Wunder tun und mich retten.“ – Bald steht ihm das Problem am Hals. „Was ist?“ ruft er, „du hast nicht mehr viel Zeit!“ Da ertönt eine Stimme von oben: „Tut mir leid. Ich habe es dreimal versucht, aber leider vergeblich. – Dann also bis gleich.“